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Polizei und Rassismus – Wider der Legende bedauerlicher Einzelfälle

autor_innenkollektiv de[X]oppression
Einleitung

Ausgehend von der weit verbreiteten Legende bedauerlicher Einzelfälle in Bezug auf rassistische Polizeigewalt wollen wir in diesem Beitrag zeigen, dass es sich um ein strukturelles und nicht um ein individuelles Phänomen handelt. Im Zentrum steht dabei exemplarisch die Praxis des racial profiling.

Rassismus verstehen wir, angelehnt an  Birgit Rommelspacher, nicht als individuelle Vorurteile, sondern als eine Praxis, die etablierte Machtverhältnisse legitimiert und fortführt. Diese Praxis basiert auf der Theorie, dass Menschen aufgrund ihrer biologischen Merkmale einer bestimmten ›Rasse‹ zugehörig seien. So werden soziale und kulturelle Unterschiede als natürlich gewertet, der jeweiligen Gruppe zugeschrieben und als unveränderlich und vererbbar markiert.

Diese Konstruktionen von Gruppen, die als starr und mit anderen Gruppen unvereinbar dargestellt werden, ermöglichen deren Hierarchisierung nach bestimmten Wertigkeiten. Die Gruppen werden durch die bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse bestimmt und in Diskursen und Praxen verfestigt. Rassismus ist also ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem die Diskriminierung konstruierter Gruppen der Legitimation bestehender gesellschaftlicher Hierarchien dient.1 Von dieser Definition ausgehend sollen im Folgenden Grundlagen und Merkmale rassistischer Polizeipraxis vorgestellt werden.

Institutioneller Rassismus in der bundesdeutschen Polizei

Rassistische Polizeigewalt weist eine sehr große Bandbreite auf, die von selektiven Kontrollen, körperlichen, psychischen und sexuellen Misshandlungen bis hin zu Mord reicht. Die Wahrnehmung rassistischer Polizeigewalt in der Öffentlichkeit ist jedoch sehr gering. Nur wenige ›spektakuläre‹ Fälle werden von Medien und Politik aufgegriffen und gelangen damit an eine breite Öffentlichkeit. So z.B. im Fall von Oury Jalloh in Dessau 2005, der in Polizeigewahrsam in einer Zelle verbrannte, oder der Brechmitteleinsatz der Polizei in Bremen 2004, durch den Laye Condé starb.

In beiden Fällen wurde öffentlich jedoch weniger über die rassistische Motivation der Polizei diskutiert, es standen vielmehr die Fragen nach der Legitimität von Fixierungen in Zellen oder Brechmitteleinsätzen im Vordergrund. Solche brutalen Angriffe werden anschließend zumeist als Ausnahmen bezeichnet – als Versäumnisse oder Versagen einzelner Polizeibeamt_innen. Diese Legende der bedauerlichen Einzelfälle individualisiert rassistische Polizeigewalt. Gestützt wird sie, wenn z.B. die Ursachen für rassistisches Handeln bei den einzelnen Beamt_innen gesucht werden, indem individuelle Defizite wie Stress, Frustration oder Überarbeitung in den Fokus gestellt werden. Dadurch wird die strukturelle Ebene – bewusst oder unbewusst – ausgeblendet. Um dieser individualisierenden Theorie entgegenzuwirken, ist es umso wichtiger, die Normalitäten systematischer rassistischer Polizeipraxen zu betrachten.

Rassistische Polizeigewalt findet auch bei ›unspektakulären Fällen‹ nicht etwa außerhalb erlaubter polizeilicher Gewaltanwendung statt. Rassistische Polizeigewalt ist vor allem institutioneller Art – mit Methode und rechtlichen Rahmenbedingungen. Das lässt sich besonders bei den sogenannten verdachts- und ereignisunabhängigen Kontrollen und Schleierfahndungen beobachten. Mit dieser juristischen Legitimation werden rassistischen selektiven Kontrollen Tür und Tor geöffnet. Tagtäglich diskriminiert diese Praxis unzählige Menschen.

Verdachtsunabhängige Personenkontrollen

Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen werden zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten, unter unterschiedlichen Bedingungen durchgeführt, aber nicht ohne System. Die folgenden Beispiele können nur einen kleinen Einblick geben. Personenkontrollen gehören für viele Menschen, die die Polizei als Nicht-deutsch und Nicht-weiß2 kategorisiert, zum Alltag.

