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Rostock: 30 Jahre nach dem Pogrom – Erinnern heißt verändern!

vom Bündnis „Gedenken an das Pogrom Lichtenagen 1992" (Gastbeitrag)
Einleitung

Lichtenhagen, ein von Plattenbauten geprägter Randbezirk der Hansestadt Rostock kurz vor der Ostsee: In einem als „Sonnenblumenhaus“ bekannten Wohnblock wurden im August 1992 über mehrere Tage Geflüchtete und ehemalige Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam angegriffen. Die Polizei schritt gegen den rassistischen Mob kaum ein, mehrere tausend Umstehende klatschten Beifall, Imbissstände versorgten die Menge mit Bier. Als sich nach der Evakuierung der Geflüchteten die Polizei ganz zurück zog, setzten die Angreifer:innen das Haus in Brand. Mehr als 120 im brennenden Haus eingeschlossene Vietnames:innen, Rostocker Unterstützer:innen und ein ZDF-Kamerateam entkamen nur, weil sie sich selbst organisierten und sich schließlich über das Dach das Gebäudes retteten.

Foto: Christian Ditsch

Während des Pogroms waren viele Kamerateams vor Ort, die teilweise live berichteten. Die Gewalt wurde so zum Medienereignis und das brennende Sonnenblumenhaus zum Symbol für die rechte Gewalt der Nachwendezeit. Mit dieser Symbolkraft des Pogroms in Lichtenhagen ging jedoch keineswegs eine angemessene Aufarbeitung oder Erinnerungskultur einher. In der Stadt selbst sorgte man sich vor allem um mögliche wirtschaftliche Schäden und die Bewerbung als Austragungsort der Segelolympiade.

Statt Entschädigungszahlungen oder Unterstützung zu erhalten, mussten die vietnamesischen Betroffenen des Pogroms noch bis 1997 für ihr Bleiberecht kämpfen. Den zur gleichen Zeit in der „Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZASt) angegriffenen Geflüchteten war da der Aufenthalt in Deutschland durch Asylrechtsverschärfungen und Abschiebungen schon längst unmöglich gemacht worden.

Nach dem Pogrom entstanden in Rostock jedoch auch migrantische Selbstorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen, von welchen die Erinnerung in den Jahren nach dem Pogrom maßgeblich gestaltet wurde. Bei den offziellen Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen 2002 und 2012, die von Initiativen aus der Rostocker Zivilgesellschaft mitorganisiert wurden, war man jedoch vor allem um die Wiederherstellung eines positiven Bildes der Hansestadt bemüht. Zum 20. Jahrestag wurde unter dem nichtssagenden Titel „Lichtenhagen bewegt sich. Gemeinsam füreinander“ ein großes Volksfest vor dem Sonnenblumenhaus organisiert. Der damalige Bundespräsident und Rostocker Joachim Gauck sprach das erste Mal über das Pogrom und bezeichnete das Ereignis gleich im ersten Satz als „Vergangenheit“. Danach sang ein Kinderchor.

Zu einer Demonstration mit dem Titel „Das Problem heißt Rassismus“ gingen gleichzeitig mehr als 6.000 Menschen in Lichtenhagen auf die Straße. Vor dem Sonnenblumenhaus ließ die Stadt als Erinnerungsort eine „Friedenseiche“ pflanzen. Diese fiel wenige Tage später der AG „Antifaschistischer Fuchsschwanz“ zum Opfer, auf eine Neupflanzung verzichtete man wohlweislich. Auch ausgelöst durch diese medial breit diskutierten Konflikte bewegte sich in den folgenden Jahren tatsächlich etwas. Die Stadt finanzierte dezentrale Mahnmale, welche unter anderem Orte der Täter:innen wie eine Polizeiwache oder das Rathaus markieren, sowie die Einrichtung eines Dokumentationszentrums beim linken Bildungsverein „Soziale Bildung e.V.“. Damit sind erste Ansätze für eine nachhaltige Aufarbeitung des Pogroms und die dauerhafte Etablierung von Bildungsarbeit gelegt.

Gerade die bundesweite Aufmerksamkeit folgt jedoch weiterhin dem Rhythmus der „runden“ Jahrestage. Um uns auf den diesjährigen 30. Jahrestag vorzubereiten, die zu erwartende Aufmerksamkeit zu nutzen und Erfahrungen aus dem Gedenken der vergangenen Jahrzehnte zu bündeln, gründeten wir im November 2011 das Bündnis „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“. Teil des Bündnisses sind migrantische Selbstorganisationen, antifaschistische und antirassistische Gruppen sowie Kulturinitiativen. In einer bundesweiten Vernetzung versuchen wir außerdem, unsere Arbeit für interessierte Gruppen außerhalb von Rostock zu öffnen.

