Der Oury-Jalloh-Prozess und der »Scherbenhaufen« Dessau
Neonazi-Demos, von der Polizei zusammengeschlagene afrikanische Aktivisten, ein Messerangriff auf einen rechten Fußballer, Molotov-Cocktails, eine Rathausbesetzung, ein Innenminister, der die eigene Polizei kritisiert und ein Bürgermeister, der in seiner Stadt »einen Scherbenhaufen« sieht: Sieben Jahre nach dem Tod des Sierra Leoners Oury Jalloh ist die Lage in Dessau eskaliert.
Jalloh ist an Händen und Füßen gefesselt unter mysteriösen Umständen in einer Gewahrsamszelle des Dessauer Polizeireviers verbrannt (Vgl. AIB Nr. 86). Noch immer ist völlig unklar, was am Vormittag des 7. Januar 2005 dort geschehen ist. Und seit längerem zeichnet sich ab, dass auch der Revisionsprozess daran nichts ändern wird.
Am 45. Verhandlungstag, Anfang März 2012, schien es, als verhandele das Magdeburger Landgericht ein Terrorverfahren: Eine ganze Einheit schwarz gekleideter Wachleute mit schusssicheren Westen, Kampfanzügen und griffbereiten Tonfas drängt sich im Gerichtssaal, Zuschauer_innen müssen eine Sicherheitsschleuse passieren, ihre Ausweise werden fotokopiert. Auf der Bank der Nebenklage sitzt die Witwe des Toten. Sie hat den Kopf auf den Tisch gelegt und sich ein großes Tuch über den Kopf gezogen. Kurz zuvor war sie aus Guinea nach Deutschland gereist, um das Ende des Prozesses zu verfolgen. Ihr gegenüber auf der Anklagebank sitzt der Polizeibeamte Andreas S.. Er soll den Feueralarm mehrfach ignoriert und einmal sogar abgestellt haben, anstatt Jallohs Leben zu retten. Nach einem ersten Verfahren war er 2008 freigesprochen worden.
Schon früh am Morgen hatte die Polizei das Gelände rund um das Gerichtsgebäude abgesperrt. Einige Demonstrant_innen sind dennoch gekommen, sie haben eine Mahnwache aufgebaut. Seit Jahren beobachten sie den Prozess. Sie glauben, dass Jalloh von der Polizei getötet wurde. Zwei »Kontaktpolizisten« kommen herüber, fordern, dass die Anlage leiser gedreht wird. »Bei euch muss man aber laut sein. Als Jalloh Alarm geschlagen hat, habt ihr das auch nicht gehört«, hält ihnen ein Demonstrant entgegen.
Am Vortag hatte das Gericht versucht, den Prozess ohne Urteil zu beenden: Die Vorsitzende Richterin schlug vor, das Verfahren »unter Berücksichtigung der Verfahrensdauer« einzustellen – ganz so, als sei es dem Gericht und dem Angeklagten nicht zuzumuten, sich noch länger mit dem Fall befassen zu müssen. Die Nebenklage muss einer solchen Regelung nicht zustimmen. Die Staatsanwaltschaft schon, sie lehnte jedoch ab.
»Das Gericht hat bewiesen, dass es überhaupt nicht daran interessiert ist, aufzuklären, was wirklich in Dessau passiert ist,« sagt die Nebenklage-Anwältin Gabriele Heinecke. »Wir haben das Gefühl, dass wir hier die Hucke voll gelogen kriegen.« Besonders schwerwiegend sind die im Prozess offenbar gewordenen Widersprüche zu einer Zellenkontrolle, eine halbe Stunde vor Jallohs Feuertod. Die Polizisten Hans-Ulrich M. und Udo S. sollen noch um 11.30 Uhr die Zelle des Asylbewerbers durchsucht haben. Kollegen von ihnen hatten dies vor Gericht ausgesagt. M. und S. hatten Jalloh an jenem Morgen in der Dessauer Innenstadt festgenommen. Die Kontrolle streiten sie jedoch ab; sie wollen zu der Zeit auf Streife gewesen sein. Das elektronische Journal aber, das alle Vorgänge auf dem Polizeirevier erfasst, wurde gelöscht. Auch die Umstände, unter denen das Feuerzeug aufgefunden wurde, mit dem Jalloh sich selbst angezündet haben soll, lassen Prozessbeobachter_innen ratlos zurück. Es wurde nicht bei der ersten Durchsuchung der ausgebrannten Zelle entdeckt, sondern erst nachträglich in die Asservatenliste eingetragen – angeblich hatten die Beamten der Tatortsicherung es bei einer zweiten Inspektion der ausgebrannten Zelle entdeckt. Eben diese Inspektion wurde – so ist es Vorschrift – auf Video dokumentiert. Aber das Band ist weg. Das ist deshalb bedeutsam, weil Jalloh das Feuerzeug trotz der Fesselung aus seiner Hosentasche geholt haben soll, um durch ein Loch in dem feuerfesten Bezug die Matratze, auf der er fixiert war, anzuzünden. Darauf basiert die These der Staatsanwaltschaft.