Bericht 1:

»Zweimal hatte ich schlimme Erlebnisse im letzten Jahr. Einmal in der Turmstraße in Berlin, vor einem Monat. Wir waren zu zweit und wurden wie Drogenhändler kontrolliert. Ich finde das schlimm, weil die Polizisten uns ausgesucht haben, nur weil wir schwarz sind. Sie waren gerade dabei, irgendwelche Leute zu kontrollieren. Als sie uns sahen, unterbrachen sie die Kontrolle der Weißen und kontrollierten uns. Die zweite Kontrolle war im Sommer. Wir waren im Zug auf dem Weg zum Heim in Luckenwalde. Sie haben direkt uns kontrolliert, obwohl der Zug voller Menschen war. Du stehst auf einem Bahnsteig und um dich herum viele, viele Leute, und sie kommen direkt auf dich zu und sagen: ›Guten Tag, Ihren Ausweis bitte‹. Sie kommen immer nur zu dir. Sie sagen immer ›Guten Tag‹. Am Bahnhof Zoo hatte ich mir gerade ein Ticket gekauft. Da kamen wieder zwei – ›Guten Tag‹ – auf mich zu, und ich hatte nur eine Fotokopie von meinem Ausweis dabei. Da haben sie mir die Hände auf den Rücken gefesselt und mich mit in die Bahnhofswache genommen, mich zwei Stunden lang festgehalten, fotografiert, Fingerabdrücke genommen, nach Drogen durchsucht.«3

Bericht 2:

»F. A. beobachtet zwei Polizeibeamte bei einer Personenkontrolle eines Mannes in der Hasenheide im Bezirk Neukölln. Er spricht die Polizeibeamten an und fragt sie, ob der Mann wegen seiner Hautfarbe überprüft worden sei. Das bejaht einer der Beamten und argumentiert, dass ›nur Schwarze (...) in der Hasenheide Drogen [verkaufen] würden‹.«4

Gesetzliche Grundlagen

Unterschiedliche gesetzliche Grundlagen ermöglichen es der Berliner Polizei, auch ohne konkreten Verdacht die Identität von Menschen festzustellen. An sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten, die einigen vielleicht noch als gefährliche Orte geläufig sind, darf die Berliner Polizei auch ohne konkreten Verdacht die Identität von sich dort aufhaltenden Personen feststellen (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 ASOG). Um einen solchen kriminalitätsbelasteten Ort festzulegen, erstellt die Polizei eine Prognose darüber, wie viele ›kriminelle Handlungen‹ sich wohl in Zukunft an einem Ort abspielen werden. Der große Spielraum, der sich hier für die Polizei öffnet, ist unübersehbar. Obwohl Polizeibeamt_innen an kriminalitätsbelasteten Orten besonders massive Eingriffsrechte haben, ist offiziell nicht bekannt, wo diese Orte sind.5  

Einige Printmedien veröffentlichen diese Informationen, wenn sie Zugang zu ihnen bekommen. Ein anderer Weg herauszufinden, wo ein kriminalitätsbelasteter Ort ist, ist die konkrete Situation der Kontrolle: Polizeibeamt_innen antworten auf die Frage, warum ein Mensch kontrolliert wird manchmal, dass er_sie sich an einem kriminalitätsbelasteten Ort aufhalte. In Berlin sind es meist große Plätze und Parks, die die Polizei als kriminalitätsbelastet einstuft. Laut der Berliner Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt ›KOP‹ (siehe AIB 88) sind mit hoher Wahrscheinlichkeit momentan bekannte kriminalitätsbelastete Orte die Hasenheide, der Görlitzer Park, der Hermannplatz, der Alexanderplatz, der Weinbergspark, der Breitscheidplatz und die Samariterstraße.

In Berlin existieren darüber hinaus noch weitere Vorschriften, die von der Polizei für selektive Kontrollen genutzt werden: Es ist der Polizei beispielsweise möglich, in einer Verkehrs- oder Versorgungsanlage oder -einrichtung, einem öffentlichen Verkehrsmittel, Amtsgebäude oder einem anderen besonders gefährdeten Objekt oder in dessen unmittelbarer Nähe sowie an polizeilich eingerichteten Kontrollstellen (unter bestimmten Voraussetzungen) verdachtsunabhängig Personen zu kontrollieren (§ 21 Abs. 2 Nr. 2, 3 ASOG).

