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Rassistisches Attentat auf kurdische Bewegung in Paris

Civaka Azad (Gastbeitrag)
Einleitung

Sieben Schüsse erschüttern knapp eine Woche vor dem Jahreswechsel die kurdische Welt. Sieben Schüsse im Zentrum von Paris, unserer Einschätzung nach initiiert vom türkischen Geheimdienst, abgefeuert von einem französischen Rassisten, direkt ins Herz der kurdischen Frauenbewegung.

Willem Malet tötete mehrere Kurd_innen in Paris bevor er überwältigt werden konnte.
(Bild: Screenshot: tf1info.fr)

Willem Malet tötete mehrere Kurd_innen in Paris bevor er überwältigt werden konnte.

Am 23. Dezembers 2022 macht sich der 69-jährige William Malet auf den Weg in die Rue d’Enghien im Zentrum von Paris. Sein Ziel: Das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya“. Dort zieht er eine Waffe und tötet mit seinem ersten Schuss Abdurrahman Kızıl. Ein weiterer Schuss trifft den Sänger Mîr Perwer (Mehmet Şirin Aydın), der dritte die Vertreterin der kurdischen Frauenbewegung in Frankreich Evîn Goyî (Emine Kara). Dann verlässt er das Kulturzentrum, dreht jedoch nach einigen Metern um. Sowohl Mîr Perwer als auch Evîn Goyî sind zu diesem Zeitpunkt schwer verletzt, aber noch am Leben. Mit einem vierten Schuss aus nächster Nähe tötet Malet nun Evîn Goyî und lässt Mîr Perwer zurück, der später seinen Verletzungen erliegt.

Danach wendet er sich dem kurdischen „Avesta-Café“ zu, dessen Besitzer im Vorstand des kurdischen Kulturzentrums ist. Weil er dort niemanden antrifft, geht er zu einem nahegelegenen kurdischen Friseurladen. Dort verletzt er drei weitere Personen durch drei Schüsse. Als seine Waffe klemmt, gelingt es den im Laden befindlichen Kurden Malet zu überwältigen und festzusetzen.

Schnell stellte sich heraus, dass der Anschlag nur durch Glück nicht zu einem noch größeren Massaker wurde. Denn eigentlich hätte zum Zeitpunkt des Angriffs ein Vorbereitungstreffen der „Kurdischen Frauenbewegung in Frankreich“ (TJK-F) vor der Demonstration anlässlich des zehnten Jahrestages der Ermordung von Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris stattfinden sollen mit rund 60 Teilnehmer*innen. Am Tag selbst war das Treffen aufgrund eines technischen Problems kurzfristig um eine Stunde verschoben worden.

Wer ist William Malet?

Malet ist ein französischer Rassist, der in einem Verhör nach der Tat die Frage nach seinem Motiv so beantwortete: „Ich wollte dort einen Anschlag verüben, weil die Kurden IS-Mitglieder gefangen genommen haben, anstatt sie im Kampf zu töten. Heute schicken sie jene Stück für Stück in unser Land zurück.

Seine rassistische Gesinnung hatte er nie versteckt. Auch seine Zuneigung zu Waffen war polizeilich bekannt, er besuchte regelmäßig den Schießstand eines Schützenvereins. 2017 wurde er wegen des Besitzes verbotener Waffen zu einer sechsmonatigen Haftstrafe und im Juni 2022 wegen bewaffneter Gewalttaten aus dem Jahr 2016 zu einer zwölfmonatigen Haftstrafe verurteilt. Noch während des Berufungsverfahrens in dieser Sache stürmte Malet im Dezember 2021 in Paris mit einem Schwert in der Hand in ein Camp sudanesischer Migrant*innen und verletzte zwei Menschen. Nachdem er fast ein Jahr lang wegen vorsätzlicher rassistischer Gewaltanwendung inhaftiert war, wurde er am 12. Dezember 2022 unter richterlicher Aufsicht mit der Auflage freigelassen, das Land nicht zu verlassen und keine Waffen zu tragen. Er soll also innerhalb der folgenden elf Tage sein Attentat geplant und seine Waffe besorgt haben.

Zentrale Fragen

Das ist einer der ersten Punkte, der viele Fragen aufwirft: Wie soll er innerhalb so kurzer Zeit alle Informationen besorgt und Vorkehrungen getroffen haben? Sind die Gerüchte, dass er mit türkischen Nationalisten und IS-Anhängern in Haft saß, wahr? Wieso wählte er ausgerechnet das Kulturhaus Ahmet Kaya am Tag des geplanten Treffens, das mehrere Kilometer von seinem Wohnort entfernt ist? Was waren seine Auswahlmechanismen und wer zeigte auf das Kulturhaus? Es gab Zeugen, die aussagten, dass er mit einem Auto zum Tatort gebracht worden sei. Wer saß am Steuer? In der Rue d’Enghien selbst gibt es etliche andere kurdische Läden und Zentren, die von Menschen mit Migrationshintergrund betrieben werden, wieso wählte er ausgerechnet diese drei kurdischen Läden?