Schließlich erklärte der Brandgutachter – in beiden Prozessen war es derselbe –, dass er von der Justiz nur den Auftrag bekommen habe, den Brandverlauf so zu rekonstruieren, als habe Jalloh sich selbst angezündet. »Der Zustand der Leiche ist so aber nicht zu erklären, das hat der Gutachter selbst eingeräumt«, sagt Heineckes Kollege, der Anwalt Philipp Napp. Das Gericht lehnte einen Antrag auf ein neues Brandgutachten ab. Die Anwält_innen stellten einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht, der jedoch am 12. März 2012 abgelehnt wird.
Die »Initiative Oury Jalloh«, die den Prozess seit Jahren beobachtet, sieht sich durch den Verlauf des Prozesses bestätigt: Sie glaubt, dass Jalloh ermordet wurde. Am 7. Januar 2012 hatte sie – wie seit 2006 jedes Jahr – in Dessau demonstriert. Schon im Vorfeld suchten Beamte Mouctar Bah, den Gründer der Initiative, auf und warnten ihn, den Slogan »Oury Jalloh – Das war Mord« auf der Kundgebung zu äußern. Zunächst versuchte die Polizei am Tag der Demo das Transparent mit dem Mord-Slogan gewaltsam zu entfernen. Am Ende wurden die Aktivist_innen provoziert und geschlagen. Als Bah erkennungsdienstlich behandelt werden sollte, wurde er von mehreren Polizisten zu Boden gerissen und bewusstlos geschlagen. Er musste mehrere Tage im Krankenhaus verbringen.
Zwei Tage später strafversetzte Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) den Leiter des Rechtsdezernats einer Polizeidirektion wegen der Angelegenheit. Seinen 6.600 Polizisten schrieb er einen Brief: Zwar verstehe er die emotionale Lage der Beamten, doch »in Deutschland werde – aus guten Gründen – das Recht der Meinungsfreiheit sehr hoch bewertet.« Kurz darauf nahm die Staatsanwaltschaft in Dessau Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt gegen Polizisten auf. Das »Mittel der Deeskalation« sei bei dem Polizeieinsatz »nicht hinreichend berücksichtigt worden.« Wenige Tage später warfen Unbekannte einen Brandsatz gegen eine Tür des Dessauer Polizeireviers. Auf eine Mauer in der Nähe sprühten sie den Schriftzug »Oury Jalloh, das war Mord«. Zudem legten sie so genannte Krähenfüße aus, um Polizeiautos an der Fahrt zu hindern.
Am selben Tag stach ein 30-jähriger Asylbewerber aus Senegal in Dessau einen Fußballspieler des Vereins ASG Vorwärts ein Messer in den Kopf. Der 29-jährige André Sch. konnte nur durch eine sofortige Notoperation gerettet werden. ASG Vorwärts gilt, ebenso wie Sch., als verstrickt in die rechte Szene. Die Tat hatte offenbar nichts mit dem Jalloh-Fall zu tun, der Senegalese soll psychisch krank sein. In den nächsten Tagen gab es gleich zwei Demonstrationen mit bis zu 400 Teilnehmenden, bei denen sich unter Sprechchören wie »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« und »Hier marschiert der nationale Widerstand« Neonazis mit rechten Hooligans mischten. Im Dessauer Stadtpark hatten drei Neonazis im Juni 2000 den Mosambikaner Alberto Adriano totgeprügelt. Die Initiative Oury Jalloh, die eigentlich am darauffolgenden Samstag erneut in Dessau demonstrieren wollte, sagte ihre Aktion ab.
Der parteilose Dessauer Oberbürgermeister Klemens Koschig gab ein Interview zur Lage in Dessau. »Wir waren schockiert und völlig überrascht über den Polizeieinsatz. Zurückgeblieben ist ein Scherbenhaufen«, sagte er. Er »leugne nicht, dass es auch bei uns Menschen mit rechtem Gedankengut gibt«, darunter auch »einige wenige Fans des Fußballvereins ASG Vorwärts«. Gleichzeitig sprach er im Zusammenhang mit dem Jalloh-Fall von einer »Eskalation der Gewalt auf bisher nicht für möglich gehaltene Art und Weise.« Und er warf »Links- oder Rechtsextremen – beispielsweise aus Berlin« vor, die »Situation auszunutzen und die Stadt Dessau-Roßlau verstärkt als Schauplatz zu wählen.«
Bald darauf bekam Koschig einen Brief von The Voice. »Wir haben uns ihre Stadt nicht einfach so oder rein zufällig als ›Demonstrations-Schauplatz‹ gewählt«, stand darin. In Dessau seien binnen fünf Jahren drei Menschen unter gewalttätigen Umständen gestorben, in zwei Fällen waren die Opfer Schwarze, zwei Todesfälle trugen sich im Polizeigewahrsam zu. »Doch die bürgerliche Empörung in Ihrer Stadt genau darüber hält sich in Grenzen.«