Faschismustheorien – Überblick und Einführung
Mathias WörschingEin Abdruck aus dem Buch „Faschismustheorien – Überblick und Einführung“ der Reihe theorie.org.
In diesem Buch werden überwiegend generische, das heißt allgemeine Faschismustheorien vorgestellt. Derartige Theorien gibt es seit etwa 100 Jahren, also fast ebenso lange wie den Faschismus selbst. Ihr Zweck ist die wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung des Faschismus als Form politischer Ideologie und Bewegung, politischer Organisation und Praxis sowie politischer Herrschaft in der weltweiten kapitalistischen Moderne. Faschismus in diesem Sinn ist ein internationales Phänomen. Er kann in jeder Gesellschaft auftreten, die von der kapitalistischen Modernisierung erfasst und geprägt wurde. Seine Vor- und Frühformen, die Prä- oder Protofaschismen, werden oft in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verortet. Dass der Faschismus noch immer gefährlich aktuell ist, lässt eine vielerorts auf der Welt erstarkende extreme Rechte annehmen. Trotz der ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Wurzeln und der fortdauernden globalen Aktualität des Faschismus beziehen sich die meisten Theorien über ihn nur auf die europäische Geschichte vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieser Zeitraum von 1918 bis 1945 gilt als klassische Epoche des Faschismus.
Die hier vorgestellten Faschismustheorien sind zwischen 1920 und 2010 entstanden. Mehrheitlich handelt es sich um Theorien, die besondere Bedeutung für die Gegner*innen und Opfer des Faschismus hatten oder haben, vor allem für die politische Linke. Das Buch soll in die Theorien einführen und gleichzeitig dazu anregen, die spannenden Originaltexte selbst zu lesen. Viele dieser Schriften sind antiquarisch günstig zu erwerben; manche stehen auch im Internet.
Nun sollten die meisten Theorien den Faschismus nicht nur beschreiben und erklären, sondern auch Hinweise zu seiner praktischen Bekämpfung und Verhinderung geben. Das vorliegende Buch verfolgt ebenfalls dieses Ziel. Doch Faschismustheorien können keine direkte Anleitung für antifaschistische Praxis geben. Vielmehr bieten sie Begriffe und Modelle, mit denen Erscheinungen aus dem Feld der extremen Rechten untersucht, verglichen und eingeordnet werden können. Außerdem arbeiten die Theorien diejenigen Verhältnisse und Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft heraus, die Faschismus entstehen und emporkommen lassen oder ihn zumindest begünstigen. Umgekehrt weisen Faschismustheorien auch auf gesellschaftliche Kräfte hin, die gegen Faschismus wirken oder gegen ihn mobilisiert werden können.
Von derlei theoretischen Erkenntnissen ist es noch ein langer Weg zu einer wirksamen antifaschistischen Praxis. Faschismustheorien können bestenfalls zu einer Grundlage und zu einem Orientierungsrahmen für die Entwicklung antifaschistischer Strategien beitragen. Das vorliegende Buch soll helfen, die historisch entstandenen und an den historischen Faschismen gebildeten Theorien für die heutige Zeit verfügbar zu machen. Ihre systematische Anwendung auf aktuelle Erscheinungen und eine ausführliche Erörterung der sich daraus ergebenden politisch-strategischen Fragen kann diese überblicksartige Einführung nicht leisten. Dennoch werden auf den folgenden Seiten auch zahlreiche aktuelle Probleme angesprochen.
Im Mittelpunkt stehen die Erkenntnisse oder Teilerkenntnisse der einzelnen Theorien, ihre Wahrheitsmomente gewissermaßen. Es geht nicht in erster Linie um kritische Bewertung. Gewiss werden wesentliche Kritik- und Streitpunkte erwähnt, aber dieses Buch soll und kann nicht die jahrzehntelangen, teils erbitterten Kontroversen der Faschismustheorie abbilden. Buchstäblich jede wichtige Frage auf diesem Feld ist immer umstritten geblieben. Es gibt nicht einmal eine allgemein anerkannte Faschismusdefinition.
Ein Grund für diese Unklarheit und Umstrittenheit könnte darin liegen, dass alle Faschismustheorien überschattet sind von einer politischen Frage, die der US-amerikanische Historiker Henry Ashby Turner (1932–2008) einmal so formulierte: „Entspricht die weit verbreitete Ansicht, daß der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist, den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen. Ist diese Meinung jedoch falsch, dann ist es auch die Voraussetzung, auf der die Einstellung vieler Menschen [...] zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruht.“1
Doch für die Ablehnung des Kapitalismus lassen sich unschwer auch andere Gründe finden. Dazu braucht es nicht erst den Faschismus.
Dass der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist – dieser ganz allgemeinen Aussage würden viele Theoretiker* innen zustimmen, darunter auch bürgerliche und ausdrücklich antikommunistische. Aber keine der in diesem Buche behandelten Theorien behauptet, dass moderne kapitalistische Gesellschaften zwangsläufig, unter allen Umständen, eine faschistische Entwicklung nehmen müssen. Vielmehr hängt es von vielen gesellschaftlichen Faktoren ab, ob ein Faschismus emporkommen oder sogar die Macht übernehmen kann. Entscheidend ist letztlich, ob demokratische und emanzipatorische Kräfte es schaffen, eine solche Entwicklung zu verhindern. So wenig also, wie es unbedingt den Antifaschismus braucht, um eine kapitalismuskritische Haltung zu begründen, muss Antifaschismus immer die Forderung einschließen, den Kapitalismus zu überwinden.
