Kampagne gegen die Kriminalisierung von Migrant*innen
Mahtab Sabetara für die Kampagne gegen die Kriminalisierung von Migrant*innen (Gastbeitrag)H. Sabetara wurde in Griechenland zu 18 Jahren Haft verurteilt, weil er ein Auto mit Flüchtenden fuhr. Er ist einer von tausenden Menschen, die aktuell in Italien und Griechenland für ihre Migration kriminalisiert werden. Seine Tochter Mahtab Sabetara spricht hier über die Anklage ihres Vaters in Griechenland, stellvertretend für so viele Betroffene, die keine Stimme haben.
Für diejenigen, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen
Niemand möchte sein Heimatland verlassen, wenn es nicht zum Besseren ist. Wenn du in prekären Situationen, im Krieg oder in völliger Armut lebst. Wenn du nicht zur Universität gehen kannst, weil du einer religiösen Minderheit angehörst. Wenn du nicht nach draußen gehen kannst, weil du eine Trans-Person bist. Wenn du dir keine Wohnung leisten kannst, um im Alter von 30 Jahren endlich ohne deine acht Geschwister zu leben. Wenn du eine Frau bist und allein deshalb getötet werden kannst. Wenn du in Kriegsgebieten lebst und jeden Tag dem Tod ins Auge blickst. Mal ist es ein Fremder, dann ein Freund und am nächsten Tag die Familie. Du hast die Wahl: Entweder du erträgst den täglichen Terror oder verlässt das Land mit aller Kraft, die du hast. Oder du bleibst, und vielleicht ist die nächste Person kein Familienmitglied, sondern du selbst. Manchmal ist das Risiko, dass du auf dem Fluchtweg stirbst, geringer als wenn du bleibst.
Mein Vater (58) sitzt seit über 18 Monaten im Korrydalus-Gefängnis in Griechenland. Als er beschloss zu fliehen, war er 56. Er ist Witwer und hat zwei Töchter. Es ist unmöglich, im Iran unpolitisch zu sein, weil das Regime sich in jeden Bereich deines Lebens einmischt, auch in die persönlichsten Bereiche: was du anziehst, was du sagst, in wen du dich verliebst, welches Geschlecht die Person hat. Du musst dich entscheiden, ob du für ganz banale Handlungen ins Gefängnis gehen oder sogar hingerichtet werden willst. So hast du schließlich keine andere Wahl, als das Land zu verlassen.
Das islamische Regime im Iran hat einen sehr monopolistischen Ansatz in Bezug auf den Arbeitsmarkt. Mein Vater hatte ein Geschäft in der Software-Entwicklung. Nach einigen Jahren und nach dem Erfolg seines Geschäfts verlangte das Regime von ihm einen Anteil an seinem Eigentum. Als er das ablehnte, nahmen sie ihm sein Eigentum und die Genehmigung für sein Geschäft weg und drohten mit weiteren Maßnahmen. Obwohl er mehrere Versuche unternahm, erhielt er nie zurück, wofür er gearbeitet hatte. In den letzten Jahren sind die Probleme meines Vaters mit dem Regime immer schlimmer geworden, bis die Drohungen so weit gingen, dass wir in unserem eigenen Haus nicht mehr sicher waren. Meine Schwester und ich konnten mit einem Studentenvisum fliehen, aber mein Vater hatte keine Möglichkeit, das Land legal zu verlassen. Also beschloss er, zuerst in die Türkei zu gehen. Ein anderer Grund für diese Entscheidung war seine Krankheit. Ein paar Jahre zuvor wurde bei ihm Krebs entdeckt.
Nachfrage an Schmugglern
Wenn du nicht privilegiert genug bist, gibt es keine legalen Möglichkeiten, deine Heimat zu verlassen. Diejenigen, die fliehen, können oft auf keinem anderen Weg ausreisen. Klasse spielt eine Rolle. Geld eine größere. Geld wird auch später noch im Prozess der Flucht eine wichtige Rolle spielen. Eine restriktive Visums- und Migrationspolitik macht legale Migration unmöglich und führt so zu einer Nachfrage an Schmugglern. Der öffentliche Diskurs verschiebt sich und weist Geflüchteten und Schmugglern die Schuld zu, anstatt diejenigen kriminellen Regime zur Verantwortung zu ziehen, vor denen Migrant*innen fliehen. Schmuggler gelten nach dieser Logik als „Kriminelle”, welche Migrant*innen, die als unerwünscht definiert werden, nach Europa bringen. Grenzgewalt macht Migrant*innen abhängig von Schmugglern. Eine stärkere Grenzsicherung blockiert legale Kanäle für Migration und Asylanträge. So werden Migrant*innen sich noch mehr auf Schmuggler verlassen müssen, um Schutz vor der systematischen Grenzgewalt zu suchen. Schmuggel entsteht als Reaktion auf globale Ungleichheiten und ein extrem restriktives Migrationsregime.
