Corona-Diktatur?
Jens-Christian WagnerGrundrechte, antidemokratisches Denken und extrem Rechte in Pandemie-Zeiten. Ein Beitrag von Jens-Christian Wagner („Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten“.)
Es ist erstaunlich und Anlass zur Sorge, wie schnell und weitgehend ohne öffentliche Debatten Mitte März 2020 fundamentale Grundrechte wie die Freizügigkeit und Versammlungsfreiheit innerhalb weniger Tage per Gesetz bzw. Verordnung suspendiert wurden. Während zumindest Kanzlerin Merkel besonnen blieb und in ihrer Fernsehansprache am 18. März zum einen drastisch auf die Infektionsgefahren durch das Corona-Virus hinwies, zum anderen aber betonte, dass die Grundrechtseinschränkungen nur vorübergehend und die ultima ratio sein dürften, überschlugen sich nicht nur manche Ministerpräsidenten, sondern auch viele Journalist*innen in Forderungen nach möglichst harten und umfassenden Maßnahmen, etwa einer vollständigen Ausgangssperre. Hier waren ohne Zweifel erschreckende autoritäre Phantasien im Spiel.
Das betrifft zweifellos insbesondere auch Politiker*innen der AfD, die – sofern sie nicht paralysiert oder von internen Machtkämpfen abgelenkt waren – der Bundes- und den Landesregierungen anfangs vorwarfen, nicht entschlossen genug gegen die Gefahr durch das Corona-Virus vorzugehen. Kritik an den Grundrechtseinschränkungen kam in dieser Zeit, wenn überhaupt, aus dem linken und liberalen politischen Spektrum. Das änderte sich ab Ende April – zu einem Zeitpunkt, als die strengsten Einschränkungen schon wieder gelockert oder sogar aufgehoben worden waren. Es war die Zeit, in der die Katastrophe Dank der Schutzmaßnahmen zumindest nicht in dem befürchteten Ausmaß eingetreten war und die Infektionszahlen deutlich sanken – Anlass für manche, die Bedrohung durch das Corona-Virus kleinzureden oder sie zu leugnen (das Wort Präventionsparadox gehört seither zum allgemeinen Sprachgebrauch).
Nun hatten auch die von sinkenden Umfragewerten gebeutelte AfD und andere extrem Rechte ihr Thema gefunden. Zusammen mit Anhängern von Verschwörungslegenden, die hinter dem Corona-Virus den perfiden Plan einer Weltregierung unter Bill Gates oder George Soros sehen, eine weltweite Gesundheitsdiktatur zu errichten, schwangen sie sich als Retter demokratischer Grundrechte auf und verteilten auf Marktplätzen das Grundgesetz – ein deutlicher Fall von Politikparadox: Die Verächter der Demokratie, die sich einen völkisch-rassistischen, autoritären Staat herbeisehnen, geben vor, etwas zu schützen, was sie zutiefst verabscheuen. Und sie bilden eine „Querfront“ mit Verschwörungsparanoiker*innen, Impfgegner*innen, Esoterik-Verwirrten, rechtsgerichteten katholischen Klerikern und auch einigen wenigen Linken.
Sie alle verbindet die Neigung, sich angesichts komplizierter und bedrohlicher Lagen in simple Verschwörungslegenden zu flüchten, so abstrus diese auch sein mögen. Das Ganze kommt aber nicht plötzlich, sondern knüpft nahtlos an alte Ideologien an. „Der Jude“ braucht gar nicht explizit genannt zu werden: Der Mythos, Bill Gates strebe mittels Zwangsimpfungen und Chip-Implantaten die Weltherrschaft an, trägt alle Merkmale „klassischer“ antisemitischer Propaganda, ohne dass der oder das Böse selbst Jude sein muss. Das gilt auch für diverse weitere Verschwörungslegenden, die derzeit kursieren. Es ist deshalb kein Wunder, dass extrem Rechte bei den sogenannten Corona-Demos ganz vorne dabei sind – und es ist umso abstoßender, wenn diese Leute sich mit Davidsternen oder Bildern von Anne Frank kennzeichnen und suggerieren, sie seien die Verfolgten von heute.
Es handelt sich also um alten Wein in neuen Schläuchen. Das macht es aber nicht weniger gefährlich – im Gegenteil, und zwar aus fünf Gründen:
Erstens zeigt uns die Geschichte, wie schnell kollektive Wahnvorstellungen in Ausgrenzung, Verfolgung und Massenmord führen können. In den 1920er Jahren war das völkisch-nationalistische Milieu in Deutschland überzeugt davon, dass „die Juden“ Deutschland in die Kriegsniederlage geführt hatten (Dolchstoßlegende) und die Weltherrschaft anstrebten. Die erfundenen „Protokolle der Weisen von Zion“ erreichten ein Millionenpublikum. Das Ende ist bekannt: der Mord an Millionen Juden, Sinti und Roma sowie Kranken und ein im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht verwüstetes Europa.
