Tödliche Schüsse
Solikreis »Dennis« (nojusticenopeace.blogsport.de)In der Silvesternacht 2008 wurde der wegen mehrerer offener Haftbefehle gesuchte 26jährige Berliner Dennis J. im brandenburgischen Schönfließ vom Berliner LKA-Polizisten Reinhard R. erschossen. Nach einem Hinweis zu dessen Aufenthaltsort fuhr R. mit seinen Kollegen B. und S. nach Schönfließ, um dort die Festnahme durchzuführen. Doch was genau in den folgenden 30 Sekunden geschah, bleibt aufgrund widersprüchlicher Zeug_innenaussagen bis heute unklar. Fakt ist jedoch, dass der unbewaffnete Dennis J. von acht Schüssen aus der Dienstwaffe von Reinhard R. getroffen wurde. Dabei war schon der erste – ein Lungenschuss aus maximal eineinhalb Metern Entfernung – tödlich.
Zur Beerdigung im Januar 2009 kamen über 300 Menschen. Nach der Trauerfeier zogen viele von ihnen zum Sitz des Polizeipräsidenten und forderten eine ordentliche Aufklärung der Todesumstände. An der nächsten Demonstration nahmen auch linke Aktivist_innen teil, die in den folgenden Monaten die Familie und Freund_innen von Dennis J. bei der Organisation von Kundgebungen, Demonstrationen, Prozessbegleitungen und Infoveranstaltungen unterstützten. Ziel dabei war es, die Unzulänglichkeiten und Pannen der polizeilichen Ermittlung aufzuzeigen, die alltägliche Polizeigewalt zu thematisieren und auf den Interessenkonflikt und dessen Folgen aufmerksam zu machen, welcher entsteht, wenn Polizisten gegen Kollegen ermitteln sollen.
Der Prozess
Der Prozess begann im Mai 2010 vor dem Landgericht Neuruppin. Der Hauptangeklagte R. wurde wegen Totschlags und seine Kollegen S. und B. wegen Strafvereitelung im Amt angeklagt. Die Familie war durch vier Nebenkläger_innen und deren Anwält_innen vertreten. Schon am ersten Prozesstag reichten die Plätze im Gericht nicht für alle Prozessbeobachter_innen aus, Familie, Freundeskreis und zahlreiche solidarische Menschen füllten bis zum letzten Verhandlungstag den Zuschauerraum des Gerichtssaals. Auch das Medieninteresse war enorm.
Zum Prozessbeginn verlasen alle drei Angeklagten eine Erklärung, in der sie den Tod von Dennis J. zwar bedauerten, insgesamt aber ihre Notwehrtheorie bekräftigten. Die Mitangeklagten S. und B. gaben an, aufgrund von Silvesterknallern keine Schüsse wahrgenommen zu haben und deshalb zum Tathergang keine Angaben machen zu können. Dies stellte sich jedoch im Laufe des Prozesses aufgrund gegenteiliger Zeug_innenaussagen als haltlos heraus. Die Notwehrtheorie der Angeklagten basierte zudem auf der Aussage, dass Dennis J. mit dem Auto, in dem er erschossen wurde, fliehen wollte und dabei den Polizisten S. angefahren habe. Mehrere Zeug_innen bestätigten jedoch, dass das Fahrzeug bei der Abgabe des ersten Schusses noch gestanden habe.
Auffällig waren auch die Ermittlungspannen, die während des Prozesses aufgedeckt wurden, sich aber bei vergleichbaren Verfahren gegen Polizisten häufig als Regel erweisen. So wurde für ein »unabhängiges« Gutachten des Gerichts derselbe Gutachter befragt, welcher zuvor bereits von der Verteidigung zum selben Thema beauftragt worden war. Auch saßen die drei Polizisten vor der Befragung stundenlang unbeaufsichtigt in einem Raum, genug Zeit also, ihre Aussagen so abzustimmen, dass sie sich gegenseitig entlasteten.
Die Urteilsverkündung erfolgte im Juli 2010. Der Hauptangeklagte R. wurde wegen Totschlags in einem minder schweren Fall zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung, seine mitangeklagten Kollegen wegen versuchter Strafvereitelung im Amt zu Geldstrafen von 10.800 und 8.400 Euro verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft für den Hauptangeklagten gefordert. In seinem Plädoyer kritisierte der Brandenburger Staatsanwalt den »Korpsgeist« der Berliner Polizei. Der Richter führte in seiner Bewährungsentscheidung dagegen aus, dass auch der Polizistenstatus des Hauptangeklagten strafmildernd zu berücksichtigen sei. Als Polizist sei er »extrem haftempfindlich«, da er sich im Falle einer Inhaftierung »unter denen einordnen müsse, die er sonst verfolgt hat.« Dies löste vor allem bei den Angehörigen und Freunden des Opfers Bestürzung und Empörung aus. Noch am Abend nach der Urteilsverkündung nahmen über 200 Menschen an einer Kundgebung auf dem Berliner Hermannplatz teil. Als sich nach Redebeiträgen, die auf die ebenfalls von Polizisten getöteten Halim Dener und Tennessee Eisenberg hinwiesen, ein spontaner Demonstrationszug bildete, wurde dieser bereits nach wenigen hundert Metern von einem Großaufgebot der Bereitschaftspolizei gestoppt. Dabei wurden Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt und mindestens fünf Personen vorläufig festgenommen, darunter Angehörige von Dennis J. und Journalist_innen.
