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Niemand ist vergessen

der Kampagne berlin.niemandistvergessen.net (Gastbeitrag)
Einleitung

Ungezählte rechte und rassistische Morde sind seit der deutschen Wiedervereinigung zu beklagen, doch auch schon in den 1980er Jahren gab es viele Opfer. Angehörige und Freund*innen der Opfer beklagen vielfach, dass die „Ermittlungsbehörden“ oft mit dem Verschleiern der Motivation rechter/rassistischer Täter und der Produktion von „Einzeltätern“ auffielen. Indem sie sich bemühten, den organisierten Hintergrund vieler dieser Taten unsichtbar zu halten, schützen sie die Täter und verhindern so die vollständige Aufarbeitung und die effektive Bekämpfung weiterer Taten.

In Einzelfällen gibt es seit vielen Jahren Gedenkinitiativen. Einige führen regelmäßig Gedenkveranstaltungen durch, setzen sich für eine Umbenennung von Straßen und Plätzen nach Namen von Opfern ein und gestalten Gedenkorte. In Berlin sind dies z.B. das Gedenken an Silvio Meier und Dieter Eich. In anderen Fällen kam es nur kurzfristig nach den Morden selbst zu Demonstrationen und Kundgebungen oder die verharmlosenden Gerichtsprozesse gegen die Täter führten zu öffentlichen Protesten, wie nach den Morden an Ufuk Şahin (1989), Mahmud Azhar (1990), Mete Ekşi (1991) und Nguyễn Văn Tú (1992). Das Gedenken an von der Öffentlichkeit fast vergessene Fälle wurde in manchen Fällen auch später wieder aufgenommen. So kam es in den letzten Jahren zu Gedenkaktivitäten und Veranstaltungen für Mahmud Azhar, Nguyễn Văn Tú und Nguyễn Tấn Dũng in Marzahn, Ufuk Şahin, Beate Fischer und Kurt Schneider. Neu hinzu kam das Gedenken an Burak Bektaş und Luke Holland sowie Eugeniu Botnari. Die Internetpräsenz berlin.niemandistvergessen.net – die keine Vollständigkeit anstrebt und nur die Spitze des Eisbergs rechter und rassistischer Gewalt darstellen kann - gibt einen Überblick über die Namen der Ermordeten, die in der Arbeit von einzelnen Initiativen in Berlin präsent sind oder waren. Die Ansage „Niemand ist vergessen!“ ist der Titel einer langjährigen Gedenkkampagne im Berliner Nordosten, die wir hier vorstellen möchten.

10 Jahre Gedenkkampagne zum 20. Todestag von Dieter Eich

In der Nacht auf den 24. Mai 2000 ermordeten vier Neonazis den 60-jährigen Dieter Eich in Pankow-Buch, einer Plattenbausiedlung am Stadtrand von Berlin. Das Tatmotiv: Hass auf Erwerbslose. Erst im August 2000 wurde von Journalist*innen und Antifaschist*innen öffentlich gemacht, dass der Mord von Neonazis begangen wurde. Am 16. September 2000 demonstrierten erstmals 200 Menschen in Gedenken an Dieter Eich. Dazu aufgerufen hatte das „Antifaschistisches Aktionsbündnis III“ (AIII), welches sich wegen der anstehenden Fusion der Bezirke Pankow, Weißensee und Prenzlauer Berg gerade frisch gegründet hatte. Für Migrant*innen und Linke war Buch zu Beginn der 2000er Jahre ein feindseliges Pflaster. Vor diesem Hintergrund war die Gedenkdemonstration vor allem eine antifaschistische Demonstration. Die „Autonome Antifa Nordost“ (AANO), welche die Demonstration in den Jahren 2002 und 2003 organisierte, erhoffte sich damit die Etablierung einer Jugendantifademo. 2007 griff die „North East Antifa“ (NEA) das Gedenken mit Sprühaktionen erneut auf und organisierte 2008 wieder eine Gedenkdemonstration. Das Motto „Niemand ist vergessen!“ ist seitdem Wiedererkennungsmerkmal des Gedenkens und Name einer eigenständigen Kampagne.

Masse ist nicht alles – Vernetzung schon

Im Mai 2010 nahmen etwa 600 Menschen an der Demonstration anlässlich des 10. Todestages von Dieter Eich teil. Es war bis heute die größte antifaschistische Demonstration in Buch. Dafür, dass bereits seit Herbst des Vorjahres mobilisiert wurde, war diese Anzahl jedoch ernüchternd. Für uns leitete sich daraus der Anspruch ab, das Gedenken eher an die Menschen zu adressieren, denen das Thema am Herzen liegt. Wichtig ist, dass ein Gedenken stattfindet, dessen Form und Inhalt angemessen sind und nicht, wie viele Leute daran teilnehmen. Seit den letzten fünf Jahren bereiten wir das Gedenken gemeinsam mit Gruppen vor, die zu ähnlichen Morden in Berlin arbeiten, wie zum Beispiel zu den Morden an Burak Bektaş und Günter Schwannecke.­ Außerdem haben wir den Kontakt zu Gruppen wie der Berliner Obdachlosenhilfe, der Erwerbslosenini „BASTA!“ oder dem „AK Marginalisierte“ verstetigt. Durch diese Zusammenarbeit hat das Gedenken an inhaltlicher Schärfe und Lebendigkeit dazugewonnen. Rückblickend lässt sich festhalten, dass es uns gut gelungen ist, die sonst getrennt voneinander behandelten Themenfelder Neonazigewalt, Obdachlosigkeit und Sozialchauvinismus miteinander zu verknüpfen.

