Zeev Sternhells ideengeschichtliche Einführung in den Themenkomplex Faschismus
Fabian KunowDieser Artikel ist der zweite Teil der Reihe »Faschismustheorien. Erklärungen des NS«. Nachdem in der letzten Ausgabe des AIB die aus dem Marxismus stammende Deutung der realen Herrschaft des Faschismus als die Diktatur der »verselbstständigten Exekutivgewalt« vorgestellt wurde, soll nun hier dem ideologietheoretischen Zugang des Politologen Sternhell Platz gegeben werden.
Zeev Sternhell ist einer der – wenn nicht sogar der – avanciertesten Wissenschaftler, der sich mit faschistischer Ideologie und ihrem ideengeschichtlichen Ursprung beschäftigt. Der im Jahre 1935 in Polen geborene Sternhell emigrierte 1951 nach Israel. Dort wurde der Politikwissenschaftler und Historiker Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sternhell veröffentlichte eine Reihe von Arbeiten zu den verschiedenen faschistischen Bewegungen und zur Ideologie der extremen Rechten. Hierbei prägte er das Verständnis der Fachöffentlichkeit für den sogenannten »Präfaschismus«, als das ideengeschichtliche Amalgam, aus dem die faschistische Ideologie entstand, sowie das darauf fußende Selbstbild der Faschisten und Rechtsradikalen. Seine Arbeiten blieben im deutschen Sprachraum lange Zeit unbeachtet. Der Aufsatz »Fascist Ideology«, der 1976 in einem Sammelband des renommierten Faschismusforschers Walter Laqueur erschien, wurde erst 2002, also 26 Jahre nach der Erstveröffentlichung vom kleinen Berliner »Verbrecher Verlag« ins Deutsche übersetzt. Dabei hat der Aufsatz »Faschistische Ideologie« – so der deutsche Titel – einen hohen Aufklärungswert für politisch Interessierte.
Sein umfangreiches Werk »Naissance de l’idéologie fasciste«, welches Sternhell zusammen mit Mario Sznajder und Maia Asheri 1989 herausgab, wurde, zehn Jahre nach seinem Erscheinen, vom »Hamburger Institut für Sozialforschung« unter dem Titel »Die Entstehung der faschistischen Ideologie« übersetzt und in der »Hamburger Edition« verlegt.
Die jahrelange Nichtbeachtung der Arbeiten Sternhells in Deutschland hat ihre Ursache mit Sicherheit darin, dass er den deutschen Nationalsozialismus bewusst aus der Gruppe der Faschismen und faschistischen Bewegungen ausklammert und nicht bearbeitet. Für Sternhell kann der Nazismus »nicht als bloße Variante des Faschismus« behandelt werden. Seine Betonung des biologischen Determinismus schließt alle Bemühungen aus, ihn als solchen zu betrachten«.1 Der Rassismus sei so wichtig und in einer solchen Radikalität vorgetragen worden, dass er das prägende Element für den NS sei, hinter dem die ideologischen Gemeinsamkeiten mit dem Faschismus verblassen würden.
Eine perfekte Illustration des Unterschiedes zwischen dem Nationalsozialismus und dem Faschismus ist für Sternhell das differierende Staatsverständnis. Verherrlichte der italienische Faschismus den Staat als eine »besondere Schöpfung des Geistes«, dem sich alles unterzuordnen habe, so sah der NS den Staat nur als Diener des Volkes – verstanden als natürliche Gemeinschaft und nicht als Summe aller Staatsbürger – sowie der Rasse.2
Sternhells Zugang zum Faschismus
Zeev Sternhell nähert sich der Materie Faschismus, anders als viele Sozial- und Geschichtswissenschaftler, nicht sozialstrukturell, sozialpsychologisch oder epochal, sondern ideengeschichtlich. Das heißt, für ihn ist der Faschismus eine in sich geschlossene Ideologie. »Ein konsequentes, logisches und gut strukturiertes Ganzes«3 , welches als solches zu betrachten sei. Der Faschismus besitzt für Sternhell ebenso eine ideologische Eigenständigkeit wie seine Antipoden Liberalismus und Marxismus.
