Polizeigewalt und Geflüchtete
Nora NeumannFast jede Nacht wird irgendwo in Deutschland die Tür einer Familie aufgebrochen und eine Vielzahl von Beamt*innen stürmen teils mit gezogener Waffe die Wohnung, legen Eltern, Großeltern oder Kinder – egal ob gesund oder schwerkrank – in Handschellen und transportieren sie zu einem Abschiebeflug. Fast täglich versuchen Geflüchtete sich umzubringen oder begehen Suizid, da sie mit der Ungewissheit, der Gängelei, dem Rassismus nicht mehr umzugehen wissen. Flaschenwürfe, nächtliche Beleidigungen und Angriffe auf Geflüchtete sowie unterlassene Hilfeleistung und Attacken auf von Geflüchteten bewohnte Unterkünfte sind Alltag in Deutschland, wo die rassistische Mordserie des NSU jahrelang als „Döner-Morde“ betitelt wurde.
Die "Antirassistische Initiative e.V." (ari) veröffentlicht seit 29 Jahren die Dokumentation: „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen”.1 Wer sich durch die Dokumentation müht, bekommt schnell ein flaues Gefühl im Magen, vielleicht sogar Wut. Die unmenschlichen Lebensbedingungen und der Hass, der Geflüchteten in Deutschland entgegenschlägt, ist fühlbar; die Untätigkeit der Staatsanwaltschaften, Richter_innen, im Grunde aller Behörden ist unerträglich. Seit 1993 haben sich mehr als 1.300 Seiten Gräueltaten gegen und Selbstverletzungen von Geflüchteten angesammelt.
Am 5. März 2021 rauchen der 19-jährige Iraker Qosay K. und ein Freund einen Joint auf einer Parkbank in Delmenhorst in Niedersachsen, als sich ihnen zwei Zivilpolizisten nähern. Qosay rennt weg, wird kurze Zeit später gestellt und in einem Gerangel mit Pfefferspray besprüht, kann sich allerdings wieder befreien. Er wird schließlich in einem Vorgarten gestellt. Ein Beamter legt ihm Handschellen an und ein anderer kniet sich auf den bäuchlings Liegenden. Ein Zeuge, durch laute Schmerzensschreie alarmiert, beobachtet wie Speichel aus Qosays offenem Mund läuft und er immer wieder nach Wasser schreit. Keiner der inzwischen vier Polizeibeamt_innen oder der hinzugerufenen Sanitäter_innen nehmen Qosay ernst und geben ihm Wasser. Auf der Wache angelangt beobachten Beamt_innen, wie er in der Gewahrsamszelle ohnmächtig wird. Erste Hilfe leisten jedoch erst die später hinzugerufenen Rettungskräfte, welche ihn wiederbeleben. Am nächsten Tag stirbt Qosay im Krankenhaus.
Die Polizei spricht schnell von einem „Unglücksfall im Gewahrsam der Polizei“ und behauptet, Qosay sei aggressiv gewesen und habe die Behandlung durch die Sanitäter_innen abgelehnt, was Zeug_innen widerlegen. Die Staatsanwaltschaft sieht keine Hinweise auf Fremdverschulden und mutmaßt, Qosay sei an einer Überdosis harter Drogen gestorben – die Blutuntersuchung widerlegt auch diesen Versuch, das Opfer zu stigmatisieren. Ein von der Familie in Auftrag gegebenes Gutachten der Uniklinik Hamburg-Eppendorf stellt als Todesursache „sauerstoffmangelbedingtes Kreislaufversagen“ fest. Die Ermittlungen gegen alle beteiligten Beamt_innen und Rettungskräfte stellt die Staatsanwaltschaft ein, die unterlassene Hilfeleistung auf der Wache wird relativiert, da die später dazugekommenen Rettungskräfte Qosay ja wiederbelebt hätten.
In Harsefeld in Niedersachsen erschießen Polizist_innen am 3. Oktober 2021 den 40-jährigen Kamal Ibrahim aus dem Sudan in seiner Flüchtlingsunterkunft. Es ist bereits der dritte Einsatz der Polizei, welche von Mitbewohner_innen gerufen wurde, da der psychisch schwer kranke Kamal Ibrahim sie mit einem Messer bedrohte. Bei den Einsätzen zuvor baten die Mitbewohner_innen die Beamt_innen mehrmals, Kamal Ibrahim in ein Krankenhaus zu bringen, jedoch lassen die Polizist_innen nach Rücksprache mit einer Richterin Herrn Ibrahim wieder gehen. Beim dritten Einsatz erscheinen vier andere Beamt_innen als bei den Einsätzen zuvor. Herr Ibrahim hatte sich auf sein Zimmer zurückgezogen. Seine Mitbewohner hörten dann die Rufe der Beamt_innen, er solle das Messer fallen lassen. Von den 13 abgegebenen Schüssen treffen Kamal Ibrahim elf. Zwei Projektile durchschlagen eine Wand und treffen beinahe einen Mitbewohner. Die Staatsanwaltschaft stellt alle Ermittlungsverfahren gegen die Beamt_innen später ein.
