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Organisiertes Erbrechen in Bremen

Christian Jakob
Einleitung

Thomas Röwekamp ist ein erfolgreicher Politiker. Mit 25 Jahren Landtagsabgeordneter, mit 36 Innensenator, mit 38 stellvertretender Bürgermeister von Bremen. Dass der CDUler sich sicherheitshalber auch noch zum Bankkaufmann ausbilden ließ und in eine Anwaltskanzlei einstieg, ist da kaum noch der Rede wert. Doch dass Röwekamps Karriere derart gradlinig verlief, gibt nicht nur Einblick in die Zielstrebigkeit des Berufspolitikers, sondern auch in das kleine Bundesland an der Weser, das sich so gerne seiner Liberalität rühmt.

Röwekamp hat den Beweis erbracht, dass man im hanseatischen Norden eine tödliche Brechmittelvergabe an einen afrikanischen Drogenhändler zu Zwecken der »Beweissicherung« als »gerechtfertigte Maßnahme« bezeichnen – und kurz darauf mit großer Mehrheit in das zweithöchste Amt des Landes gewählt werden kann.

Es ist die Rede vom Brechmitteltod des sierra-leonischen Asylbewerbers Laye-Alama Condé. Seit April dieses Jahres verhandelt das Landgericht Bremen wegen fahrlässiger Tötung gegen den Polizeiarzt Igor V., der die »gerechtfertigte Maßnahme« durchgeführt hatte und am 2. Weihnachtstag des Jahres 2005 dem gefesselten Condé den Brechsirup Ipecacuanha eingeflößt hatte. Stundenlang. Mit Gewalt und mit der Hilfe zweier Polizisten und, später, auch zweier Sanitäter. Er setzte die Maßnahme auch dann noch fort, als Condés Zustand zwischenzeitlich so kritisch geworden war, dass er einen Notarzt hinzurufen musste. Doch ob die Justiz das Rechtsverständnis von Thomas Röwekamp, der als Innensenator für die archaische Ermittlungspraxis verantwortlich war, zurückweisen wird, ist völlig offen.

Bis auf seine dramatischen letzten Stunden ist Laya Condés Leben nicht so präzise dokumentiert, wie das des ehrgeizigen Konservativen. Doch man darf annehmen, dass es auch in den Jahren zuvor nicht so geradlinig verlief. Seine Familie floh vor dem Bürgerkrieg in Sierra Leone in das Nachbarland Guinea. Condé sah dort keine Perspektive für sich und machte sich auf nach Europa. Irgendwie verschlug es ihn in das Bremer Ostertorviertel. Und an jenem zweiten Weihnachtsfeiertag, kurz vor Mitternacht, hielt Condé sich an der dortigen Sielwallkreuzung auf.

Diese ist ein Treffpunkt der Drogenszene und Afrikaner werden hier, vor allem nachts, häufig von der Polizei kontrolliert. Die Streifenwagenbesetzung, die Condé aufgreift, wird später angeben, dass Condé, der bis dahin weder als Dealer noch sonstwie strafrechtlich in Erscheinung getreten war, »verdächtig geschluckt« hatte. Den Polizisten reichte das. Sie brachten ihn in das Polizeipräsidium in der Vahr, fesselten Condé auf eine Pritsche und riefen den Polizeiarzt Igor V. Einen Dolmetscher, einen Richter oder einen Staatsanwalt riefen sie nicht. »Gefahr« sei »im Verzug« gewesen.

Das sah Condé wohl ähnlich. Er weigerte sich jedenfalls, den Brechsirup zu schlucken. Die Polizisten ließen sich davon nicht beirren. Sie wollten die »Exkorporation« um jeden Preis. Dass weder sie noch der Arzt V. Erfahrungen mit zwangsweiser Brechmittelvergabe hatten, störte sie nicht.

Das Experiment ging schief. Gegen ein Uhr sah V. sich gezwungen, ein Notarzt-Team zu rufen. Die beiden Sanitäter erinnerten sich bei der Gerichtsverhandlung an folgende Szene: Condé lag, mit Handschellen gefesselt, auf einer Liege. Nach der Brechsirupvergabe »zeigte er überhaupt gar keine Reaktion mehr«. Sein gemessener Blutsauerstoffwert sei kritisch gewesen, die Sanitäter konnten ihn jedoch wieder normalisieren. Doch obwohl Condés Zustand zwischenzeitlich lebensgefährlich gewesen war, nutzten V. und die Polizisten die Gelegenheit, ihre »Maßnahme« fortzusetzen.

Die beiden Sanitäter halfen ihnen dabei. Einer reichte V. Schüsseln mit Wasser, das dieser Condé über eine Nasensonde einflößte. Die Sonde, so berichten sie später, sei immer wieder herausgerutscht und habe nachgelegt werden müssen. Schließlich regte Condé sich nicht mehr. Dann habe V. Condés »Zäpfchen mit einer Pinzette stimuliert«, um weitere Würgereflexe zu provozieren. Aus Condés Mund sei ständig Flüssigkeit gelaufen. »Der ganze Boden war reichlich voller Wasser«, sagte ein Sanitäter. Condé selbst sei derartig durchnässt gewesen, dass die Elektroden zur Messung der Herzfrequenz kaum an seinem Körper haften blieben.