Über Jahre haben wir auf unseren Demonstrationsplakaten Fotos der Bucher Hochhaussiedlungen abgebildet. Seit 2015 haben wir uns davon losgesagt. Es ist eine falsch verstandene Personenkult-Kritik, wenn wir die Gesichter der Ermordeten nicht zeigen. Dieter Eich erlangt durch die Abbildung ein Stück seines Menschseins wieder, das ihm auch diejenigen genommen hatten, für die er nur der „Alki“ aus dem Viertel war. Als wegen der Covid 19-Versammlungseinschränkungen unklar war, ob unser Gedenken zum 20. Todestag stattfinden kann, riefen wir spontan zu einer Banner- und Graffiti-Kampagne auf. Dieter Eichs Name und Gesicht - und damit auch seine Geschichte – fanden somit in ganz Berlin, aber auch in Bochum, Kiel oder Bonn Verbreitung.

Ein Neonazimord, nichts anderes!

Bis Mitte der 2000er Jahre war die Sichtweise vorherrschend, Dieter Eich und seine Mörder hätte eine Trinkerfreundschaft verbunden. Politische Motivationen für den Mord wurden damit indirekt abgesprochen. Um diesem Narrativ endgültig den Riegel vorzuschieben, recherchierten wir in der Urteilsbegründung weitere Details zum Fall. Dadurch wurde deutlich, dass Dieter Eich mit seinen Mördern nicht befreundet gewesen war. Unser Kernanliegen war es aber immer auch, den Sozialchauvinismus der Mehrheitsgesellschaft anzuklagen, weil er Täter in ihrem Handeln legitimiert. In der Diskussion um die richtige Form des Gedenkens wird oft bekräftigt, dass die Opfer und nicht Täter im Mittelpunkt stehen müssen.

Doch um die Behauptung zu entkräften, dass Dieter Eichs Mörder lediglich unpolitische Jugendliche waren, war die antifaschistische Recherche über ihr Unterstützungsumfeld entscheidend. Darunter Arnulf Priem1 , eine Art "politischer Ziehvater" der Dieter Eich-Mörder und "Aufbauhelfer" des rechten Terrors in der BRD und Strafverteidiger Aribert Steubel2 , der in den 1990er Jahren mehrere militante Neonazis vor Gericht vertrat.

Im Jahr 2012 konfrontierten wir beide Akteure in ihren Wohngegenden mit Demonstrationen.3 Da sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen in diesem Jahr zum 20. Mal jährte, arbeiteten wir Priems Rolle bei der mehrmonatigen Vorbereitung des Pogrom heraus. Die Fernsehsender WDR4 und RBB5 griffen diese bis dato kaum bekannte Information in ihren Beiträgen auf. Auch die Mörder von Dieter Eich wollten wir aus der Anonymität holen. Die Gedenkdemonstration im Jahr 2012 lief an den Wohnhäusern zweier Täter vorbei. Ein Haupttäter war inzwischen aus Buch verzogen, nach seiner Haftentlassung hatte er weiterhin Kontakt zu Priem gepflegt.

Kampf um Anerkennung

Nach einer Untersuchung weiterer Verdachtsfälle wurde der Mord an Dieter Eich nach 18 Jahren offiziell als rechtsmotiviert anerkannt. Doch lange bevor die Bundesregierung den Mord in ihre Statistiken übernahm, wurde er in unabhängigen Chroniken bereits geführt, eine öffentliche Präsenz des Falls war durch antifaschistische Gedenkarbeit bereits gegeben. Dies ist einer der Gründe, warum sich an den Namen Dieter Eich - als einer von vielen Menschen, die in Berlin seit dem Mauerfall durch Neonazis und Rassisten getötet wurden - viele Menschen erinnern können. Der rechte Mord hat mittlerweile seinen Platz im lokalen Bucher Geschichtsbewusstsein gefunden und wird von Anwohner*innen als Tat von Neonazis bewertet.

Das werten wir als Verdienst unserer langjährigen Arbeit. Nachdem sich ab 2013 in Buch eine aktive Neonazis-Szene um den reaktivierten Kreisverband der NPD-Pankow etablierte, hat sich unsere Initiative notgedrungen auch als Akteurin in der lokalen Anti-Naziarbeit betätigt. Gerade die Proteste gegen Geflüchtete von 2014 bis 2016 waren arbeitsintensiv und hinderten uns daran, unser längerfristiges Vorhaben, die Installation eines Gedenksteins für Dieter Eich, umzusetzen. Auf der anderen Seite bildete sich dadurch eine antirassistische Zivilgesellschaft im Stadtteil heraus, mit der wir in regelmäßigem Austausch stehen und die mit unserem Anliegen sympathisiert. Gemeinsam werden wir uns dafür einsetzen, dass in Buch ein würdiges Gedenkzeichen für Dieter Eich entsteht.