Ein Beamter der für Rassismus und Gewalt berüchtigten Dortmunder Nordwache erschießt am 8. August 2022 einen 16-jährigen, psychisch labilen Geflüchteten mit sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole. Vier Schüsse treffen den 16-Jährigen in Unterarm, Bauch, Schulter und Kopf. Ein Betreuer rief die Polizei, weil der junge Senegalese suizidgefährdet war und sich im Innenhof seiner Jugendhilfeeinrichtung ein Messer vor den Bauch hielt. Insgesamt zwölf Beamt_innen finden Mouhamed Dramé sitzend vor. Die Beamt_innen warten nicht auf einen Dolmetscher und sprechen den jungen Mann auf Englisch und Spanisch an, worauf dieser nicht reagiert. Daraufhin ordnet ein Einsatzleiter an, eine ganze Flasche Pfefferspray auf Mouhamed zu sprühen, was eine Beamtin schließlich in die Tat umsetzt. Als der junge Mann aufsteht und auf die Beamt_innen zugeht, beschießen ihn zwei Polizist_innen mit Tasern, treffen ihn unter anderem am Penis und am Bauch, schließlich erschießt ihn ein Beamter.
Die Mutmaßung der Behörden, der Erschossene habe Drogen und Alkohol konsumiert, erweist sich als falsch. Der junge Mann muss sich vor Schmerzen gekrümmt haben, nachdem er vom Taser getroffen wurde, was die Frage aufwirft, weshalb dennoch geschossen wurde. Nach neuesten Informationen wurde Mouhamed Dramé weder vor Pfefferspray- und Tasereinsatz gewarnt, noch vor den tödlichen Schüssen. Erst nachdem er ohne Vorwarnung mit Pfefferspray angegriffen wurde, eskalierte die Situation.
Am 14. September 2022 soll Kupa Ilunga Medard Mutombo in eine Klinik gebracht werden. Der 64-Jährige ist schizophren und lebt in einem betreuten Wohnheim. Als er drei Polizist_innen vor seiner Tür sieht, versucht er sie wieder zu schließen. Daraufhin wenden die Beamt_innen massive Gewalt an, werfen Herrn Mutombo zu Boden, sodass er blutet. Anschließend kniet sich ein Beamter auf Herrn Mutombos Nacken. 13 weitere Beamt_innen betreten schließlich das Zimmer. Laut Zeugenaussagen sagt ein Polizist, Kupa Ilunga Medard Mutombo atme nicht mehr. Die folgende Wiederbelebung durch Sanitäter dauert 20 Minuten. Herr Mutombo wird danach ins Vivantes Klinikum Spandau gebracht. Später wird er in die Charité verlegt, wo er am 6. Oktober 2022 stirbt.
Sein Bruder wird erst sieben Tage nach dem Vorfall vom Krankenhaus benachrichtigt. Zu diesem Zeitpunkt liegt Herr Mutombo bereits mit lebensgefährlichen Verletzungen im Koma. Laut Polizei gebe es keine Hinweise auf Fremdverschulden, allerdings sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen und die Obduktionsergebnisse stehen noch aus. Herr Mutombo soll laut Polizei massiven Widerstand geleistet haben.
Alle Fälle, in denen Polizist_innen maßgeblich am Tod von Geflüchteten beteiligt waren, haben gemein, dass die Staatsanwaltschaften alle Ermittlungen gegen die beteiligten Beamt_innen einstellen. Das immer wiederkehrende Thema lautet: Das Opfer hat Drogen konsumiert, war aggressiv, hat die Beamte_innen angegriffen. Nur aus Notwehr und Nothilfe werden Menschen erschossen. Wenn Beamt_innen – wie bei George Floyd in den USA – minutenlang auf dem Nacken von am Boden Fixierten knien, kann keine Staatsanwaltschaft „Fremdverschulden“ am Tod ausmachen.
Wie im Fall Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 in einer Zelle des Polizeireviers Dessau in Sachsen-Anhalt verbrannt aufgefunden wurde, werden die Täter_innen in Uniform nie oder nur selten bestraft – meist zu geringen Strafen, damit sie weiter im Polizeidienst bleiben können. Der Dienstgruppenleiter zum Zeitpunkt von Oury Jallohs Tod war Andreas S., er wurde 2012, nachdem ein vorheriger Freispruch vom Bundesgerichtshof kassiert wurde, wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro verurteilt. Als Mitglied der "Gewerkschaft der Polizei" (GdP) übernahm diese sowohl seine Geldstrafe als auch die Anwalts- und Gerichtskosten in Höhe von 155.000 Euro und 430.000 Euro.2
Andreas S. war auch Dienstgruppenleiter, als 1997 Hans-Jürgen Rose kurz nach Verlassen der Wache an schweren inneren Verletzungen starb. 2002 wurde in der gleichen Zelle wie später Oury Jalloh, Mario Bichtemann mit einem Schädelbasisbruch tot aufgefunden. Angehörige von Oury Jalloh vermuten daher zu Recht, das Feuer sollte massiv Verletzungen und Spuren von Folter durch Dessauer Polizeibeamt_innen vertuschen. Folter und Mord scheinen in Dessau ebenso geduldet zu werden, wie Rechtsextremismus. Im Mai 2007 forderte der stellvertretende Polizeipräsident von Dessau, die Erfassung rechtsextremer Straftaten zu drosseln.
Verbindungen von einigen Polizeibeamt_innen in die rechte Szene sind hundertfach belegt, aber immer noch wird die Mär vom „Einzelfall“ erzählt. Aufklärung (rassistischer) Polizeigewalt kann nur von außen funktionieren – abseits von kollegialer Omerta und politischer Schadensbegrenzung.