Die US-Waffenlobby: Rechte Mobilisierung mit „Gun rights“
Max Böhnel, New YorkWaffen gingen in den USA zu Beginn der Pandemie so schnell weg wie Klopapier. Nach der US-Bundespolizei FBI, die über die Anzahl beantragter Waffenscheine verfügt, überstieg die Zahl der Käufer allein im März 2020 vier Millionen, so viele wie nie zuvor in einem Monat. Doch der Trend setzte sich fort. In einer einzigen Aprilwoche 2021 wurden 1,2 Millionen solcher „background checks“, die als Grundlage für die Datenerhebungen dienen, durchgeführt. So ziemlich alle Anträge dürften erfahrungsgemäß genehmigt worden sein.
Erhebungen von US-Universitäten zeigen, dass im vergangenen Jahr 6,5 Prozent der erwachsenen US-Bevölkerung - das sind 17 Millionen Menschen - legal eine Waffe erstanden. In vier von zehn Haushalten befindet sich damit mindestens eine tödliche Waffe. Der Zuwachs fällt angesichts der seit Jahren kursierenden Zahl von Handfeuerwaffen dennoch nur leicht ins Gewicht. Nach Schätzungen befinden sich über 400 Millionen Waffen in privater Hand, inklusive mindestens vier Millionen der berühmt-berüchtigten AR-15-Sturmgewehre. Nicht berücksichtigt sind bei diesen Zahlen die illegal kursierenden, nicht registrierten und selbstgebauten Waffen.
So oder so existieren aufgrund der liberalen Gesetzeslage, die das Sammeln von Daten erschwert, bundesweit nur spärliche Erhebungen. Deshalb lässt sich das Ausmaß, in dem sich das rechte Spektrum – von Libertären und Konservativen über Trumpisten bis hin zu Neo-Nazis – legal bewaffnet hat, nicht belegen. Laut Umfragen besitzt ein Viertel von Parteiangehörigen der Demokraten, aber mehr als die Hälfte der Republikaner (57 Prozent) eine Waffe. Die extrem rechte Szene in den USA ist jedenfalls schwer bewaffnet, was sie auch gerne immer wieder - Stichwort Milizen - zur Schau stellt.
Amokläufe, etwa das wahllose Erschießen von Schüler*innen oder Einkäufer*in- nen, sind von neo-faschistischen Massakern nicht mehr unbedingt zu unterscheiden. Im Mai 2021 wurde in Kerrville im Bundesstaat Texas Coleman Thomas Blevins festgenommen. Die Behörden hatten ihn in einem Online-Forum bei der Planung ertappt, in einer Walmart-Filiale „Massenmord zu begehen“. Bei der Durchsuchung von Blevins Wohnung fand die Polizei Fahnen der Konföderierten, der spanischen Faschisten und der deutschen Nazis sowie einschlägige Literatur, etwa die „Turner Diaries“. Keine Überraschung waren dann auch das Sturmgewehr und die entsprechende Munition.
Die liberale Waffengesetzgebung macht es möglich. Gleichwohl ist sie für Außenstehende schwer zu verstehen. Denn es gibt zwei gesetzliche Ebenen: die von Washington aus regierte Bundesebene und parallel dazu die 50 Bundesstaaten. Im Vergleich zu den deutschen Bundesländern haben US-amerikanische Einzelstaaten größere Befugnisse, auch im Strafrecht.
So ist es völlig unkompliziert, etwa im von Republikanern dominierten Texas legal eine Waffe zu erstehen. Auf den dortigen „gun shows“, die nicht anderes als Flohmärkte sind, dürfen Waffen wie jede andere Ware frei gegen Bargeld und ohne Registrierung ver- und gekauft werden. Kalifornien und die meisten Ostküstenstaaten, die von Demokraten beherrscht werden, schränken das Waffenrecht dagegen ähnlich streng ein wie Deutschland.
Auf Bundesebene wurden in der US-Geschichte nur wenige Gesetze verabschiedet, die Waffen regulieren. Der „National Firearms Act“ regelt den Besitz vollautomatischer Waffen und von Sprengstoff. Der „Gun Control Act“ beschränkt die Verschickung von Waffen und ihren Verkauf an strafrechtlich Verurteilte, Suchtkranke und psychisch Kranke. Das sogenannte Brady Bill, das Käufern eine Überprüfungspflicht auferlegte und Magazine mit mehr als zehn Schuss verbot, wurde vom Obersten Gericht 1997 wieder einkassiert.
Seit Jahrzehnten wird über das Waffenrecht debattiert. Im Zentrum steht dabei die Interpretation der US-Verfassung, in der wenige Jahre nach der Staatsgründung Waffenbesitz als Grundrecht verankert wurde. In sogenannten Second Amendment heißt es „A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear arms, shall not be infringed“, auf Deutsch etwa „Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen, nicht beeinträchtigt werden.“ Schon das Original vor über 230 Jahren, das zu einer Zeit von Vorderladern und Bleikugeln geschrieben wurde, klang reichlich verklausuliert. Heute wirft es umso mehr Fragen auf, zum Beispiel: Was ist eine Miliz, wer ist „the people“ und was bedeutet „beeinträchtigen“?
Beantwortet werden sie vom Obersten Gericht als entscheidender Instanz. Hatte es den Verfassungsgrundsatz immer „kollektivrechtlich“ interpretiert, das heißt als das Recht von Einzelstaaten, sich und ihre Nationalgarden zu bewaffnen, so vollzog es 2008 eine radikale Wende. Mit fünf gegen vier Stimmen interpretierte es das Second Amendment individualrechtlich. Der Bürger habe das Recht auf Waffenbesitz, etwa zur Selbstverteidigung in den eigenen vier Wänden, hieß es. Regulierungen seien aber dennoch weiter nötig.
