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Iuventa: Freispruch in Trapani!

Solidarity And Resistance iuventa-crew (Gastbeitrag)
Einleitung

Nach einer siebenjährigen Odyssee endet das längste, teuerste und umfangreichste Strafverfahren gegen Seenotrettungsorganisationen in Italien. Am 19. April 2024 - nach über fünf Jahren strafrechtlicher Ermittlungen und weiteren zwei Jahren Vorverhandlung kam der Richter zu dem Schluss: „Der Sachverhalt stellt kein Verbrechen dar“.

Iuventa

Mit dem „Sachverhalt“ meint der Richter die Rettungsaktionen der IUVENTA-Crew und deren Kolleg*innen anderer SAR (search and rescue) Organisationen in den Jahren 2016 und 2017. In diesem Zeitraum war die Crew des Schiffes IUVENTA daran beteiligt, mehr als 20.000 Menschen bei der Flucht aus Libyen zu unterstützen, indem sie die Menschen von seeuntauglichen Booten bargen und dafür zu sorgten, dass sie in einen sicheren Hafen gebracht wurden.

Mit anderen Worten: Der Richter stellte fest, dass alle das getan haben, was sie tun sollten: die italienische Seenotrettungsleitstelle koordinierte, das Rettungsschiff IUVENTA rettete, die Schiffe von „Safe the Children“ und „Ärzte ohne Grenzen“ übernahmen die Menschen und brachten sie in einen italienischen Hafen. Basta!

Der Versuch der italienischen Strafverfolgungsbehörden, die Rettungsaktionen der IUVENTA-Crew als „mit Schmugglernetzwerken abgesprochene Übergaben zum Zweck der ’Beihilfe zu unerlaubten Einreise’ von Menschen nach Italien“ umzulabeln scheiterte genauso wie der Versuch eine organisationsübergreifende „Verschwörung zu kriminellen Handlungen“ nachzuweisen. In über 40 Verhandlungstagen im sizilianischen Trapani zerbröselte der „große Schlag gegen die Meerestaxis“. Was übrig bleibt ist die Erkenntnis, dass der Fall auf schlampige Ermittlungen, fehlerhafte, wenn nicht gar manipulierte, Ermittlungsakten und völlig unzuverlässigen Zeug*innen aufgebaut war.

Auch wenn das Verfahren wegen der angeblichen „Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Angeklagten“ und der „Achtung der Unschuldsvermutung“ hinter verschlossenen Türen stattfand, stand es seit der filmreif-inszenierten Beschlagnahme der IUVENTA im August 2017 im Mittelpunkt der politischen Debatte. 

Wie so oft in politischen Strafverfahren standen wir als Angeklagte einer Beweislast­umkehr gegenüber. Wir mussten uns nicht so sehr um die mehr als fragwürdigen (und zum Teil völlig haltlosen) Anschuldigungen und angeblichen Beweise sorgen. Viel wirkungsmächtiger und gefährlicher waren die Vorverurteilung und die politische Instrumentalisierung. Mit Hilfe unseres Anwaltsteams – und einer jahrelangen stabilen finanziellen sowie politischen Unterstützung von zahllosen Genoss*innen und Unterstützer*innen – konnten wir die Ereignisse der Rettungen lückenlos rekonstruieren und ließen keinen Raum für Spekulationen oder fadenscheinige Behauptungen. Der Richter fasste das in seiner Begründung zum Urteil wie folgt zusammen: „Die vorgelegten Beweise sprechen in absoluter Klarheit und Vollständigkeit dafür, dass die den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten nicht vorliegen.“

Was bleibt nach einem solchen Prozess?

Vor allem die Wut und Trauer über die Konsequenzen der Beschlagnahmung der IUVENTA. Dies war nicht nur ein Paradigmenwechsel, der zu einem immer härteren Durchgreifen gegen die zivile Seenotrettung führte. Er hatte schreckliche und tödliche Folgen für diejenigen tausenden von Menschen, die auf dem Seeweg nach Europa waren und denen das Recht auf Rettung und Zugang zu einem sicheren Hafen verwehrt wurde. Die IUVENTA, wäre sie nicht 2017 beschlagnahmt worden, hätte in den letzten Jahren einen wichtigen Beitrag zur Rettung dieser Menschen leisten können. Wir werden dies niemals vergeben oder vergessen!