Thematische Abgrenzung der Faschismustheorien, Lücken des Buchs
Unberücksichtigt bleiben faschistische Stimmen zu Begriff und Theorie des Faschismus, weil einige Stichproben keinerlei bereichernden Beitrag aus dieser Richtung erwarten ließen. Ebenso nicht behandelt werden rechte Kampfbegriffe wie „Linksfaschismus“, aber auch andere polemische Begriffsbildungen. Gerade weil das Wort „Faschismus“ im Menschheitsgedächtnis für die schlimmsten Formen von Terror und Unterdrückung steht, ist es als Kampfbegriff so beliebt und verbreitet. Diese Art von Polemik hat mit Faschismustheorie kaum etwas zu tun.
Vielmehr begreifen viele Theorien den Faschismus als eine Zusammensetzung und Zuspitzung menschenfeindlicher Ideologien und Strukturen, die im modernen Kapitalismus existieren. Elemente und Ursprünge2 des Faschismus in diesem Sinne wären zum Beispiel Nationalismus, Militarismus, Imperialismus, Kolonialismus, Autoritarismus, Sexismus, Antifeminismus, Homo- und Transsexuellenfeindlichkeit, Sozialdarwinismus, Rassismus und Antisemitismus. Die Faschismustheorie setzt gleichsam eine Ebene darüber an, hängt mit der kritischen Forschung und Theoriebildung zu diesen Elementen und Ursprüngen aber stets zusammen. Daher kommen etwa Nationalismus- und Antisemitismusforschung auf den folgenden Seiten immer wieder ins Spiel, ohne jedoch der eigentliche Gegenstand dieses Buchs zu sein.
Die Abgrenzung der Faschismustheorie von anderen Forschungs- und Wissensgebieten fällt oft schwer, denn die modernen Gesellschafts- und Geisteswissenschaften kreisen insgesamt zu einem erheblichen Teil um die großen Verbrechen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts – und damit auch um den Faschismus. So gesehen ist die mit Faschismustheorie zusammenhängende Wissens- und Textproduktion gigantisch. Dieses Buch beschränkt sich weitgehend auf solche Theorien, die ausdrücklich den generischen (allgemeinen) Faschismusbegriff als Ankerpunkt haben. Damit fallen Forschung und Theoriebildung zum Totalitarismus3 ebenso heraus wie die Genozid- und Täter*innenforschung, die bundesdeutsche Rechtsextremismusforschung oder Zygmunt Baumans Arbeiten zur Moderne. Selbstverständlich aber haben die Themen und Fragestellungen dieser Ansätze mit den Faschismustheorien zu tun und tauchen in diesen auch regelmäßig auf.
Neben den generischen Faschismustheorien gibt es eine Fülle von Arbeiten, die speziell den deutschen Nationalsozialismus (NS) oder andere einzelne politische Systeme behandeln. Hier besteht die Schwierigkeit, dass sich viele Analysen ausschließlich oder überwiegend auf den NS beziehen, aber dennoch als generische Faschismustheorie gemeint sind oder aufgefasst werden können. Viele Theoretiker*innen halten den NS stillschweigend oder eingestandenermaßen für das am weitesten entwickelte Exemplar der Gattung der Faschismen, dessen Studium auch Rückschlüsse auf minder entwickelte Formen ermöglicht.4 Daher bleibt die Grenze zwischen Forschung und Theoriebildung zum NS und generischer Faschismustheorie auf den folgenden Seiten vielfach unscharf.
Idealerweise sollte die Forschung zu Einzelfällen ihre Erkenntnisse für generische Theorien bereitstellen; diese wiederum sollten im Gegenzug die Forschung sinnvoll strukturieren, zu neuen Blickwinkeln anregen und ihre Ergebnisse systematisieren. Hingegen befassen sich generische Faschismustheorien nicht damit, alle möglicherweise faschistischen Bewegungen und Regime der Erde seit dem 19. Jahrhundert ausfindig zu machen, zu katalogisieren und ihre Geschichte zu schreiben. Einige Überblicksdarstellungen dieser Art sind aber in der Literaturliste aufgeführt.
Leider konnten mehrere Beiträge nicht berücksichtigt werden. Erwähnt seien Walter Benjamins Theorie über den Faschismus als Ästhetisierung des politischen Lebens sowie die Arbeiten von Stanley Payne und vieler anderer bedeutender Historiker*innen. Die faschistische Ästhetik und ihr Fortleben in der Populärkultur werden nicht behandelt, ebenso wenig ein möglicher Anarchofaschismus und Ökofaschismus. Umberto Ecos „Ur-Faschismus“ konnte entfallen, da er, wie der Begriff selbst schon andeutet, lediglich einige allgemeine Ursprünge und Elemente rechter Ideologie und Praxis beschreibt.