Die sogenannte Schleierfahndung gestattet es der Bundespolizei, verdachtsunabhängige Personenkontrollen durchzuführen. Durch das Schengen-Abkommen und dem damit verbundenen Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten kann von einer Verlagerung der Grenzen ins Inland gesprochen werden. Als Zweck der Schleierfahndung wird die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität angegeben. Die Schleierfahndung ermöglicht Kontrollen im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern, ebenso auf sogenannten Transitstrecken und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs, zum Beispiel auf Bahnhöfen oder Flughäfen (§ 23 BpolG).

Ausgestaltung – die Praxis des racial profiling

Die oben aufgeführten Gesetzesgrundlagen dienen dazu, dass die Polizei juristische Grundlagen hat, um zunehmend Menschen zu kriminalisieren, die sie als Nicht-deutsch und Nicht-weiß kategorisiert. Die Personenkontrolle wird durchgeführt, um einen Verdacht hervorzubringen – es besteht ein Verdacht des Verdachts (ZAG 35). Somit kann von »verdachtsunabhängig« keine Rede sein.

Polizeiliche Kontrollen werden nicht total durchgeführt, d.h. es wird nicht die Identität aller Personen festgestellt, die sich an einem bestimmten Ort aufhalten. Die Selektion derer, die von Polizeibeamt_innen herausgegriffen werden, erfolgt im Rahmen einer rassistischen Praxis. Bei dieser Praxis handelt es sich um racial profiling. Davon kann gesprochen werden, wenn von diskursiv aufgeladenen Symbolen und Zuschreibungen auf ein bestimmtes Verhalten geschlossen wird. Hier werden also bestimmte Symbole als Hinweis für kriminelles Verhalten kategorisiert. Mit racial profiling kann demnach jegliche polizeiliche Maßnahme (Verdächtigung, Kontrolle, Arrestierung) bezeichnet werden, die aus der Vorstellung heraus geschieht, dass Menschen, denen eine bestimmte ›ethnische‹ Zugehörigkeit zugeschrieben wird, bestimmte Arten von Kriminalität eher begehen würden.

Diskurse um racial profiling sind in der BRD im Vergleich zu anderen europäischen Ländern oder den USA noch weitgehend marginal. In einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung zum Thema ›Bekämpfung von Rassismus bei der Polizei‹6 fragten Sevim Dagdelen, Ulla Jelpke und die Bundestagsfraktion DIE LINKE im Jahr 2008 u.a. nach der Praxis des racial profiling. Die Bundesregierung antwortete: »Der Begriff des ›racial profiling‹ ist aus den USA bekannt. (...) In der Bundesrepublik Deutschland verbietet sich eine solche Vorgehensweise schon auf Grund des Grundgesetzes und des rechtsstaatlichen Systems. Daher bedienen sich weder das Bundeskriminalamt (BKA) noch die Bundespolizei eines solchen Instruments.«7 Die Antwort scheint mit dem Motto »was es nicht geben darf, gibt es nicht« begründet zu sein. Unbeachtet bleiben nicht nur die Berichte der Betroffenen, sondern auch mehrere Studien, die racial profiling in der BRD belegen. 

Racial profiling bedingt institutionellen Rassismus

Bei der Anwendung des racial profiling handelt es sich um eingeschliffene Gewohnheiten der Polizist_innen, die sich nach etablierten Wertvorstellungen richten. Um nach der Definition von Rommelspacher von institutionellem Rassismus sprechen zu können, muss zusätzlich das Merkmal ›bewährte Handlungsmaxime‹ erfüllt sein.8  