Das richtungsweisende Urteil von 2008 dient seitdem rechten Milizen als Rekrutierungswerkzeug. Auf seiner Grundlage verschob sich der gesamte Diskurs nach rechts. Der „gun rights“-Bewegung gelang es, den bis 9/11 im amerikanischen Mainstream geltenden Grundsatz, wonach Waffen für weniger Sicherheit sorgen, Schritt für Schritt in sein Gegenteil zu verwandeln. „Gun rights“, oft in Kombination mit „freedom of speech“, ist zum ideologischen und politischen Bindemittel von konservativ über rechtsreligiös und rechtslibertär bis ganz rechts außen geworden.
Die 2020 in den Kongress gewählte Abgeordnete Lauren Boebert, eine Republikanerin, verkörpert diesen Kulminationspunkt. In einem Video ist sie – „I‘m a women and a mother of four“ – beim Laden ihrer Glock-Pistole zu sehen. Danach marschiert sie durch die Hauptstadt und sagt „Hi, ich weigere mich, meine Rechte aufzugeben...ich werde meine Pistole in Washington und im Kongress tragen“. Das Video veröffentlichte sie zwei Tage vor der Stürmung des US-Kongressgebäudes am 6. Januar 2021 durch die rechte Szene um Trump. Boebert wurde tags vor der Erstürmung bei einer „Besichtigungstour“ des Kapitols beobachtet. Entsprechende Nachforschungen blockte die Republikanerpartei ab.
Organisatorische Hauptschnittstelle für die „gun rights“-Rechten ist die "National Rifle Association of America" (NRA). 1871 in New York von zwei O zieren der Unionsarmee als lokaler Schützenverein gegründet, expandierte die Vereinigung an Universitäten und Militärakademien mit Schießständen und -wettbewerben. Damit einher ging die Vernetzung mit Eliten aus Militär und Politik. Erst seit Ende der 1960er Jahre in Folge des Gun Control Acts nach den Morden an John F. Kennedy und Martin Luther King betätigte sich die NRA politisch, um eine schärfere Waffengesetzgebung zu verhindern. Eine eigene Lobby- und Anwaltsabteilung, die gezielt Druck auf und finanzielle Anreize für Politiker herstellte, wurde ins Leben gerufen.
Ende der 1970er Jahre machte die Vereinigung „gun rights“ zur Priorität. 1980 unterstützte sie erstmals einen Präsidentschaftskandidaten, Ronald Reagan. Es folgten hochrangige Connections zu beiden Parteien, aber auch zur Rüstungsindustrie. Die NRA war von einem Schützenverein zu einer rechten Wahlkampfmaschine mit Millionen von Mitgliedern geworden und blockierte jedes Reformvorhaben.
„Die Demokraten wollen euch eure Waffen und eure Freiheit wegnehmen“, lautet der Kampfruf der NRA nach jedem noch so verheerenden Massenmord. Über die Kapitolsstürmung schwieg sie sich aus. Anfang dieses Jahres meldete die NRA Konkurs an, um einer Anklage wegen Veruntreuung zu entgehen. Die hatte die New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James erhoben, um letzendlich die Auflösung der Organization zu erreichen. Ob es dazu kommt, ist fraglich. Denn wahrscheinlich wird die NRA ihren langjährigen Vorsitzenden Wayne LaPierre, gegen den sich die Vorwürfe richten, fallenlassen und sich dann neu aufstellen.
Über die liberale Regulierung und die relativ einfache Beschaffung von Waffen auf dem legalen Weg herrscht bei US-Linken und in der antirassistischen wie antifaschistischen Bewegung keine einhellige Meinung. Für die große Mehrheit, die so oder so in Großstädten mit strengen Waffengesetzen politisch aktiv ist, ist die Frage damit geklärt. Für sie stellen Waffen
keine Option dar. Auf dem Land, in ein paar größeren Städten an der US-Westküste, etwa Seattle und Portland, sowie im US-Süden ist Bewaffnung durchaus eine Möglichkeit, die wahrgenommen wird. In Seattle versteht sich der „Puget Sound John Brown Club“ mit mehreren Dutzend Mitgliedern als „Verteidigungsorganisation“. Die Gruppe übt regelmäßig am Schießstand, bildet Interessierte in Selbstverteidigung aus und tritt bei Demonstrationen als Ordner mit verdeckten Waffen auf. In weiteren Bundesstaaten sind ähnlich orientierte „John Brown Clubs“ sowie die „Socialist Ri e Association“ als eingetragene Vereine aktiv.
Im vergangenen Sommer machte die „Not Fucking Around Coalition“ (NFAC) im Bundesstaat Georgia in paramilitärischer Aufmachung mit einer Stärke von etwa 500 Männern in Uniform und Sturmgewehren auf sich aufmerksam. Ziel war es, vor dem Geburtsort des KKK an einem riesigen Granitfelsen eine Demonstration abzuhalten. Die ausschließlich Schwarze Gruppierung um ihren Gründer John Fitzgerald Johnson versammelt ehemalige US-Soldaten, die mit Waffen umgehen können, um sich und versteht sich als antirassistische „Schwarze Miliz“. Johnson distanzierte sich in Interviews von „Black Lives Matter“. Das Ziel müsse in der Trennung von Schwarzen und Weißen und die Schaffung eines eigenständigen Schwarzen Staates im US-Süden bestehen.