Die faschistische Theorie war nach Sternhell nicht weniger homogen als die des Liberalismus oder des Sozialismus, die vorhandenen Unstimmigkeiten und Widersprüche im Ideologiegebäude des Faschismus waren nicht weniger gravierend und zahlreich als bei den Konkurrenten, die mit ihm um die Gunst der Massen buhlten, faschistische Politiker nicht mehr oder weniger opportunistisch als bürgerliche oder sozialistische Politiker. Dass der Faschismus anders als der Marxismus nicht aus einer philosophischen Gussform – den Werken Marx/ Engels, mit denen sich jeder Marxist zwangsläufig beschäftigen muss – kam, sondern sich bei verschiedenen geistigen Strömungen bediente, mache ihn deswegen nicht inkohärenter.4
Sternhell sieht die Wurzeln des Faschismus – er nennt diese Wurzeln den »Präfaschismus« – in den Jahren 1880–1890 im französischen Intellektuellenmilieu gelegt. Doch erst der 1. Weltkrieg verhalf dieser politischen Strömung zum Durchbruch.5
Der Faschismus ist für Sternhell die politische Idee des (beginnenden) zwanzigsten Jahrhunderts. Alle anderen Europa prägenden Strömungen waren älter und rekurrierten auf die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution. Der Faschismus trat als erklärter Gegner aller politischen Strömungen des vorangegangenen Jahrhunderts auf. Daher plädiert Sternhell dafür, Faschismus nicht einfach als reaktionär oder gar konterrevolutionär zu bezeichnen, stattdessen müsse der revolutionäre, nonkonformistische und avantgardistische Charakter des Faschismus ernst genommen werden.
Ideengeschichtlicher Ursprung
Gerade wenn man den Faschismus als eine in sich kohärente Ideologie begreift und nicht zum Beispiel wie der Marxismus primär als Herrschaftsform einer Interessengruppe, hat er wie jede Idee einen oder mehrere ideengeschichtliche Ursprünge.
Dieser Ursprung ist im Faschismus die Synthese von Sozialismus und Nationalismus. Genauer bestimmt, »das Produkt der Verschmelzung des organischen Nationalismus mit der antimaterialistischen Marxrevision«.6 Diese wird zu einer eigenständigen politischen Idee und Kultur, die kollektivistisch, antiindividualistisch, antirationalistisch und antimaterialistisch ist, sowie gegen das Erbe der französischen Revolution kämpft.
Gerade die »antimaterialistische Marxrevision« macht für Sternhell einen wichtigen Teil des »Präfaschismus« aus. Ohne sie ist der Werdegang vieler Faschisten aus der Linken in die damals neue Bewegung nicht erklärbar. Dieser Übergang damals bedeutender Intellektueller von der radikalen Linken in die faschistische Bewegung, war kein Betriebsunfall einiger politisch Verwirrter, sondern erfolgte aus einer philosophischen Ablehnung des Marxismus durch einen damals nicht unbedeutenden Teil der nicht- bzw. später antimarxistischen Linken in Frankreich und Italien. Das bekannteste Beispiel eines solchen Werdeganges vom »revolutionären Revisionismus« in den Faschismus ist Benito Mussolini.
Gleiches gilt für den Führer der englischen faschistischen Partei Oswald Mosley. Er wandelte sich in Folge seiner Marxrevision sowohl auf ideologischer Ebene, als auch im Bereich der Strategie vom jungen Labour-Abgeordneten zum Führer der »British Union of Fascists«.
Diese antimaterialistische Revision des Marxismus spiegelte »die Krise des Marxismus« am Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts. Die geschichtsdeterministischen Prophezeiungen des orthodoxen Marxismus hatten sich im Zuge der Modernisierung des Industriekapitalismus als unzutreffend erwiesen. Zugleich verlor der marxistisch-reformistische Teil der Sozialdemokratie, der in die Sphären des Parlamentarismus drang, an revolutionärem Feuer, was diesem viele Sozialisten, die später Faschisten oder Sympathisanten des Faschismus wurden, ankreideten. Sie gründeten die Bewegung des »revolutionären Revisionismus«, der einerseits mit dem reformistischen Teil der sozialistischen Bewegung brach, andererseits eine Revision des Marxismus anstrebte. Aus der Vorstellung, Klassenkämpfe seien der Motor der Geschichte, wurde die Heroisierung von Kampf und Gewalt als geschichtlich bestimmendes Element.