Polizeigewalt – ein strukturelles Problem?
Der Fall Dennis J. ist kein bedauerlicher Einzelfall. Erst jüngst beschäftigte sich auch Amnesty International (AI) mit dem Thema Polizeigewalt in Deutschland. In ihrem im Juli 2010 unter dem Titel »Täter unbekannt« veröffentlichten Bericht dokumentiert AI Todesfälle in Gewahrsam oder infolge mutmaßlicher polizeilicher Gewaltanwendung sowie Fälle von mutmaßlicher Misshandlung und Gewaltanwendung durch die Polizei. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts gab es keine offiziellen Daten darüber, wie viele Menschen Anzeige wegen Misshandlung oder unverhältnismäßiger Gewaltanwendung der Polizei erstatteten. Erst seit dem 1. Januar 2009 sind die Staatsanwaltschaften dazu verpflichtet, über strafrechtliche Ermittlungen bei bestimmten von Polizisten während der Amtsausübung begangenen Straftaten wie bspw. vorsätzliche Tötung, Körperverletzung im Amt, Freiheitsberaubung oder Aussageerpressung Statistiken zu führen.
Nach Aussage des Berliner Justizministeriums wurde in Berlin im Jahre 2006 in 234 Fällen, 2007 in 278 Fällen und 2008 in 548 Fällen gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt ermittelt.1 Die Erfolgsrate der Polizei bei internen Untersuchungen ist jedoch auffallend gering. In Berlin kam es 2006 deswegen lediglich zu 21 und 2007 zu 13 Verurteilungen.2
Bereits 2004 dokumentierte AI in dem Bericht »Erneut im Fokus« Übergriffe durch Polizisten, die zum Teil tödlich endeten und bemängelte bereits damals, dass viele Menschenrechtsverletzungen und andere Straftaten durch Beamte nie aufgeklärt wurden. Auch eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2003 belegt, dass Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte häufiger ohne eine Gerichtsentscheidung eingestellt werden als Ermittlungsverfahren gegen andere Personen.3
So liegt beispielsweise die Einstellungsquote der Staatsanwaltschaften bei Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt über die Jahre gleichbleibend bei 95 Prozent, ein Wert, der ganz erheblich über dem Durchschnitt aller Strafverfahren liegt.4 Die Recherchen von AI machen deutlich, dass ernstzunehmende Vorwürfe gegen Polizisten nicht gründlich genug ermittelt werden. Problematisch dabei ist, dass auch solche Ermittlungen von der Polizei selbstständig durchgeführt werden. In einigen Fällen werden Ermittlungen erst sehr spät aufgenommen, in anderen werden nicht alle Beweise erhoben. Oft können sich die Beamten nicht mehr erinnern, halten, wie hier im Fall von Dennis J., Aussagen zurück oder ergreifen das Mittel der Falschaussage, um das Fehlverhalten von Kollegen zu decken. Oft steht es Aussage gegen Aussage.
AI fordert deshalb von den Behörden eine Kennzeichnungspflicht für alle Polizeibeamten, um so eine einfache Identifizierung bei der Ausübung ihrer gesetzlichen Pflichten zu gewährleisten, eine Video- und Audioüberwachung sowie das Einsetzen von besonders geschulten Beamten in Gewahrsamsbereichen, die Verbesserung der Fort- und Menschenrechtsbildung der Polizisten sowie die Information der Festgenommenen über Möglichkeiten zur Beschwerde oder Anzeigenerstattung. Die wichtigsten Empfehlungen von AI betreffen aber die internen Ermittlungen. So wird gefordert, dass allen Vorwürfen gegen Polizisten umfassend und unverzüglich nachgegangen wird und dass Untersuchungen von unabhängigen Kommissionen geführt werden, um zu verhindern, dass die ermittelnden Beamten aus der gleichen Einheit wie die Beschuldigten stammen.
Wie wichtig aber auch eine Kritik an der Verletzung humanitärer Standards und das Einfordern von Grundrechten sein mag, darf eine grundsätzliche Betrachtung eines Staatsorgans nicht ausgespart werden, dass originär die Funktion erfüllt, gesellschaftlich normabweichendes Verhalten zu sanktionieren und grundlegende Gesellschaftskritik zu verhindern. Aus linker Perspektive muss ein solches staatliches Instrument als Ganzes kritisiert werden und nicht einzelne Missstände innerhalb einer Behörde oder das Verhalten einzelner »schwarzer Schafe«. Sei es die Polizei, die Staatsanwaltschaft, das Gericht oder der Knast.
- 1www.amnestypolizei.de/kampagne/bericht.html
- 2AI, »Täter unbekannt«, S. 19f.
- 3Singelnstein, Tobias: Institutionalisierte Handlungsnormen bei den Staatsanwaltschaften im Umgang mit Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt gegenPolizeivollzugsbeamte, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2003, S. 1ff.
- 4Singelnstein, Tobias: Polizisten vor Gericht. Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 95 (1/2010), S. 55–62