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Antifa 10 Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU

„Antifaschist*innen aus verschiedenen Städten“ (Gastbeitrag)
Einleitung

Am 4. November 2021 jährte sich zum 10. Mal die NSU-Selbstenttarnung. Für die Überlebenden und Angehörigen der Opfer der rassistischen Mord- und Anschlagsserie bedeutete der Tag die Gewissheit, dass die jahrelang erfahrenen Anschuldigungen der rassistischen Ermittlungen falsch waren und dagegen ihre Hinweise darauf, dass die TäterInnen Neonazis waren, zutrafen. Zum anderen kamen die Erfahrungen der Ignoranz, des institutionellen wie auch mörderischen Rassismus, die Traumata und der mühsam verdrängte Schmerz zurück.

Foto: Christian Ditsch

Semiya Şimşek-Demirtas beschreibt dies in ihrem Buch „Schmerzliche Heimat“: „Ich hatte zu sagen gelernt: Mein Vater ist tot. Punkt. Wir hatten uns damit abgefunden, dass der Fall vielleicht nie aufgeklärt würde. Wir hatten mit dem Geschehen fest abgeschlossen. Nun brach die Trauer erneut über mich herein, es war, als sei mein Vater eben erst gestorben. Erinnerungen flimmerten mir unablässig durch den Kopf, in Gedanken durchlebte ich die vergangenen elf Jahre wie im Zeitraffer. Alles kam wieder hoch: die Vernehmungen, die Ängste, unsere Ohnmacht und all die ungelösten Fragen, die ich von mir weggeschoben hatte.“

Aus antifaschistischer Perspektive markiert der Tag unser eigenes Versagen. Wir haben trotz des Wissens über Neonazis, Rassismus und Staat die Taten nicht enttarnt und gestoppt. Wir haben nicht zugehört, als die Angehörigen darauf aufmerksam machten. Für uns stellt sich nun – mit 10 Jahren Wissen um den NSU-Komplex – die Frage, ob diese Erfahrungen des Scheiterns und des Rassismus ausreichend Niederschlag in unserer Praxis gefunden haben.

Nach der Selbstenttarnung wurden die Leerstellen antifaschistischer Politik offenbar: Die fehlenden Konsequenzen aus den eigenen Analysen und die Ignoranz gegenüber Rassismus als gesellschaftliches Machtverhältnis, das auch eine radikale Linke einschließt. In den vergangenen Jahren wurden diese Leerstellen viel besprochen. Es gilt die mediale Berichterstattung der Medien zu hinterfragen und Polizeimeldungen keinen Glauben zu schenken, insbesondere bei Einschätzungen zu rechter Gewalt. Es ist oft beschrieben worden, wie wenig die Demonstrationen der Angehörigen nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat 2006 Beachtung gefunden haben und dass es den Betroffenen von rechter Gewalt zuzuhören gilt. Und immer wieder wurde beteuert, dass diese Fehler nicht noch einmal geschehen dürfen. Gefahr erkannt – Gefahr gebannt? Mitnichten.

Wo stehen wir 10 Jahre danach?

Welche Konsequenzen eine antifaschistische Bewegung 10 Jahre danach ziehen kann, hat das bundesweite Netzwerk NSU-Watch zusammengefasst. Nach wie vor steht jedoch für viele Linke das Versagen von Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz (VS) im Vordergrund, wie die IL-Kampagne #10JahreDanach demonstrierte. Dieser gelang es am 10. Jahrestag einige Tweets abzusetzen, die sich so auf den VS verstiegen, dass die Morde, die Opfer und die Hinterbliebenen noch nicht einmal Erwähnung darin fanden. Dazu der Hashtag NixGelernt – ja, offensichtlich.

Selbstverständlich sind staatliche Behörden in der Verantwortung. Nur der Arbeit von Betroffenen, Nebenkläger*innen, Journalist*innen, Projekten wie NSU-Watch und Antifa-Recherchen ist es zu verdanken, dass diese Aufklärung bis heute fortgesetzt wird. Erzählungen, die die Hauptverantwortung den Behörden zusprechen, klammern die eigene Verantwortung aus: Sie überdecken das jahrelange Ausblenden von rechtem Terror in einer rassistischen Normalität, trotz der Beschäftigung mit Neonazis; Sie klammern das Nichthinschauen, Nichtzuhören und das Nicht­ernstnehmen migrantisch situierten Wissens zu den Taten trotz des Selbstverständnisses als Antirassist*innen aus. Sie lenken damit ab von dem eigenen Versagen und dem, was daraus folgen muss: eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Deutungsmustern, den eigenen Szenestrukturen und den eigenen bequemen Privilegien. Ebenso blenden sie aus, dass nicht allein Aufklärung und Abbau staatlicher Geheimdienststrukturen rechten Terror stoppen wird, sondern eine gesamtgesellschaftliche Veränderung, Rassismus zu verlernen.