Malet tötete im kurdischen Kulturzentrum Evîn Goyî, eine Frau, die als Kommandantin jahrelang den Kampf gegen den IS angeführt hat und die als Exekutivratsmitglied der „Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans“ (KCK) schwerlich ein „zufälliges“ Opfer gewesen sein kann. Zwischen dem „Avesta-Café“ und dem Friseurladen, in dem Malet überwältigt wurde, liegen knapp hundert Meter und weitere Läden, in denen sich Menschen befanden. Woher hatte Malet die Information, dass die Besitzer beider Läden eine aktive Rolle im kurdischen Kulturzentrum spielen? Wieso war die Polizei, obwohl die Polizeistation fußläufig 15 Minuten entfernt liegt, erst knapp 40 Minuten nach dem ersten Schuss am Tatort?

Parallelen zu 2013

Wie auch Ömer Güney, der Attentäter von 2013, wurde auch Malet nicht durch die Polizei festgesetzt, sondern von der kurdischen Community übergeben. Unmittelbar nach seiner Verhaftung gab er an psychisch krank zu sein. Die Ärzte befanden ihn daraufhin für haftunfähig und er wurde in eine polizeiinterne psychiatrische Klinik verlegt. Erst nach Protesten wurde er aufgrund des Einspruchs des Staatsanwalts ins Gefängnis überstellt, wo er seitdem auf seinen Prozess wartet. Die Ermittlungen bewegen sich seitdem kaum von der Stelle.

Auch der Attentäter von 2013 wartete monatelang auf seinen Prozess. Nachdem sich immer mehr Beweise gefunden hatten, dass Güney in direktem Austausch mit dem türkischen Geheimdienst (MIT) stand, wurde gespannt auf seine Aussage vor Gericht gewartet. Kurz vor Beginn der Verhandlung starb Güney unter mysteriösen Umständen. Die französischen Behörden haben nie offizielle Angaben zur Todesursache gemacht. Lediglich seine Anwälte gaben an, dass ihr Mandant an einer Lungeninfektion, die im Zusammenhang mit Vorerkrankungen stand, verschieden sei.

Ermittlungspannen

Zu einem Eklat kam es am 30. Dezember 2022, als bei einer Routinekontrolle der Polizei knapp 150 Meter vom kurdischen Kulturzentrum entfernt ein verdächtiges Auto entdeckt wurde. Im Auto befanden sich elektronische Geräte und Kabel. Bilder von der Vorrichtung lassen darauf schließen, dass es sich um einen IMSI-Catcher gehandelt haben könnte, mit dem Mobiltelefonverkehr und WLAN in der Umgebung abgefangen werden kann. Es könnte sich um Geheimdienstausrüstung gehandelt haben.

Die Polizei stufte die Vorrichtung als mögliche Bombe ein und sprengte sie. Kurz darauf erschien die Meldung, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt habe. Wie kann es sein, dass ein möglicherweise so entscheidender Beweis ohne Untersuchung gesprengt werden kann? Wessen Auto war das und wird dieser Vorfall mit in die Untersuchungen einbezogen? Auch einen Monat nach dem Attentat kamen neue Fragen auf. Denn genau so lange hatte es gedauert, bis die Staatsanwaltschaft die Wohnung von Malet genauer untersuchen ließ. Mögliche Spuren hätten bis dahin längst verwischt werden können.

Der lange Arm Erdogans

Dass es sich bei dem Attentat weder um eine zufällige Tat eines psychisch kranken Täters noch um einen Einzelfall handelt, ist offensichtlich. Zu präsent sind die Erfahrungen der letzten Jahre. Am 9. Januar 2013 waren Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez kaltblütig von einem Attentäter des MIT in Paris ermordet worden.

2017 konnte ein Anschlag – ausgeführt von einem ehemaligen türkischen Soldaten und mehreren mit dem türkischen Staat und dem MIT verwobenen Personen – auf Remzi Kartal und Zübeyir Aydar in letzter Sekunde verhindert werden. Auch hier war es die kurdische Bewegung selbst, die den Attentätern auf die Spur gekommen war.

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sagte wenige Tage nach dem Attentat vor der Kamera: „Tayyip Erdogan wird nicht nur die Terroristen in der Türkei neutralisieren, sondern alle Terroristen in der Welt.“ Alle Kurd*innen fallen in den Augen der türkischen Regierung in die Kategorie „terroristisch“.

Dass der französische Staat das Attentat von 2013 als „Staatsgeheimnis“ einstufte und der belgische Staat es im Fall von 2017 zuließ, dass die Täter in die Türkei flüchten konnten, bestätigt die Angst vieler, dass auch die europäischen Staaten keine schützende Hand über die kurdische Gesellschaft halten werden. Jede*r Aktivist*in ist sich der Gefahr bewusst. Der Arm von Erdogan ist lang.

Der Frage nach einem „terroristischen“ Hintergrund des Anschlags vom 23. Dezember wird dagegen nicht nachgegangen. Das Vertrauen der kurdischen Gesellschaft in den Staat ist so gut wie nicht mehr existent. Auch nach dem jüngsten Erdbeben hat sich wieder einmal mehr gezeigt, dass keine Hilfe von offizieller Stelle zu erwarten ist. Die Menschen vertrauen nur noch auf ihre eigene Stärke.

Welche Kraft in der Gesellschaft liegt, sehen wir in Nord- und Ostsyrien, wo seit über zehn Jahren die Revolution von Rojava trotz aller Embargos und Kriege wächst. Wir sehen es in Rojhelat und im Iran, wo seit Monaten die Aufstände gegen das Regime nicht abreißen, und wir sehen es auch hier in Europa, wo die Menschen nach dem Anschlag in Paris auf Selbstverteidigung in Form von Organisierung setzen.