Diese Vorstellung führte zur totalen Heroisierung des Krieges als reinigendes Gewitter durch die Faschisten. Die Revision der marxschen Kritik ging aber noch wesentlich weiter. Der von Sternhell als Wegbereiter der faschistischen Ideologie identifizierte Georges Sorel und dessen Anhänger, die Sorelianer, wandten sich gegen die marxsche Werttheorie. Noch viel entscheidender als die Ablehnung von Marx Ökonomiekritik war die Weigerung Sorels, obwohl der Linken entstammend, das Privateigentum anzutasten. Seine Anhänger vertraten die Auffassung, dass Fortschritt von der auf Eigentum basierenden Marktwirtschaft abhinge.7 Die Sorelianer sahen die revolutionäre Dynamik – die sie als selbsternannte Revolutionäre vergötterten – in der freien Marktwirtschaft gegeben.
Der »revolutionäre Revisionismus« bedurfte aber noch eines Zwischenschrittes, bis er zum Faschismus wurde. Dieser Zwischenschritt, den viele ehemalige Linke nach dem Bruch mit dem Marxismus gehen mussten, war der »Nationalsyndikalismus«, aus dem sich dann der Faschismus als Denk- und Organisationsform der von ihnen angestrebten zukünftigen Gesellschaft, herausschälte.
Dem Nationalsyndikalismus war schon trotz aller revolutionären und klassenkämpferischen Rhetorik die Bejahung eines über den Klassen stehenden starken, sorgenden Staates eingeschrieben. Die Revolution sollte auf dem Gebiet der Kultur und nicht der Ökonomie gegen die »Dekadenz« vollzogen werden.
In den Augen von Nationalsyndikalisten konnte der Sozialismus nur national, idealistisch und voluntaristisch sein. Das Ziel lautete nationaler Wohlstand. In diesem nationalen Sozialismus sollten die Gewerkschaften eine tragende Rolle spielen, da die Arbeiter die eigentliche Seele des Volkes ausmachen würden.
Im Nationalsyndikalismus wurde anders als im »revolutionären Syndikalismus« und damit große Schritte in Richtung Faschismus gehend, der Politik mehr Platz eingeräumt. So waren partielle Enteignungen zu Gunsten des Allgemeinwohls nicht verpönt. Vermeintlich zu hohe Profite, die als Parasitentum gegeißelt wurden, sollten enteignet und der Allgemeinheit über einen (staatlichen) Fonds zugänglich gemacht werden. Die besondere Sorge dieses politisch handlungsfähigeren Staates sollte den Veteranen und Kriegsversehrten zukommen, welche sich vor allem aus der Arbeiter- und Bauernschicht rekrutierten. Das Proletariat und die bäuerlichen Massen, Italien war bis auf einige industrielle Kerne agrarisch geprägt, sollten über Syndikate ins Boot der Nation geholt werden. Zudem sollte Eigentum auch zur Produktionssteigerung neuverteilt werden, als gesellschaftlich bestimmende Kategorie wurde Eigentum aber nicht in Frage gestellt. Diese sozialpolitischen Maßnahmen sollten zugleich Italien davor bewahren, eine bolschewistische Revolution nach russischem Vorbild zu erleben.8
Unter organischem Nationalismus versteht Sternhell den um die Jahrhundertwende aufkommenden »neuen Nationalismus«. Dieser neue Nationalismus war ein völkischer Nationalismus, der sich klar von dem Nationsverständnis der französischen Revolution, als die Gesamtheit der Individuen, abhob. Der neue völkische Nationalismus, welcher aus der extremen Rechten kam, konstruierte hingegen eine organische Einheit des Volkes. Zu dieser organischen Einheit des Volkes wurde auch das Proletariat gezählt.
Positiv besetzt war alles, was einte, sei es ein starker Staat, Individuen im selbstlosen Einsatz und voller Opferbereitschaft für die Gemeinschaft oder Gesellschaftsschichten, die für das Wohl der Nation verzichteten. Alles die Nation trennende sollte ausgemerzt werden, sei es der das Individuum verteidigende Liberalismus, die Plutokratie oder die Vorstellungen des Klassenkampfes der marxistischen Linken. So versuchten die (ehemals linken) Vordenker des italienischen Faschismus die Vorstellung eines die Nation durchziehenden Klassenkampfes zu tilgen, in dem sie den Klassenkampf zwischen den verschiedenen Nationen propagierten. Wobei sie Italien als proletarische Nation einordneten.9
Ein Gedankengang – die Einteilung der Welt in proletarische und andere Nationen – der sich nicht nur im italienischen Faschismus wieder findet, sondern auch in der Begründung vieler »nationaler und kolonialer Befreiungskämpfe«, ohne dass bei diesen Kämpfen notwendigerweise ein Faschismus als Staatsform entstehen musste.