Racial profiling muss sich also als Praxis im Polizeiapparat bewährt haben. Polizist_innen handeln bei verdachtsunabhängigen Kontrollen nicht nur in Übereinstimmung mit herrschenden Diskursen zur Migrationssteuerung, sondern lenken den Diskurs auch wesentlich mit, um das Bestehen des Apparats zu rechtfertigen bzw. auszuweiten. Den ›Erfolg‹, den Beamt_innen im Rahmen verdachtsunabhängiger Kontrollen und Schleierfahndungen verbuchen, sollen die Gesetze bestätigen und das Handeln der Polizei rechtfertigen. Die Konstruktion von Erfolgen kann mit einem Beispiel verdeutlicht werden: Die restriktiven Gesetze für Flüchtlinge im Asylverfahren oder mit Duldung sind ausschließlich ihnen auferlegt und können somit auch nur von ihnen ›gebrochen‹ werden. Beispielsweise kann ein Mensch nur unerlaubt ›seinen_ihren‹ Landkreis verlassen, wenn für ihn_sie die Residenzpflicht gilt.9 Führt nun die Polizei beispielsweise gezielt auf Bahnhöfen Personenkontrollen durch, können sich so ›Erfolge‹ einstellen, die wiederum die ›Effektivität‹ des racial profiling als Handlungsmaxime bestätigen.

In der polizeilichen Praxis werden also auf der Grundlage von racial profiling Gruppen von Menschen konstruiert und bestimmten Kriminalitätsformen zugeschrieben. Dabei handelt es sich nicht um bedauerliche Einzelfälle, sondern um institutionellen Rassismus.

Diese Praxis zeigt sich verpackt als »Wissenswertes zu einigen Kriminalitäts-Phänomenen«10 auf der Homepage der Berliner Polizei. Welches Wissen dort vermittelt wird, zeigt sich beispielsweise bei den Informationen über den angeblichen Zusammenhang von Kriminalitätsformen und Staatsangehörigkeiten: Unter der Überschrift »Finger weg vom Hütchenspiel«, warnt die Berliner Polizei vor Betrügern, die sie als Menschen aus Ex-Jugoslawien konstruiert, die ahnungslosen Berlinbesuchern das Geld aus der Tasche lockten.11

In ihrer Warnung vor Taschendieben behauptet die Berliner Polizei, dass bisher vor allem vier Tätergruppen in Erscheinung traten: »Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Personen aus dem nordafrikanischen Raum (Algerier), Personen aus Südamerika (Chilenen), Personen aus Osteuropa (meist so genannte ›rumänische Klaukinder‹).12 « Diese Zuschreibungen reproduzieren rassistische Stereotype. Demnach geht die Polizei davon aus, dass die ›Täter‹ durch phänotypische Merkmale erkennbar sein müssten. Würde sie dies nicht voraussetzen, so hätte die Darstellung des Zusammenhangs von Staatsangehörigkeit und Kriminalitätsform keinen Sinn.

Es liegt nahe, dass diese Annahme die Beamt_innen auch bei Personenkontrollen leitet. Indem sie sich an ihnen orientieren, tragen sie zu deren Reproduktion bei. Durch die Konzentration auf bestimmte Bereiche oder Personengruppen, in denen die Polizei nach Kriminalität fahndet, wird der Eindruck erweckt, dass es hier besonders viel Kriminalität gäbe. Der Kontrollfokus der Polizei ist demnach enorm wichtig für die öffentliche Wahrnehmung von Kriminalität und die Legitimation polizeilichen Vorgehens.

Handlungsperspektiven

Die Praxis des racial profiling muss auf mehreren Ebenen bekämpft werden. Auf öffentlicher Ebene ist es dringend notwendig, das Problem sichtbar zu machen und dafür zu sensibilisieren. Es bedarf also einer breiten Skandalisierung der Anwendung des racial profiling und der Tatsache, dass diese systematisch geschieht. Das kann jedoch nur sinnvoll erfolgen, wenn die eigene Perspektive und Position (z.B. Weißsein) kritisch hinterfragt und auch vermittelt wird. Denn nur im Umgang mit den eigenen rassistisch aufgeladenen Strukturen kann racial profiling verstanden und sinnvoll angegriffen werden, ohne selbst die Vorurteile und Diskriminierungspraktiken zu reproduzieren.

Auch individuelles Eingreifen ist dringend notwendig. Zeug_innen einer verdachtsunabhängigen Kontrolle oder polizeilicher Misshandlung sollten nach kurzer Rücksprache mit den Betroffenen dem Geschehen beiwohnen, die Polizist_innen nach ihren Gründen für die Kontrolle fragen und sich den Betroffenen als Zeug(e)_in anbieten. So kann auf individueller Ebene Druck auf die Beamt_innen ausgeübt werden, körperliche Angriffe mitunter vermieden und Solidarität mit Betroffenen hergestellt werden.