Todesschützen mit Rückendeckung
Nora Neumann (Gastbeitrag)Im Jahr 2024 erschießen Polizist*innen 22 Personen – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Auch in Polizeigewahrsam oder nach Polizeieinsätzen sterben Menschen unter meist undurchsichtigen Umständen. Viele Opfer tödlicher Polizeigewalt sind psychisch erkrankt, drogenabhängig, obdachlos, arm, von Rassismus betroffen. Wie viele Menschen in Gewahrsam oder danach im Krankenhaus sterben, wird nicht veröffentlicht. Sicher ist nur, dass eine Polizeiinspektion einer benachbarten Gemeinde „aus Neutralitätsgründen“ die Ermittlungen leitet und dass in vielen Fällen „keine Hinweise auf Fremdverschulden“ vorliegen werden.
Gedenken an Lorenz A. am Tatort Achternstraße in Oldenburg.
In der Nacht zum 20. April 2025 schießt ein 27-jähriger Polizeibeamter in Oldenburg fünfmal auf Lorenz A., trifft ihn von hinten in Oberkörper, Kopf und Hüfte. Lorenz stirbt später im Krankenhaus. Er wurde 21 Jahre alt. Polizei und Staatsanwaltschaft rekonstruieren die Tatnacht so: An einer Diskothek wird Lorenz von Türstehern abgewiesen, soll ein Glas geworfen und mit Pfefferspray gesprüht haben. Anschließend verfolgen ihn mehrere Personen und lassen von Lorenz ab, nachdem er ihnen ein Messer zeigt. Die gerufene Polizei ist schnell vor Ort, spricht Lorenz an, er rennt weg. Ein weiterer Streifenwagen stellt sich Lorenz in den Weg, die Beamten ziehen ihre Waffen. Trotz der Aufforderung, stehen zu bleiben, rennt Lorenz an den Polizisten vorbei und kramt in seiner Tasche. Er sprüht Reizgas in Richtung der Beamten. Dann fallen die Schüsse. Neben Lorenz wird Pfefferspray gefunden, einem Polizeibeamten werden im Krankenhaus die Augen ausgespült während Lorenz stirbt. Im Krankenhaus wird ein Messer in Lorenz Hosentasche gefunden. Die Bodycams aller beteiligten Beamt*innen sind ausgeschaltet.
Schonungslose Aufklärung?
Diese Einsicht in ein laufendes Ermittlungsverfahren ist unüblich. Polizeipräsident und Justizministerium scheinen den Protesten wegen des Todes von Lorenz und den Falschmeldungen in den Medien entgegenwirken zu wollen. So hatte die BILD kurz nach der Tat getitelt: „Polizei erschießt Messer-Angreifer“. Mittlerweile lautet die Überschrift nur noch „Polizei erschießt Angreifer“, unter dem Text gibt es nun einen „Transparenzhinweis“: In einer ersten Version hatte BILD fälschlicherweise von einem „Messer-Angreifer“ in der Überschrift gesprochen. Das ist nicht korrekt. Der Getötete hatte niemandem mit einem Messer, sondern mit Reizgas verletzt.
Die Polizeimeldungen auf BILD werden „mit Hilfe von KI” auf Basis der Pressemitteilungen der Polizei erstellt. Hier treffen zwei Probleme aufeinander: Polizeimeldungen ungeprüft zu publizieren ist bereits fragwürdig, da Polizeimeldungen keine objektiven Tatsachenberichte sind, sondern oft eine Agenda verfolgen. Bei Klimaprotesten im Sommer 2022 in Hamburg etwa behauptete die Polizei, Demonstrierende hätten Reizgas gegen Einsatzkräfte eingesetzt. Tatsächlich hatte die Polizei unkontrolliert Reizgas versprüht und damit auch Kolleg*innen verletzt. Dazu kommt bei BILD der Einsatz einer „KI“, welche oft „halluzinieren“, also Informationen erfinden – wobei bei BILD fraglich ist, ob ohne KI nicht auch "halluziniert" wird.
Der NDR übernahm auf sozialen Medien die Geschichte des Messerangreifers, um anschließend zurückzurudern und zu behaupten, Lorenz hatte gar kein Messer bei sich. Der NDR schafft es hier, eine Falschmeldung mit einer zweiten Falschmeldung zu „korrigieren“, nur um endgültig zu melden, der Autor habe den Staatsanwalt schlicht missverstanden.
Ein weiteres oft zu beobachtendes Problem ist die mediale Kriminalisierung von Opfern von Polizeigewalt, oft angeregt durch Falschbehauptungen aus den ermittelnden Behörden selbst. „Der Spiegel“ etwa schreibt am Tag nach Lorenz Tod, er sei polizeibekannt gewesen, gegen ihn liefen „Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung, Widerstand gegen Polizeibeamte, Raub und Nötigung“. Da diese Informationen direkt aus Behördenkreisen kommen
und die Staatsanwaltschaft sich dazu nicht äußert, können sie weder überprüft werden, noch kann ausgeschlossen werden, dass Behörden hier die öffentliche Meinung beeinflussen wollen.
Déjà-vu in Niedersachsen?