Ja! Wir haben einem Freispruch erreicht und die Strafermittlung, die die Grenzen der Vernunft, wenn nicht gar der Rechtmäßigkeit weit überschritten haben, ans Licht gebracht. Eine Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft übernahm die Ermittlungen und gab weit über drei Millionen Euro aus, um fünf verschiedene Ermittlungsbehörden, unter anderem eine Spezialeinheit zur Bekämpfung von „organisiertem Verbrechen“, gegen Seenotrettungsaktivist*innen einzusetzen. Sie verwanzten drei Schiffe, hörten über 40 Telefone ab und schleusten „Undercover-Bullen“ ein.

Das alles erscheint nun zwar in einem unrühmlichen Licht. Was wir aber trotz all der juristisch erfolgreichen Anstrengungen und kraftvollen politischen Kampagnen nicht verhindern konnten: dieses Verfahren hat der Festung Europa einen großen Dienst erwiesen. Es galt als Blaupause sowie als Rechtfertigung für die Diffamierung solidarischen Verhaltens und bereitet den Weg für weiteres hartes Vorgehen gegen die zivile Seenotrettung. 

Für fast alle Protagonist*innen dieser Operation gegen die „Taxis der Meere“ gibt es keine Konsequenzen, sondern nur lukrative Posten. Dieser Mangel an Rechenschaftspflicht und Verantwortungsübernahme ist unerträglich und somit bleibt auch der Ausgang dieses Strafprozesses weit hinter tatsächlicher Gerechtigkeit zurück.

Ja! Wir sind wirklich erleichtert über das Ergebnis und den Abschluss des Prozesses! Die Entscheidung ermöglicht es uns, unsere Kräfte wieder auf die Lösung dringender Probleme zu konzentrieren. Wir sind dankbar für das Engagement, die Leidenschaft und den immensen Einsatz von Zeit und Energie unserer wunderbaren Genossen*innen. Sie haben mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung geholfen, vieles richtig zu machen und nicht die Perspektive zu verlieren.

Wir wollen hier an dieser Stelle betonen, wie wichtig es gerade in politischen (Straf-)Verfahren ist, ein starkes und aktives Unterstützer*innenumfeld zu haben. Nur mit ihrer Hilfe konnten wir über die Argumente hinausgehen, die vermeintlich für das Gericht und die Öffentlichkeit am schmackhaftesten erscheinen und daher wahrscheinlich am ehesten zu unserem Freispruch hätten führen würden. Ihre unterstützenden und kritischen Diskussionen erinnerten uns stets daran, dass es um mehr geht als um uns vier Angeklagte, dass es um mehr geht als um ein einzelnes Rettungsschiff.

Sie haben zusätzlich noch eine enorme Menge an Care-Arbeit geleistet – eine Anstrengung, die allzu oft unsichtbar und nicht wertgeschätzt bleibt, obwohl sie doch so grundlegend wichtig ist, und ohne die wir viel kaputter aus diesem Verfahren kommen würden. Der Beitrag unserer Genoss*innen und Kompliz*innen war von unschätzbarem Wert, und wir wissen ihre ungebrochenen Unterstützung zu schätzen. „Bildet Banden“ - dieser Slogan hat in den letzten Jahren für uns eine neue Bedeutung erlangt.

Aber! Wir haben weiterhin Wut im Wanst! Die Bedingungen und Realitäten an den europäischen Grenzen haben sich kein Stück geändert. Ausgehend von unserer Perspektive - von den Außengrenzen der EU, vom Meer und den Landgrenzen – zeigt sich deutlich: Rassismus und Neofaschismus sind keine Reaktion auf (angeblich zu) offene Grenzen sondern eine Fortsetzung geschlossener Grenzen im Inneren der Gesellschaft. 

Und jedes Mal, wenn wir als No-Border-Aktivist*innen über unseren eigenen (seenotrettungsspezifischen) Teller­rand hinausschauen, schlägt uns der immer weiter voranschreitende autoritäre Umbau der Gesellschaft ins Gesicht. Zu feiern gibt es in diesen Tagen ohnehin kaum etwas. Denn die universelle Geltung der Menschenrechte FÜR ALLE, das Recht eines jeden Menschen, Rechte zu haben, wird in einem unerträglichen Ausmaß demontiert und plattgemacht - von Gaza über Sudan bis Rojava.

