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Die Pariser Vorstädte und die Ethnisierung des Sozialen

Bernard Schmid Paris (Gastbeitrag)
Einleitung

Man nehme ein Hochhaus- oder »Problemviertel« einer deutschen Großstadt wie Köln-Chorweiler oder das Märkische Viertel in Berlin. Man vergrößere es um das Hundertfache und projiziere es auf eine Fläche ein wenig größer als das Saarland, wobei man noch einige historische Stadtkerne sowie eine Anzahl von Reihenhaussiedlungen und einige inselartig versprengte Villenviertel dazwischenstreut. Auf diese Weise erhält man ein ungefähres Abbild von der Pariser Banlieue (Vorstadt- oder Trabantenstadtzone), die sich zusammen mit den angrenzenden urbanen Randzonen über immerhin sieben Départements (Bezirke) rund um Paris herum erstreckt. Andere Großstädte wie etwa Lyon kennen ähnliche Phänomene der Herausbildung einer Vorstadtzone wie Paris – während in Marseille vergleichbare Quartiere eher innerhalb der Stadt, in den Marseiller Nordbezirken, entstanden sind.

Bild: flickr.com/silvertje; Anne Helmond/CC BY-NC-ND 2.0

In diesen »vorstädtischen« Raum hinein wurden in den vergangenen Jahrzehnten alle BewohnerInnen abgeschoben, die in der Hauptstadt selbst keinen bezahlbaren Wohnraum fanden. Insbesondere während der Amtszeit von Jacques Chirac als Bürgermeister von Paris (1977 bis 1995) wurden ganze Bevölkerungsgruppen systematisch durch Stadterneuerungs-, Sanierungs- und Mietpolitik  in die Pariser Trabantenstadtzone abgedrängt.

Banlieues und Einwanderung

Seit über einem Jahrhundert ergie­ßen sich alle Bevölkerungsströme in Richtung der französischen »Metropole« größerenteils in diese Zone. Dort wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts die meisten verschmutzenden und stinkenden Industrien angesiedelt. Zunächst kamen die Lothringer, die aus dem 1871 vom deutschen Reich annektierten Gebiet flohen, sowie Bretonen und Bewohner des französischen Zentralmassivs. Sie wurden zu ihrer Zeit ebenso diskriminiert wie später Einwanderer aus den Kolonien oder der so genannten Dritten Welt: Die Lothringer etwa waren für viele ihrer damaligen Zeitgenossen einfach »boches« (ein Schimpfwort für Deutsche).

Es folgten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Einwanderer aus dem südeuropäischen Raum, in deren Auswanderungsmotiven sich oftmals Armutsgründe mit dem Zwang zur Flucht vor den Diktaturen Mussolinis, Francos oder Salazars mischten. Und schließlich erfolgten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg neue Einwanderungen aus dem arabisch-nordafrikanischen Raum sowie den afrikanischen Ex-Kolonien. Jede neue Generation von Immigranten wird diskriminiert und als »nicht integrierbar« behandelt, während i.d.R. die jeweils vorangegangene dagegen als »erfolgreich assimiliert« dargestellt wird.

Die Ethnisierung des Sozialen

Doch heute, wo mit dem Rückgang der traditionellen fordistischen Industrien in den Vorstädten statt rauchender Schlote oftmals eher Des­in­dustrialisierung und hohe Arbeitslosigkeit dominieren, sind die Banlieues zum Brennpunkt der sozialen Probleme des Landes geworden. Die Kombination von hohem Immigrantenanteil, Ghettoisierungstendenzen, so­zialer Perspektivlosigkeit und oft auch menschenfeindlicher Architektur wird vor diesem Hintergrund zum explosiven Cocktail, der Tendenzen zur rassistischen Segregation, zu Konflikten zwischen Bevölkerungsgruppen sowie eine oftmals ziellos sich Bahn brechende Gewalt nährt.

Dabei muss einer Legendenbildung entgegen getreten werden: Es gibt in den französischen Banlieues zwar gewisse Ghettoisierungstendenzen,  aber keine »ethnisch« strukturierten oder gar »ethnisch reinen« Zonen. Anders als beispielsweise in bestimmten Vierteln vieler US-Großstädte leben selten vorwiegend oder nur Menschen einer gemeinsamen nationalen oder »ethnischen« Herkunft auf einem Raum.