Und so stehen wir 10 Jahre danach in Zwickau vor den deutschen Eichen, welche die Stadt gepflanzt hat, ohne die Angehörigen miteinzubeziehen. Eine Unverschämt­heit, findet Gamze Kubaşık, Tochter des achten NSU-Mordopfers Mehmet Kubaşık im November 2019: „Ich weiß auch gar nicht, ob ich möchte, dass in Zwickau ein Baum für ihn gepflanzt wird, wenn man dort gar nicht sicher sein kann, dass er nicht wieder abgesägt wird.“

Auch 10 Jahre danach stehen wir nicht beisammen. Während die Überlebenden und Angehörigen mit wenigen solidarischen Menschen ihre Kämpfe um Gerechtigkeit und Gedenken führen, begeben sich hunderte Antifaschist*innen in die Stadt der TäterInnen und machen ihr eigenes Ding. Gerechtfertigt wird dies damit, einen „eigenen, kämpferischen, antifaschistischen Ausdruck auf die Straße tragen“ zu wollen.

Doch was heißt dann Solidarität mit den Betroffenen? Wo sind die Genoss*innen bei den jährlichen Gedenken an Todesopfer rechter Gewalt oder Veranstaltungen von Betroffenen? Die Orientierung auf die TäterInnen scheint weiterhin dominant in antifaschistischen Praxen. Kein Wunder, denn die TäterInnen sind uns als mehrheitlich weiße Bewegung oftmals näher als Betroffene rassistischer Gewalt. Auch Perspektiven von BIPoC- Genoss*innen werden oft nicht mitgedacht und ebenso unsichtbar gemacht.

Den Verfassungsschutz zu kritisieren ist einfach, eigene Rassismen zu reflektieren tut hingegen weh. Wer jedoch aus dem NSU-­Komplex lernen will, muss Rassismus als wesentliches Element anerkennen und bekämpfen. Nach der Selbstenttarnung blieben antifaschistische Großdemonstrationen aus, während die extreme Rechte ihren Einfluss stetig ausbaut und rechter Terror zunimmt.

Erst nach den Anschlägen in Halle und Hanau zeigt sich eine Sensibilisierung der weiß-deutschen Mehrheits­gesellschaft, der Medien und in der Linken für die Perspektiven von Betroffenen. Als Teil der Gesellschaft müssen wir uns als Linke der Verantwortung stellen, rechten Terror und dessen Grundlagen wie Rassismus und Antisemitismus mit allen Mitteln zurückzudrängen. Wir werden nicht jede Tat verhindern können, aber wir müssen die Verantwortung übernehmen. Das heißt da zu sein, wenn Menschen von Rassismus und rechtem Terror betroffen sind. Eben das zu tun, was vor 2011 nicht getan wurde: Empathie und Anteilnahme zeigen.

Was heißt eigentlich Solidarität mit den Betroffenen?

Es bleibt unser Eindruck, dass die rassistischen Zustände und alltäglichen Gewaltverhältnisse, die BIPoC-Menschen und Genoss*innen erfahren, von vielen weiß positionierten Linken noch nicht verstanden werden. Auch hier nehmen wir uns nicht aus. Auch unsere Lernprozesse haben wir jenen Betroffenen und Überlebenden rechten Terrors sowie BIPoC-Aktivist*innen, -Freund*innen und -Genoss*innen zu verdanken, die ihre Erfahrungen mit uns teilen. Die mit uns zusammenarbeiten, trotz ihrer Geschichten und der Kraft, die es kostet, sich immer wieder diesen Themen auszusetzen, und die sich dem Rassismus und Antisemitismus nicht entziehen können.

Nur durch Zuhören und Anerkennen der rassistischen Dimensionen des NSU-­Komplex konnten Initiativen und Bündnisse geschlossen werden, in denen die Perspektiven der Betroffenen im Vordergrund stehen und neue Wege der Solidarität gegangen werden. Gleichzeitig bleibt unser Eindruck, dass die viel beschworene Solidarität mit den Betroffenen wenig über eine Absichtsbekundung, eine Sponti nach einem Übergriff oder ähnliches hinausgeht. Denn hier steht keine große und schicke Mobilisierung im Vordergrund. Oft geht es vielmehr darum, ins Gespräch zu kommen, Vertrauen aufzubauen, zu fragen: Was sind Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen? Wie können solidarische Bündnisse und Zusammenarbeit entstehen? Was ist ein selbstbestimmtes Gedenken? Und wie lernen wir die Widersprüche auszuhalten und verschiedene Perspektiven nebeneinander stehenzulassen?

Fragen, die die Familie Arslan und der Freundeskreis in Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 seit Jahren stellen und in der Möllner Rede im Exil zu einer Symphonie der Solidarität zusammengefasst haben1 . Statt die Verantwortung bei anderen zu suchen, müssen wir als Antifa uns, unsere Perspektiven und Praxen in Frage stellen. Es ist längst Zeit für einen Perspektivwechsel hin zu den Betroffenen.

Für Antifa muss dies auch heißen, es ist Zeit für einen Politikwechsel der Verantwortung und des Suchens nach Solidarität. Wenn wir wirklich zuhören, stehen wir zukünftig nicht allein in Zwickau, sondern an der Seite von Betroffenen. Da wo sie sprechen und wir einzig mit unserer Anwesenheit als Verbündete Solidarität zeigen können. Wie İbrahim Arslan, Überlebender und Aktivist, sagt: „Selbstbestimmtes Gedenken bedeutet, Betroffene zu empowern, ihr eigenes Gedenken, das Institutionen vereinnahmen und sie damit instrumentalisieren, zurück zu erkämpfen.“

(Ein Erwiderung auf diesen Beitrag findet sich im AIB Nr. 134)