Der Faschismus als philosophische Strömung setzte sich aber nicht nur aus (völkischem) Nationalismus und antimarxistischem Sozialismus zusammen, sondern bediente sich auch bei seinem ideologischen Feind, dem Liberalismus. Hier ist die Vorstellung des dem Menschen immanenten Macht- und Profitstrebens zu nennen. Hinzu kamen ein starker Elitarismus, Machtbewusstsein, Intellektuellenfeindschaft und Avantgardismus, sowie eine Begeisterung für neue Technologien, was aber mystischen und bewusst irrationalen Elementen nicht im Wege stand. Der Faschismus als Denkrichtung war jedoch nicht nur politisch-philosophischen Charakters. Die Begeisterung für »direkte Aktion«, Massenbewunderung, Heroismus, Todesverachtung, Irrationalismus und Mystik hatten eine stark ästhetische Komponente.
Futurismus als kulturelles Element
Die Kunstrichtung, die diese Elemente auf sich vereinigte, war der Futurismus. Er stellte einen nicht wegzudenkenden Teil im »Präfaschismus« dar. Das kulturelle Element ist für den Faschismus und den vorausgehenden Präfaschismus prägend, »denn zu Beginn des Jahrhunderts ging der kulturelle Aufstand dem politischen voraus«.10 Ohne den avantgardistischen Einfluss der Futuristen und seine äquivalenten Strömungen in England und Russland ist die Ideenwelt des Faschismus nicht zu denken.
Der Futurismus vereinigte verschiedene Künstler aller damaligen Kunstdisziplinen auf sich. Der italienische Futurismus wies nicht wenige philosophische Schnittpunkte mit dem Sorelianismus auf. Futuristen wie Marinetti, welcher das »Manifest der Futuristen« 1909 mit herausgab, einte mit den anderen Dissidenten, die versuchten die neue gesellschaftliche Realität Faschismus durchzusetzen, der absolute »Kult der Gewalt«.11 Dieser fast religiöse »Kult der Gewalt« hatte zu einer solchen Kriegsbegeisterung geführt, dass einige der bekanntesten futuristischen Künstler in Spezialeinheiten dienten und ihr Leben in den italienischen Schützengräben des 1. Weltkrieges opferten.
Neben dem »Kult der Gewalt« frönten die Futuristen dem für den Faschismus typischen übersteigerten Jugendkult, der mit der Vorstellung einherging, die Jugend würde mit einer Revolution, die als alt, ermattet, und dekadent denunzierte Ordnung hinwegfegen. Was für eine Gesellschaft nach der »Revolution« entstehen sollte, ließen die Futuristen vollkommen offen. Dieser unbestimmte Revolutionskult, der außer der Idee der Zerstörung kein Ziel kannte, stellt eine »Ästhetisierung der Politik« dar, wie Sternhell unter Rekurs auf Walter Benjamin feststellt.12 Obwohl der Futurismus einen gewichtigen Einfluss auf den Inhalt und das Design des Faschismus nahm, wandten sich einige Futuristen vom italienischen Faschismus ab, während andere Mussolini bis zum Ende folgten.
Zusammenfassung
Als »Präfaschismus« bezeichnet Sternhell demnach das Zusammenwirken von Künstlern der futuristischen Bewegung, radikalen Nationalisten, aus dem »revolutionären Revisionismus« hervorgegangenen Nationalsyndikalisten und Anhängern Sorels, die das politische, kulturelle und philosophische Denkgebäude Faschismus und die Kampfgemeinschaft der »Faschisten« zeugte.
Literatur:
· Sternhell, Zeev/ Sznajder, Mario/ Asheri, Maia (1999): Die Enstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini. Hamburger Edition, Hamburg
· Sternhell, Zeev (2002): Faschistische Ideologie. Eine Einführung. Verbrecher Verlag, Berlin
- 1Vgl.: Sternhell Faschistische Ideologie S. 101. Verbrecher Verlag. Berlin 2002
- 2Sternhell: Entstehung der faschistischen Ideologie. S. 23 Hamburg 1999
- 3Vgl: Sternhell 1999. S.23
- 4Vgl. Sternhell 2002 S. 24
- 5Sternhell 1999 S. 17
- 6Vgl. sternhell 1999 s. 28–40
- 7Vgl.: Sternhell: 1999 S. 232
- 8Vgl. Sternhelll 1999 S. 24–27
- 9Sternhell: 1999 S. 304
- 10Sternhell: 1999 S. 292
- 11Vgl: Sternhell: 1999 S. 294