In den französischen Trabantenstädten ist die Segregation vor allem sozialer Natur: Es leben nicht systematisch »die Araber« oder »die Schwar­zen« in einem Segment der Banlieue zusammen, sondern es leben durchgängig Menschen mit gleichermaßen niedrigem Einkommen oder vergleichbaren Schwierigkeiten, wo­an­ders eine Wohnung zu bekommen, nahe beieinander. Allerdings haben viele Bewohner der Trabantenstädte oftmals selbst einen anderen Eindruck von der Wirklichkeit. Das hängt damit zusammen, dass Banlieue-Bewohner unterschiedlicher Herkunft oft ein anderes Verhältnis zum öffentlichen Raum haben: Die aus mediterranen oder afrikanischen Ländern sind es traditionell eher gewohnt, einen großen Teil ihrer Zeit »draußen«, außerhalb der eigenen vier Wände, zu verbringen,  etwa auf Straßen und Plät­zen. Da zumindest in der ersten Einwanderergeneration die Familien oft größer waren bzw. sind als unter gebürtigen Franzosen üblich, trägt das Platzproblem in den Wohnungen seinerseits zur Aufrechterhaltung solcher Verhaltensweisen bei. Bei vielen »weißen« BewohnerInnen der Banlieues, vor allem älteren oder durch die Kriminalitätsberichte verängstigten, erwächst daraus der Eindruck, nunmehr gegenüber Arabern und Schwarzen »in der Minderheit« zu sein, obwohl das gar nicht stimmt. Denn die »Europäer« halten sich einfach für einen deutlich größeren Teil der Zeit in ihren Wohnungen auf.

Sofern tatsächliche Straftaten oder (häufiger und stärker noch) die durch die Medien und andere Einflüsse erzeugte subjektive Kriminalitätsangst nun den Eindruck noch bestärken, »fehl am Platz« oder gar »in Gefahr« zu sein, kommt es zu Abwanderungstendenzen vor allem bei den »weißen« Bewohnern. Ihnen schließt sich oft mittelfristig eine migrantische Mittelschicht an, die sich nicht dem Risiko einer »Stigmatisierung« durch Verweilen in den verrufenen Zonen der Banlieue ausgesetzt sehen will. Wer es sich leisten kann und Chancen hat, woanders eine Wohnung zu erhalten, möchte fortgehen. Dadurch kommt es zu einer Tendenz zur sozialen und indirekt auch »ethnischen« Entmischung und über diese vermittelt zu einer Abwärtsspirale für die betroffenen Vorstädte oder Stadtteile (Hochhaussiedlungen etwa). Und die an solche »absteigenden« Quartiere angrenzenden Wohnviertel, vor allem wenn es sich etwa um  relativ »ruhige«  Reihenhausviertel handelt, re­agie­ren entsprechend mit Ablehnung und Angst. Dort hat auch die französische extreme Rechte ihre höchsten Wähleranteile: nicht in den besonders verrufenen Hochhaus-, sondern in den mittelbar oder unmittelbar an diese angrenzenden Siedlungen. Dort nehmen viele verängstigte Bewohner die sich abzeichnenden »Entmischungs«-Tendenzen durch das ideologische Prisma einer angeblichen »arabischen bzw. afrikanischen Invasion« wahr.

Ethnisierung und Selbstethnisierung

Die essentialistischen, ethnisierenden Projektionen auf die Banlieues und ihre Bewohner sind wirkungsmächtig. Neueren Datums sind Tendenzen zur Selbstidentifikation mit angeblichen natürlichen bzw. angestammten »Identitäten«, etwa einer nationalen Herkunft oder einer Religion, denen ein Teil der (jungen) Bewohner der Trabantenstädte unterliegt. So gibt es den Diskurs über die angeblichen »islamischen« Banlieues zwar schon seit 20 Jahren. Anfänglich war dies eine reine Projektion: Die Jugend der Trabantenstädte identifizierte sich keineswegs mit spezifisch »islamischen« Zielen, sondern forderte überwiegend schlicht gleiche Rechte wie ihre französischen Altersgenossen. So kam es 1983 zum ersten spektakulären Ausdruck dafür, dass politische Bewegung in die Immigrantenjugend gekommen war, die sich »nicht mehr wie unsere Eltern, die ohnehin an die Rückkehr ins Herkunftland dachten, in Frankreich alles gefallen lassen« wollte. Es handelte sich um den »Marsch für die Gleichheit« (la marche pour l´égalité), einen Fußmarsch über 2.000 Kilometer, der von Marseille über mehrere französische Städte bis nach Paris führte. Bei ihrer Ankunft in Paris wurden die Marschierer von 100.000 Menschen empfangen. Ihre Hauptforderung war, wie bereits der Name der Aktion verriet, die Gleichheit ihrer sozialen und rechtlichen Lebensbedingungen mit den Franzosen. Differenzialistische, essenzialistische oder identitätspolitische Anliegen hatten damals keine Konjunktur.