Am Ende habe Condé »Schaum vor dem Mund« gehabt. Seine Herzfrequenz rutschte »in den Keller«, zeitweise habe das Herz völlig zu schlagen aufgehört, seine Pupillen »deuteten auf einen schweren Hirnschaden hin«. Bei der Aktion kamen einige Kokainkügelchen zum Vorschein, die Condé offenbar zuvor verschluckt hatte.

Einer der beiden Polizisten sagte vor Gericht, er und sein Kollege hätten »angemessen und verhältnismäßig« entschieden. Dass man Condé Wasser per Nasensonde einspritzte, damit er seinen Mageninhalt restlos hervorwürgte, nannte der Drogenfahnder »trinken«.

Um drei Uhr morgens fällt Condé ins Koma und wird in das St.-Joseph-Krankenhaus eingeliefert. Die Diagnose des Notarztes: Ertrinken. Condés Lunge war voller Wasser gelaufen. Kurz darauf trat der Hirntod ein. Am 7. Januar wird Condé für tot erklärt. Während der Afrikaner im Koma liegt, lädt Radio Bremen den damaligen Innensenator Thomas Röwekamp zu der Regionalnachrichtensendung »buten un binnen« ins Studio ein. »In Bremen liegt ein Mensch in einem Krankenhaus. Er stirbt vermutlich, weil die Polizei ihn als Drogendealer überführen wollte. Was empfinden Sie dabei?« will der Moderator von ihm wissen. Röwekamps holt weit aus und sagt schließlich: »Ich würde in der Abwägung sagen, ich halte das für eine gerechtfertigte Maßnahme. Der Umstand, dass er jetzt gesundheitliche Folgen davon trägt, ist im wesentlichen (...) wohl darauf zurückzuführen, dass er eine dieser Kapseln offensichtlich zerbissen und sich dadurch eine Vergiftung zugeführt hat.«

Er halte es für »völlig gerechtfertigt, mit unnachgiebiger Härte gegen solche Leute, die Drogen gewerbsmäßig verkaufen, vorzugehen und dann müssen sie eben halt auch in Kauf nehmen, dass sie ein Brechmittel verabreicht bekommen.« Für den Senator war die Sache klar: »Hätte er die Drogen nicht versucht vor uns zu verbergen, wäre ihm nichts weiter passiert. (...) Wir werden weiter mit der notwendigen Härte und Schärfe und mit Brechmitteleinsatz gegen gewerblichen Drogenhandel in Bremen vorgehen.«

Es sollte anders kommen. Nur zwei Wochen später verbot der Senat den zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln. Auch wenn Röwekamps Auftritt vielen Menschen in der Stadt lange im Gedächtnis blieb, tat dies seiner Karriere keinen Abbruch.

Anfang 2007 erhielt Condés Mutter 10.000 Euro – das Schmerzensgeld, welches Condé zugestanden hätte, wenn er überlebt hätte. Das hätte das Land ihm zahlen müssen, weil der Europäische Gerichtshof 2006 im Fall des Nigerianers Achidi John zwangsweise Brechmittelvergabe als Verstoß gegen das Folterverbot eingestuft hatte. Auch John war 2004 in Hamburg nach einer zwangsweisen Brechmittelvergabe gestorben. Das Geld für Condés Mutter zahlte der »Haftpflichtschadensausgleich der Deutschen Großstädte« eine Selbsthilfeeinrichtung mehrerer Kommunen.

Der Prozess gegen den Polizeiarzt V. ist derweil ins Stocken geraten. V.s Anwalt hatte kurz vor Ende der Beweisaufnahme einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter gestellt. Der Richter hatte Bremen wegen des Condés Tod in einer juristischen Fachzeitschrift »Hauptstadt des organisierten Erbrechens« genannt. Nachdem der Befangenheitsantrag Ende Juni abgelehnt wurde kündigte der Verteidiger Revision beim Bundesgerichtshof an. Gleichzeitig stellte er 22 neue Beweisanträge. Die eigentlich unmittelbar danach angesetzten Schlußplädoyers wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.

Röwekamps Nachfolger, der Sozialdemokrat Ulrich Mäurer, Anfang Mai ins Amt gekommen, setzte in derselben Zeit erste innenpolitische Akzente: Mit noch mehr Polizeipräsenz, »intensiven verdeckten Observationen« und mehr Platzverweisen will er die »bis zu 30 afrikanischen Kleindealer« im Ostertorviertel »für längere Zeit« inhaftieren – oder abschieben. Mäurer selbst nannte seine Initiative einen »Kampf gegen Windmühlen«, und auch die Polizei geht davon aus, dass sich der Drogenhandel mit den geschätzten 4.000 NachfragerInnen in Bremen »dauerhaft nicht unterbinden«, sondern höchsten mit hohem Personaleinsatz »eindämmen« lasse. Die Dealer würden sich »sofort neu formieren« oder auf andere Ort ausweichen. Bremens Polizeipräsident Eckhard Mordhorst nannte es ein Ziel »die Szene in Bewegung halten«. Denn auf die Ursachen des Drogenhandels »wollen wir erst gar nicht einsteigen«.



Christian Jakob ist Redakteur bei der tageszeitung (taz) in Bremen.