Im Jahr 2015 beschloss die Europäische Kommission, die Bekämpfung von Schmuggel und internationaler Kriminalität zu priorisieren. Die Zahl der offiziell verzeichneten Todesfälle stieg im folgenden Jahr auf über 5.000, während die Dunkelziffer noch weit höher ist, was die Effektivität solcher Anti-Schmuggel-Ansätze stark in Frage stellt. Verschärfte EU-Gesetze wie die ‘Beihilfe zur illegalen Einreise’ führen dazu, dass Menschen direkt nach ihrer Ankunft in Europa verhaftet werden, ohne Wissen über die angeblichen Verbrechen, für die sie beschuldigt werden, und ohne Möglichkeit auf rechtliche Unterstützung.
Die zwiespältige Rolle von Schmugglern
In der Geschichte gab es viele Fälle, vom Zweiten Weltkrieg über den Kalten Krieg bis in die Gegenwart, in denen Schmuggler eine wichtige Rolle spielten und Menschen bei der Flucht vor autoritären faschistischen oder kommunistischen Regimen halfen. Diese Schmuggler, die Migrant*innen bei der Flucht über internationale Grenzen halfen, wurden eher als “humanitäre Helfer*innen” und nicht als „Kriminelle” verstanden.
Die europäische Anti-Schmuggel-Agenda definiert Schmuggler als eindeutig „schlecht” und simplifiziert so die gesellschaftliche Meinung über ihre komplexe Rolle im Migrationsprozess. Die Art und Weise, wie die EU Geflüchtete behandelt, variiert stark je nach Herkunftsland. Geflüchtete aus der Ukraine werden beispielsweise schnell und unbürokratisch aufgenommen und benötigen keine Schmuggler, während Migrant*innen aus anderen Ländern oft mit repressiven Maßnahmen und Abschottung konfrontiert und auf die Hilfe von Schmugglern angewiesen sind. Selbst unter den Geflüchteten aus der Ukraine werden Menschen ohne ukrainischen Pass oder People of Color oft anders behandelt.
Für diejenigen, die gezwungen sind, Schmuggler zu werden
Gewaltsame Grenzpolitik, fehlende finanzielle Mittel, Gewalt seitens der Schmuggler und plötzliche Erhöhungen der Transitgebühren sind Gründe dafür, dass einige Migrierende sich dem Schmuggel zuwenden oder als Helfende der Schmuggler (Fahrer*innen, Bootsführer*innen usw.) auf Migrationsrouten arbeiten. Diejenigen Geflüchteten, die am wenigsten privilegiert sind, sind diejenigen, die keine andere Wahl haben als unterwegs zu schmuggeln. Sie haben sich nicht von Anfang an entschlossen, Schmuggler*innen zu werden, sondern hatten entweder nicht genug Geld, um selbst zu zahlen, oder wurden dazu gezwungen und bedroht.
Mein Vater ging diesen Weg, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Als er mit einer Gruppe anderer Geflüchteter die Grenze von der Türkei nach Griechenland mit einem Schmuggler überquerte, wurde er aufgefordert, mehr Geld zu zahlen, als zuvor vereinbart worden war. Er hatte das Geld nicht bei sich und wurde stattdessen aufgefordert, mit vier Personen im Auto zu fahren. Er wollte zurück in die Türkei, doch der Schleuser drohte ihm mit dem Tod im Wald, falls er nicht gehorchte. So fuhr mein Vater das Auto nach Thessaloniki, in dem sieben statt vier Personen saßen, drei davon im Kofferraum. Er wurde von der Polizei verfolgt und verhaftet.
Ohne Gerichtsverfahren landete er im Gefängnis von Korrydalus, bis er ein Jahr später vor Gericht gestellt wurde. Die ganze Zeit über war er in Korrydalus inhaftiert. Sein Prozess wurde drei Mal verschoben. Das Urteil lautete 10 Jahre Haft für jede der vier Personen im Auto und mindestens 15 Jahre für die drei weiteren Personen im Kofferraum wegen Lebensgefahr. Wegen seiner Krankheit und der Anwesenheit von mir und meiner Schwester vor Gericht und unserer Zeugenaussage wurde die Haft auf 18 Jahre reduziert.
Die Anti-Schmuggel-Politik trifft direkt die verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft. Es trifft diejenigen Geflüchteten, die beispielsweise kein Studierenden- oder Arbeitsvisum erhalten können. Diejenigen, die während der Flucht nicht weiterkommen, die gezwungen werden, Dinge zu tun, von dessen Folgen sie keine Ahnung haben, und die am Ende verhaftet werden, ohne von jemandem gehört werden zu können. Die Anti-Schmuggel-Politik wirft den gesamten komplexen Diskurs über humanitäre Hilfe für Menschen aus außer- europäischen Ländern zurück und ersetzt ihn durch einen vereinfachten Diskurs über den Kampf gegen Schmuggel und Menschenhandel.
Ich habe das Privileg, die Stimme meines Vaters zu sein. Es gibt Hunderte von Menschen da draußen, die niemanden haben, der zu ihrem Gerichtsverfahren kommt, eine Zeugenaussage macht oder ihnen anwaltliche Hilfe besorgt. Es gibt junge Leute, die in griechischen Gefängnissen sitzen, weil sie ein Schiff mit Hunderten von Menschen vor dem Sinken bewahren wollten. Ohne Zugang zu einem gerechten Verfahren, abgestempelt als Kriminelle.