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Oury Jalloh oder die unendliche Geschichte eines Justizskandals

Einleitung

Nach 13 Jahren ist die Geschichte des Falls Oury Jalloh mehr als verworren. Wer in sie eintaucht, stellt fest: 1. Die Verwirrung gehört zur Nichtaufklärung wie die Bockwurst zu Deutschland. 2. Es geht nicht um den einen Skandal, es geht um eine Kette von Skandalen. Der größte ist, dass ein an Händen und Füßen gefesselter Mensch im Polizeigewahrsam stirbt. Über 13 Jahre und zwei Prozesse vergehen ohne Aufklärung. Verunmöglicht wird die Aufklärung durch Polizist_innen, die lügen und schweigen; eine Gesellschaft, die nicht nach den Todesumständen eines schwarzen Asylbewerbers fragt; eine Politik, die bewusst die Augen verschließt und einer Justiz, die die entscheidenden Fragen nicht stellt.

Foto: Christian Ditsch

Die jüngste Welle der Aufmerksamkeit begann im August 2016 mit dem von der Dessauer Staatsanwaltschaft angeordneten Brandversuch in Dippoldiswalde.  Im April 2017 kommt der Dessauer Staatsanwalt Bittmann zu einem für das bisherige Agieren der Justiz revolutionären Schluss: Es sei am wahrscheinlichsten, dass Oury Jalloh mit einer geringen Menge Brandbeschleuniger bespritzt wurde und das Feuer von dritter Hand gelegt worden war. Ein plausibles Tatmotiv könne hierbei sein, den Tod des Obdachlosen Mario Bichtemann 2002 und den Tod Hans-Jürgen Roses 1997 im bzw. kurz nach dem Gewahrsam im Dessauer Revier zu verdecken. „Oury Jalloh — das war Mord“ wird damit erstmals offiziell Verdacht der Justiz. Damit verwirft Bittmann die Hauptermittlungsthese, die auch er über zwölf Jahre vertrat und nach der alle Untersuchungen ausgerichtet wurden. Wenngleich es vor Dippoldiswalde schon Brandversuche gegeben hatte, war dieser der erste, der der Frage nachging, wie das Feuer in der Zelle entstanden ist. Dabei gab es frühzeitig Hinweise darauf, dass Oury Jalloh sich nicht selbst angezündet haben kann. Sie wurden immer wieder von der Oury-Jalloh-Initiative und der Familie Jalloh als Nebenklägerin vorgetragen. Die zentralen Fragen sind weder neu, noch beantwortet. Letztlich lassen sie sich in der einen Frage zusammenfassen: Was war auf dem Dessauer Polizeirevier los?

Es waren wenige engagierte Menschen, die immer wieder selbst Gutachten in Auftrag gaben und die Justiz zum Handeln zwangen. Sie wurden als Nestbeschmutzer, Verschwörungstheoretiker und linke Spinner diffamiert. Im Jahr 2012 wurde die jährliche Oury-Jalloh-Demonstration in Dessau von der Polizei rechtswidrig gestürmt, Transparente und Flugblätter wurden beschlagnahmt. Auslöser: der Schriftzug „Oury Jalloh — das war Mord“. Bis heute nimmt die Polizei diese Parole immer wieder zum Anlass, eskalierend einzugreifen.

Im April 2017 brach Bittmann also mit den bisher bekannten Handlungsmustern der Justiz. Dass es überhaupt ein Todesermittlungsverfahren gibt, ist abermals auf Druck von außen zurückzuführen. Dass der Brandverlauf ohne Brandbeschleuniger nicht zu erklären ist, ergab bereits ein von der Initiative in Auftrag gegebenes Gutachten aus dem Jahr 2013. Letztlich dürfte für die Staatsanwaltschaft Dessau eben jenes Gutachten ausschlaggebend gewesen sein, die Todesumstände Oury Jallohs erneut zu beleuchten. Nun also ging Bittmann ungeklärten Fragen offen nach. Kurze Zeit später war er nicht mehr für den Fall zuständig.  Mit seinen Erkenntnissen aus diversen Gutachten zum Brandversuch in Dippoldiswalde wandte er sich an die Bundesanwaltschaft mit der Bitte, ein Verfahren wegen des Verdachtes auf das Vorliegen eines Tötungsdeliktes zu führen. Doch diese lehnte ab. Das Verfahren ging zurück nach Sachsen-Anhalt, die Staatsanwaltschaft Dessau forderte beim Generalstaatsanwalt personelle Unterstützung an, um die notwendige Ermittlungsarbeit leisten zu können. Der entschied aber anders. Statt Personal nach Dessau zu schicken, entzog er Dessau das Verfahren und gab es im Juni 2017 an die Staatsanwaltschaft Halle. Diese kam bei Prüfung derselben Unterlagen zu einem gänzlich anderen Schluss als ihre Dessauer Kollegen und bereits im August verfasste der bearbeitende Staatsanwalt einen Vermerk, nach dem das Verfahren eingestellt werden sollte, weil kein Anfangsverdacht für eine Straftat vorläge.
Erneut war es ein Versuch, die unsägliche Skandalkette mit den üblichen Abwehrmustern für beendet zu erklären und erneut war es der Druck der Öffentlichkeit, der dies zumindest auf den Prüfstand stellte.