Das hat sich später in Teilbereichen geändert. Die zahllosen Enttäuschungen der Immigrantenjugend von einst und jetzt, vor allem auch gegenüber den (von 1981 bis 2002 mit einigen Unterbrechungen regierenden) Linksparteien als ehemaligen Hoffnungsträgern, und die zunehmende Auseinanderentwicklung der Lebensbedigungen haben zu einer gewissen Aufnahmebereitschaft für kulturalis­tisch-differenzialistische Strömungen geführt. Das gilt etwa für islamistische Organisationen oder Kleingruppen, die einen gewissen Zulauf erfahren, weil manche Jugendlichen glauben, es könne nur noch »Solidarität unter den eigenen Leuten, also unter Moslems« geben, während man von der französischen Gesellschaft nicht mehr viel zu erwarten habe. Insgesamt darf der Einfluss der islamistischen Strömungen in all ihren, ge­mäßigteren wie extremistischen, Varianten nicht überschätzt werden. Sie verfügen über einige tausend Sympathisanten, stellen aber keineswegs eine alles mitreißende Massenbewegung dar. Eine andere in »Identitätssuche« wurzelnde, besonders häss­liche Erscheinungsweise sind die in den Jahren seit 2000 verzeichneten Übergriffe auf jüdische Personen, die es in einigen Banlieues gegeben hat. Die dort lebenden Juden und Jüdinnen sind oft selbst, wie ihre »arabischen« Nachbarn, nach der Entkolonisierung aus Nordafrika zugewandert,  dorther stammen etwa 60 Prozent der heute in Frankreich lebenden Juden.

Der Eindruck, sie verfügten über nicht unbedeutenden Einfluss, rührt weniger von ihrer eigenen Stärke denn von der Schwäche der meisten anderen gesellschaftlich-politischen Strömungen in den ghettoisierten Trabantenstädten her: Überwiegend herrscht dort ein politisch-ideologisches Vakuum, u.a. weil die Arbeiterbewegung (aufgrund von Desindustrialisierung und hoher Arbeitslosigkeit) ihre einstige integrative Wirkung auf die junge Generation nicht mehr ausüben kann und auch aufgrund der verbreiteten Anonymität in den Hochhaussiedlungen. Der gesellschaftliche Horizont für viele der jungen Bewohner der Trabantenstädte besteht im Wesentlichen im Zugang zu Markenklamotten und Sportartikeln, also zu Konsumgütern, die einen gewissen sozialen Status in ihrer Umgebung versprechen.

Die verbreitete Kleinkriminalität oder Teilnahme an der »Parallelökonomie« (Drogen usw.) erklärt sich größtenteils aus dem Widerspruch zwischen diesen in Banlieues ganz besonders verbreiteten »Wertvorstellungen« und dem Mangel an finanziellen Mitteln, um sich die entsprechenden Konsumartikel zu beschaffen. Wer den Zu­gang zur glitzernden Konsumwelt nicht schafft und aus der Arbeitswelt ausgegrenzt bleibt, behilft sich dann mitunter mit risikoreichen, aber starke Emotionen verschaffenden Betätigungen wie etwa »Rodeos« genannten Rennen mit zum kurzfristigen Ge­brauch aufgebrochenen Autos. Die oft brutalen Reaktionen der staatlichen Ordnungskräfte auf solche Verhaltensweisen erklären eine gewisse Zahl von alle paar Monate zu verzeichnenden Todesfällen bei Verhaftungen oder Fluchtversuchen. Solche Todesfälle von Jugendlichen der Trabantenstädten führen dann noch am ehesten zu kollektiven gesellschaftlichen Reaktionen der Bewohner, deren Wut sich dann für einige Tage gegen Sicherheitskräfte und Staatssymbole entlädt.