Im Fall Lorenz A. ermittelt nun die Polizeiinspektion Delmenhorst, welche derselben Polizeidirektion angehört, wie die Polizeiinspektion Oldenburg. Die Ermittlungen werden von der Staatsanwaltschaft Oldenburg geleitet. „Eine ausreichende Objektivität und Neutralität in der Ermittlungsführung ist bereits deshalb gewährleistet“, erklärt ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums. Für den niedersächsischen Polizeipräsidenten Axel Brockmann ist das „völlig normal“ und „unproblematisch“. Laut Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt, ist das Modell der „benachbarten Dienststellen quasi das schlechteste Modell, das wir in Deutschland haben.“ Staatsanwaltschaften und Polizei sind aufeinander angewiesen, weshalb in solchen Verfahren voreingenommen ermittelt werden kann. Unter Polizist*innen, die sich im Ernstfall besonders aufeinander verlassen müssen, gibt es eine hohe Loyalität, welche auch eingefordert wird. Diese sogenannte „Cop-Culture“ führt jedoch auch dazu, dass es zu Konflikten kommt, wenn Fehlverhalten von Kolleg*innen gemeldet wird. Dass gerade die Polizei in Delmenhorst nun ermittelt, lässt nicht nur aufgrund der räumlichen Nähe aufhorchen, sondern auch weil in einem anderen Fall eines getöteten Geflüchteten die Polizei Oldenburg gegen Polizist*innen in Delmenhorst ermittelte:
Am 5. März 2021 rennt der 19-jährige Iraker Qosay K. vor zwei Zivilpolizisten weg, weil er einen Joint geraucht hatte. Bei einem Gerangel wird er mit Pfefferspray besprüht und kurz darauf in einem Vorgarten gestellt. Ein Beamter legt ihm Handschellen an und ein anderer kniet sich auf den bäuchlings Liegenden. Ein Zeuge, durch laute Schmerzensschreie alarmiert, beobachtet, wie er immer wieder nach Wasser schreit. Keiner der inzwischen vier Polizeibeamt*innen oder der hinzugerufenen Sanitäter*innen nehmen Qosay ernst und geben ihm Wasser. Auf der Wache beobachten Beamt*innen, wie Qosay in der Gewahrsamszelle ohnmächtig wird, Erste Hilfe leisten sie nicht, erst später hinzugerufene Rettungskräfte beleben ihn wieder. Am nächsten Tag stirbt Qosay im Krankenhaus. Die Polizei spricht schnell von einem „Unglücksfall im Gewahrsam der Polizei“ und behauptet, Qosay sei aggressiv gewesen und habe die Behandlung durch die Sanitäter abgelehnt, was Zeugen widerlegen. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg sieht "keine Hinweise auf Fremdverschulden" und mutmaßt, Qosay sei an einer Überdosis harter Drogen gestorben – die Blutuntersuchung widerlegt auch diesen Versuch, das Opfer zu stigmatisieren. Ein von der Familie in Auftrag gegebenes Gutachten der Uniklinik Hamburg-Eppendorf stellt als Todesursache „sauerstoffmangelbedingtes Kreislaufversagen“ fest. Im Mai 2021 stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen alle beteiligten Beamt*innen und Rettungskräfte ein, die unterlassene Hilfeleistung auf der Wache wird relativiert, da die später dazugekommenen Rettungskräfte Qosay ja wiederbelebt hätten.
Bitte weitergehen
„Rassistische Mörderbullen ermitteln gegen rassistische Mörderbullen?“ fragen Transparente in der Fankurve des FC Bayern deshalb nicht ohne Grund. Schon lange vor Abschluss der Ermittlungen ist der Ausgang klar: Die Geschehnisse in der Tatnacht seien „tragisch“ – für Lorenz aber auch den Todesschützen. Lorenz Tod wird ohne Konsequenzen bleiben für den Polizisten, der tötete, für die Polizei, die gegen sich selbst ermittelte, oder für Staatsanwaltschaft und Politik, die für die „unglücklichen Zustände“ der Tatnacht nicht verantwortlich sind.
Das System aus weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften, sich selbst loyalen Polizeidirektionen und aufs Image bedachten Politiker*innen wird weder eine verpflichtende Bodycam-Nutzung, noch „brutalstmögliche Aufklärung“ gewährleisten. Die Strategie der Behörden besteht häufig aus Abstreiten, Schweigen, Decken. Opfer von Polizeigewalt werden meistens diskreditiert, um die öffentliche Meinung wieder auf den „richtigen Weg“ zu bringen: Polizist*innen sind gut; wenn jemand von Polizist*innen umgebracht wird, hat er es bestimmt auch irgendwie verdient oder verschuldet.
Nichts hat sich geändert, seit Jürgen Rose am 8. Dezember 1997 an schweren inneren Verletzungen verstarb, nachdem man ihn hilflos unweit des Polizeireviers Dessau, wo er in Gewahrsam war, fand. Im gleichen Revier starb 2005 Oury Jalloh, der sich gefesselt auf einer feuerfesten Matratze selbst verbrannt haben soll. 2012 wurde der wachhabende Polizist zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro verurteilt. Die Prozess- und Anwaltskosten von mehreren hunderttausend Euro übernimmt die „Gewerkschaft der Polizei“.