Die Brandgutachten wurden bis zuletzt als Geheimsache behandelt. Auf Fragen und Anträge der Nebenklage wurde nicht reagiert. Der plötzliche Wechsel der zuständigen Staatsanwaltschaft sorgte erneut für Fragen und Misstrauen.

Im September erfolgte eine Landtagsdebatte auf Antrag der LINKEN zum Fall Oury Jalloh. Justizministerin Keding (CDU) wies dabei jegliche Fragen zurück, da das Verfahren laufe und nicht aus den Akten berichtet werden dürfe. Die CDU sorgte sich darum, dass Polizist_innen unter Generalverdacht gestellt würden. Der ehemalige Polizist Mario Lehmann erklärte für die AfD, dass der eigentliche Punkt doch sei, dass Oury Jalloh gar nicht in Deutschland hätte sein dürfen und dass er dann ja auch nicht gestorben wäre. Bereits 2017 hatte die AfD am Rande der Oury-Jalloh -Demonstration in Dessau provoziert. Im Jahr 2018  initiierte die AfD eine Gegenkundgebung. André Poggenburg sprach von „politischer Leichenfledderei“ und wollte dem „linksautonomen Propagandaspuk“ ein Ende setzen. Tatsächlich wurde der 7. Januar 2018 zum Tag der größten und erfolgreichsten Oury-Jalloh-Demonstration, die Dessau je gesehen hat.

Indes agierten Justiz und Politik wie immer. Anträge auf Sondersitzung des zuständigen Rechtsausschusses wurden abgelehnt, und die Einschätzungen Bittmanns waren nach wie vor nicht öffentlich, bis es zu einer Befragung des Generalstaatsanwaltes von Sachsen-Anhalt, Jürgen Konrad kam. Dieser legte dar, dass die Befunde der Sachverständigen sehr widersprüchlich seien. Doch seien sich alle einig gewesen, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass sich Oury Jalloh selbst angezündet habe. Dass eine größere Menge Brandbeschleuniger im Spiel gewesen sei, sei hingegen ausgeschlossen. Es gäbe keinen Grund und keine Chance weiter zu ermitteln. Was er nicht sagte, wurde wenige Tage später durch einen Bericht des Magazins Monitor öffentlich: Der Inhalt des Vermerkes von Staatsanwalt Bittmann vom April 2017. Dass die Gutachter unisono von einer geringen Menge Brandbeschleuniger ausgingen. Dass sie alle es für wahrscheinlicher hielten, dass Oury Jalloh angezündet wurde, als dass er sich angezündet habe. Und dass Bittmann Polizisten als konkrete Tatverdächtige benannte.

Während im Landtag von Sachsen-Anhalt um die Notwendigkeit der Akteneinsicht und der Veröffentlichung der Brandgutachten gestritten wurde, kam die Justiz erneut in Erklärungsnot. Die Justizministerin wies schließlich an, dass der Fall erneut überprüft werden soll. Sie übertrug diese Aufgabe eben jenem Generalstaatsanwalt, der die entscheidenden Erkenntnisse der Gutachter verschwiegen hatte. Dass von eben jenem Generalstaatsanwalt Aufklärung oder auch nur der Wille dazu zu erwarten ist, darf bezweifelt werden.

Auf politischer Ebene steht die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss erneut im Raum. Die Grünen würden sich dem ‚nicht verschließen’, Die LINKE fordert ihn, kann ihn aber allein nicht einsetzen. Um einen solchen Ausschuss zu erzwingen braucht es 22 Abgeordnete. Das scheint mit Blick auf die Fraktionsgrößen (LINKE 16, SPD 11, Grüne 5) und die Tatsache, dass die CDU bereits mehrfach zugunsten von AfD-Anträgen mit der Koalitionsdisziplin des gemeinsamen Abstimmungsverhaltens  gebrochen hat, zumindest möglich.

Was der Untersuchungsausschuss tatsächlich zum Tod Oury Jallohs herausfinden kann, bleibt angesichts des bisherigen Aussageverhaltens potenziell zu Befragender freilich unklar. Anlässlich der Aussage des Generalbundesanwaltes zur angeblich nicht ersichtlichen Staatsgefährdung drängt sich die Frage auf, worin diese für Justiz und Politik im Fall Oury Jalloh eigentlich wirklich besteht: Darin, dass Polizisten einen Menschen, wahrscheinlich aus rassistischen Motiven, töteten, oder darin, dass das herauskommt?