Von der Stadt Rostock haben wir frühzeitig die gleichberechtigte Mitgestaltung des städtischen Gedenkens eingefordert. Bisher (Stand: Mai 2022) scheint sie bemüht, interessierte Gruppen einzubeziehen, ohne dabei jedoch eigene inhaltliche Auseinandersetzung zu leisten. Auch viele Entscheidungsprozesse blieben bisher eher intransparent. Wie weit die inhaltliche Mitbestimmung tatsächlich geht und wie das diesjährige offizielle Gedenken aussieht, bleibt abzuwarten.

In einem Anfang 2022 veröffentlichten Positionspapier haben wir die inhaltlichen Grundsätze unserer Arbeit festgelegt. In diesem fordern wir die klare Benennung der rassistischen Anschläge als „Pogrom“ und die Fokussierung auf die Perspektiven und Forderungen der Betroffenen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Einordnung des Pogroms in die Kontinuitäten von rechter Gewalt und staatlichem Rassismus. Dem Pogrom voraus ging die jahrelange konservative Kampagne für die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, die rechtsterroristischen Anschläge der 1980er Jahre in Westdeutschland sowie die Gewalt gegen Vertragsarbeiter:innen, aber auch die Etablierung einer rechter Subkulturen in der DDR. Für die Neonazis des (späteren) NSU- Komplex wirkte die Erfahrung von gesellschaftlicher Unterstützung und ausbleibender Strafverfolgung nach Gewalttaten Anfang der 1990er ermächtigend. Im Februar 2004 ermordeten sie Mehmet Turgut im Rostocker Bezirk Toitenwinkel.

1992 gab es allein in Mecklenburg-Vorpommern über fünfzig dokumentierte Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte. Im März 1992 wurde der rumänische Geflüchtete Dragomir Christinel in Saal von rechten Jugendlichen erschlagen, im Juni 1992 wurden die beiden Rumänen Eudache Calderar und Grigore Velcu während des Grenzübertritts beim vorpommerschen Nadrensee von Jägern erschossen. Die alltägliche Dimension der Gewalt gegen Geflüchtete, Migrant:innen und Linke in dieser Zeit lässt sich nur erahnen.

Bekannte Ereignisse wie das Pogrom sollten aber Anlasspunkt der Auseinandersetzung mit dieser alltäglichen Gewalt seien, statt sie zu verdecken. Auch in den Debatten um „Baseballschlägerjahre“ und „Nullerjahre“ wird die Transformationszeit trotz der Thematisierung von rechter Gewalt häufig aus einer weißen Perspektive erzählt. Über die Erfahrungen beispielsweise von Geflüchteten in dieser Zeit wissen wir noch immer sehr wenig. Dies spiegelt sich auch in den Erzählungen des Pogroms wider. Während die Perspektiven der vietnamesischen Betroffenen durch die Arbeit von Aktivist:innen und Forscher:innen wie Mai-Phuong Kollath, Kien Hghi Ha und Dan Thy Nguyen mittlerweile stärker sichtbar sind, ist über die in der ZASt angegriffenen Geflüchteten weiterhin kaum etwas bekannt. Auch um solche Lücken zu schließen, ist eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Pogrom abseits der Jahrestage notwendig.

Um die Grundlage für diese notwendige Auseinandersetzung zu legen, organisieren wir in dem aktuellen Gedenkjahr viele Veranstaltungen und Aktionen. Wir erinnern an Todesopfer rechter Gewalt, beschäftigen uns mit den Kontinuitäten des Rassismus gegen Rom*nja, aber auch mit dem antifaschistischem Widerstand während des Pogroms. Am 21. August 2022 werden wir gemeinsam zu einer Mahnwache vor dem Erstaufnahmelager in Nostorf-Horst fahren. Das Lager wurde unmittelbar nach dem Pogrom eingerichtet und seit Jahrzehnten müssen Geflüchtete dort unter unmenschlichen Bedingungen fernab jeglicher Infrastruktur im Wald leben. Horst steht symbolisch für die staatliche Reaktion auf die massive rechte Gewalt Anfang der 1990er Jahre. Statt Geflüchtete zu schützen und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, wurden sie in Sammellagern isoliert und anschließend möglichst schnell wieder abgeschoben.

Zum Jahrestag des Pogroms genau eine Woche später am 27. August 2022, rufen wir zu einer bundesweiten Demonstration in Rostock-Lichtenhagen auf. Unter dem Motto „Damals wie heute - erinnern heißt verändern“ werden wir gemeinsam auf die Straße gehen. Wir beziehen uns mit diesem Motto auf die Arbeit der „Initiative 19. Februar Hanau“ und die rechten Gewalttaten der Gegenwart, aber auch auf die gegenwärtigen Widerstände, Organisationen und Initiativen. Denn rassistische Gewalt und institutioneller Rassismus sind kein Problem der Vergangenheit, sie gehen bis heute Hand in Hand. Die Erinnerung an die Gewalt der Vergangenheit muss mit einem Handeln in der Gegenwart verknüpft sein.

(gedenken-lichtenhagen.de;  instagram.com/buendnislh92; twitter.com/buendnislh92; facebook.com/buendnislh92)