Aber Ja! Und vielleicht gerade in solch grausamen Zeiten und immer weiter schrumpfenden Möglichkeitsräumen für Solidarität und Widerstand - ein wenig Raum (zurück) zu erobern kann nicht nur Hoffnung und Erleichterung bringen, sondern auch Sand im Getriebe sein.
Wir sind der Überzeugung, dass wir nicht die letzten sein werden, dass wir auf den Erfolgen anderer aufbauen können, dass wir voneinander lernen können - dass wir uns trotz der Repressionsmaschinerie nicht einschüchtern lassen und zurückschlagen können.

Was ist die Bedeutung dieses juristischen Erfolges?

Für eine umfassende Analyse ist es noch zu früh. Der Richter hat gerade erst die fast 500-seitige Begründung für sein Urteil veröffentlicht. Die Staatsanwaltschaft könnte noch in Berufung gehen. Einige Punkte können jedoch schon jetzt festgehalten werden:

Aus juristischer Sicht ist die „Akte Trapani“ ein wichtiges historisches Dokument, um den Wandel in der italienischen Migrationspolitik zu rekonstruieren, der zwischen 2016 und 2017 stattfand und dessen Auswirkungen bis heute anhalten. Entlang der Geschichte der IUVENTA lässt sich zudem auch die jahrelange Denunziations-Kampagne gegen die zivile Flotte und andere Solidaritätsnetzwerke mit migrierenden Menschen nachvollziehen. Es lässt sich zeigen, dass diese Kampagnen von den Ermittlungsbehörden und Anti-Mafia-­Staatsanwält*innen selbst initiiert wurden, da diese mit allen Mitteln eine Erfolgsgeschichte im Kampf gegen die „grenzüberschreitende Kriminalität“ vorweisen wollten. Es lässt sich zeigen, wie Politiker aller Couleur diese Gelegenheit schamlos ausnutzten, indem sie rassistische Propaganda schürten und Menschen, die ihr Leben auf See riskieren und verlieren, als notwendige Verhandlungsmasse für ihre Wählerstimmen betrachteten. 

Und auch die sensationslüsternen Medien trugen ihren Teil dazu bei, indem sie auf der Jagd nach spektakulären Bildern und vermeintlichen „True-Crime-Stories“ waren, die ihnen mehr wert waren als seriöse Berichterstattung, Faktenüberprüfung und True-Life-Stories.

Und! Die Geschichte der IUVENTA hängt untrennbar mit der systematischen Kriminalisierung von Migration als solcher  zusammen – stellt letzteres doch überhaupt die Grundlage jeglicher Form der Kriminalisierung von Solidarität und Fluchthilfe dar.

Doch während die Aktionen der zivilen Seenotrettung viel Sichtbarkeit, Solidarität, Spenden und Unterstützung erfahren, gibt es tausende Menschen, hauptsächlich migrierende Menschen selbst, die mit den gleichen Anschuldigungen der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ zu hohen Haftstrafen verurteilt werden und in den europäischen Knästen verschwinden. Sie sind meist auf sich allein gestellt – ohne wohlwollende Berichterstattung, ohne eine wohlhabende Lobby und ohne Anschluss oder Teilhabe an einer breiten linken Bewegung.

Diese systematische und oft willkürliche Kriminalisierung – mit verehrenden Folgen für die Betroffenen – ist Teil der europäischen „Migrationspolitik“, welche entlang kapitalistischer Verwertungslogik Menschen aussortiert. Die einen sollen den Bedarf des Kapitals an billigen und für die (Re-)Produktion ausbeutbaren Arbeitskräften abdecken sowie als politische Verhandlungsmasse einer neoliberalen Austeritätspolitik dienen. Für die anderen soll die Bewegungsfreiheit so weit wie möglich eingeschränkt werden. 

Vor allem für letzteres wurde ein durchmilitarisiertes Grenzregimes geschaffen, das mit eigenen, völlig intransparenten und unüberprüfbaren, Rechtsräumen auf Abschreckung setzt und das Leid und den Tod von tausenden von Menschen dafür in Kauf nimmt.

Egal ob Kriminalisierung von „Solidarität“ oder „Migration“, die Betroffenen sehen sich einer Staatsgewalt gegenüber, die darauf abzielt, alles zu zerstören, was die Überwindung des EU-Grenzregimes ermöglicht – seien es solidarisch Strukturen einer linken Bewegung, seien es Formen migrantischer Selbstorganisierung innerhalb von Familien oder Communities oder eben die so genannten „Schmugglernetzwerke“ – ohne die es für die meisten gar keine Chance auf Bewegung und Selbstbestimmung geben würde.