Zweitens erreichen solche Legenden ihr Publikum heute wegen der Digitalisierung der Kommunikation deutlich schneller und breiter als noch vor zehn Jahren. Je kruder eine Legende, desto „viraler“ verbreitet sie sich in den sozialen Netzwerken und führt dazu, dass Nutzer*innen innerhalb kürzester Zeit in ihren Filterblasen den Kontakt zur Realität verlieren und sich radikalisieren. Das wissen sich die Strategen in neurechten Onlineportalen, in rechtsextremen Zirkeln und in der AfD zunutze zu machen.
Drittens trägt es zur scheinbaren Legitimität und Plausibilität von Verschwörungsideologien bei, wenn sie aus den Parlamenten heraus verkündet werden, wenn auch bisweilen nur verklausuliert oder in abgeschwächter Form. Die AfD trägt ganz maßgeblich zur Popularität der Corona-„Kritiker*innen“ und ihrer Verschwörungslegenden bei – und zugleich versucht sie, die Proteste für sich zu vereinnahmen.
Viertens geben die Proteste und Verschwörungslegenden der Wissenschaftsfeindlichkeit Auftrieb, die schon immer in modernisierungsfeindlichen rechten und fundamentalistischen Ideologien tief verankert war. Der Virologe Christian Drosten ist zur Lieblingszielscheibe der Corona-Protestler geworden – so wie Historiker*innen von Holocaustleugner*innen angegriffen werden. Die breiten Angriffe gegen Virolog*innen, die angeblich eine Gesundheitsdiktatur in Deutschland errichtet haben und die teilweise – man denke an den Hannoveraner Finanzwissenschaftler Stefan Homburg – von Personen vorgetragen werden, die selbst Wissenschaftler sind, tragen dazu bei, dass die Wissenschaft insgesamt in den Augen vieler Zeitgenoss*innen delegitimiert wird. Das wiederum befördert die Ausbreitung und Radikalisierung von Verschwörungslegenden und wird auch den Geschichtsrevisionismus stärken.
Fünftens gefährdet das Corona-Virus die Demokratie tatsächlich. Kein Zweifel: Medizinisch gebotene Beschränkungen waren und sind nötig, und sie haben zehntausende Leben gerettet. Dass der Infektionsschutz aber genutzt werden kann, um den Umbau des Staates in die antiliberale Autokratie zu beschleunigen, hat Viktor Orban gezeigt, als er Ende März ein Ermächtigungsgesetz durch das ungarische Parlament peitschen ließ, das sich damit selbst entmachtete. In Deutschland wiederum wurden die Corona-Verordnungen, die wichtige Grundrechte einschränkten, in den meisten Bundesländern ohne oder erst mit nachträglicher parlamentarischer Mitwirkung erlassen.
Sicherlich: Wir stehen in Deutschland nicht vor einem neuen 1933. Dennoch kann der Blick auf die Geschichte demokratische Wachsamkeit stärken: 1933 schafften die Nationalsozialisten innerhalb weniger Wochen mit zwei Regelungen die parlamentarische Demokratie ab und ersetzten sie durch eine brutale Diktatur: der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 – beide mit dem Vorwand, einen angeblich geplanten kommunistischen Umsturz zu verhindern. Mit ihren Notverordnungen nutzten die Nationalsozialisten ein Instrument, das von den Präsidialkabinetten noch zu Zeiten der Weimarer Republik eingeübt worden war. Auf den ersten Blick war also die Reichstagsbrandverordnung für manche Zeitgenossen gar nicht so einschneidend. Dass sie sich irrten, zeigte sich schon wenige Tage später, als Tausende mit Verweis auf diese Verordnung in „Schutzhaft“ genommen und in KZs verschleppt wurden.
Der differenzierte und sorgsam nach allen Regeln der Quellenkritik urteilende Blick auf die Geschichte offenbart Parallelen, aber auch Unterschiede zwischen den frühen 1930er Jahren und der Gegenwart. Er kann helfen, aktuelle Entwicklungen besser zu verstehen und einzuordnen. Und er mahnt uns, die weitere Entwicklung aufmerksam und geschichtsbewusst zu beobachten und auch selbst zu gestalten – und Einschränkungen der Grundrechte aus Gründen des Infektionsschutzes auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen. Noch sind die globalen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie noch gar nicht voll durchgeschlagen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich das merkwürdige Gebräu, das derzeit unter dem Label „Corona-Kritiker“ unterwegs ist, dann weiter radikalisiert und Anhänger*innen auch unter denen findet, die ökonomisch Opfer der Pandemie geworden sind. Dagegen helfen Wachsamkeit, politische Bildung und historisches Bewusstsein.•
(Der Historiker Jens-Christian Wagner ist Geschäftsführer der „Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten“.)