Doch es gibt gravierende Unterschiede zwischen diesen Verfahren. Einer dieser Unterschiede ist auch gleichzeitig Kern des Problems: Die Geschichte der Migration ist eine Geschichte der Einschränkung der Bewegungsfreiheit für alle – außer für eine mehrheitlich weiße, relativ wohlhabenden Elite. Denjenigen, die den richtigen Pass haben, erscheint die Erde als glatte Oberfläche, deren Grenzen sie mühelos überschreiten können. Für Menschen mit dem „falschen“ Pass birgt jede Grenze die Gefahr von Gewalt, Inhaftierung, Ausbeutung oder Tod.

Und so kommt es, dass wir, die nachweislich mehr als 20.000 Menschen den Zugang zu einem „sicheren Hafen“ und somit die Einreise nach Europa ermöglichten; die sich organisiert haben um die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, keinen Tag in einem Gefängnis verbringen mussten. Unser Pass – unsere qua Geburt zugesprochene Verortung in dieser Welt- hat uns vorläufig davor bewahrt. Doch es gibt tausende Fälle in denen willkürliche und unrechtmäßige Inhaftierung von Menschen als die neue Normalität in europäischen Gerichten gilt.

Es gibt Fälle wie den von Homayoun Sabetara, der aus dem Iran fliehen musste und von der griechischen Polizei festgenommen wurde, nachdem er ein Auto mit weiteren sieben Insassen über die türkisch-griechische Grenze gefahren hatte. Er wurde wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ zu 18 Jahren Haft verurteilt, sitzt seit August 2021 im Gefängnis und wartet immer noch auf sein Berufungsverfahren.

Oder den Fall der „Pylos9“, die neun Überlebenden einer der tödlichsten Pushbackaktionen der griechischen Küstenwache mit über 600 Toten und Vermissten. Sie sitzen seit dem 14. Juni 2023, dem Tag dieses staatlichen Massakers, im Knast. Zwar wurde die Anklage gegen sie am 21. Mai 2024 fallengelassen, doch das bedeutet für sie nicht, dass sie als Überlebenden eines Schiffsbruchs, nach elf Monaten Isolierung und Inhaftierung, die benötigte psychologische Unterstützung und alle notwendigen Mittel für ihre Rückkehr in ein Leben in Freiheit zugesprochen bekommen. Stattdessen werden sie weiterhin in Haft gehalten, um ihren Aufenthaltsstatus zu überprüfen.

Ja! Jedes Schiff der zivilen Seenotrettung, was beschlagnahmt oder festgesetzt wird; jede Crew die sich wegen ihren solidarischen Aktionen jahrelang in einem Strafprozess verteidigen muss; jede Crew die während einer Rettungsaktion auf See von der Libyschen Küstenwache beschossen wird – all das sollte ein Aufschrei und Widerstand auslösen. Eine Geschichte wie die der IUVENTA darf sich nicht wiederholen.

Aber angesichts der unsäglichen Bedingungen von migrierenden Menschen, die Jahre ihres Lebens in europäischen Gefängnissen verbringen müssen, weil sie ein Boot oder ein Auto gesteuert haben, und damit sich und anderen Zugang zu ihrem Recht auf Asyl oder einfach auf die Perspektive von Selbstbestimmung und einem besseren Leben verhalfen – braucht es einen ebenso – wenn nicht noch lauteren und sichtbaren Aufschrei – bei jeder Verurteilung, bei jeder Gesetzesverschärfung.

Hier müssen wir, als Bewegung, als organisierte Menschen mit Zugang zu vielfältigen Ressourcen, noch mehr tun. Wir müssen uns mit den Angehörigen und mit den Freund*innen derer, die in den Knästen sitzen, organisieren. Bei der Solidarität mit inhaftierten Migrierenden und Geflüchteten ist es wie mit vielen anderen Kämpfen, die wir in unseren Bewegungen führen: Jedes gewonnene Gerichtsverfahren, jede kleine oder große positive Gesetzesveränderung, jeder gute Artikel in einer Zeitung oder Redebeitrag auf einer Demo, der Sichtbarkeit für diese Realität bringt und vor allem, die politische Macht und Handlungsfähigkeit von migrierenden Menschen unterstützt, statt sie zu negieren – das sind alles Gründe um weiterzumachen.

Und der unsägliche Status quo, der sich immer weiter verschärft – der ist es erst recht!

Einzelheiten zur Anklage, dem Verfahren und der Geschichte der IUVENTA findet ihr unter: https://iuventa-crew.org/