Seebrücken bauen für mehr Menschlichkeit
Maura Rafelt – SEEBRÜCKE (Gastbeitrag)Tausende Rechte marschieren mit vermummten Neonazi-Hooligans und brüllen „Wir sind das Volk!“. Hitlergrüße sind zu sehen. Feuerwerkskörper werden in Menschenmengen abgefeuert, Flaschen fliegen in Richtung Polizei. Es kommt zu Angriffen auf Geflüchtete, Gegendemonstrant_innen und Journalist_innen. Ausgerechnet die ehemalige Karl-Marx-Stadt Chemnitz hat sich der rechte Mob für die ausländerfeindliche Randale ausgesucht. Diese schockierenden Szenen sind am 1. September 2018 aus Sachsen in den Medien zu sehen und viele sind fassungslos. Es bildet sich jedoch schnell eine Gegendemonstration zum AfD- und „Pro Chemnitz“-Aufmarsch. Der rechten Hetze rufen sie „Kein Mensch ist illegal“ entgegen und auch die Farbe Orange der Bewegung SEEBRÜCKE ist in der Menge oft zu sehen.
Am nächsten Tag gibt es einige große SEEBRÜCKE Aktionen, bei denen kein Platz für den rechten Mob ist: In Hamburg demonstrieren mehr als 16.000 Menschen für Solidarität und mehr Menschlichkeit, in Köln findet eine bunte Kundgebung mit circa 2.500 Teilnehmenden unter dem Motto „Rheinbrücken sind Seebrücken“ statt und in vielen europäischen Städten gibt es Veranstaltungen der SEEBRÜCKE. Die Aktionen sind Teil der europaweiten SEEBRÜCKE Aktionswoche „Build Bridges not Walls“. Ein weiteres beeindruckendes Zeichen gegen Rassismus setzen am Montag darauf über 60.000 Menschen und namhafte Künstler wie „Kraftklub“, „Die Toten Hosen“, „Feine Sahne Fischfilet“ und „Materia“ in Chemnitz bei dem „Wir sind mehr“-Konzert.
Die SEEBRÜCKE ist eine deutschlandweit und inzwischen auch international aktive Bewegung, die von verschiedenen Privatpersonen sowie Initiativen und Organisationen der Zivilgesellschaft getragen wird. Die Bewegung steht für Solidarität mit Geflüchteten und den Seenotretter_innen auf dem Mittelmeer. Die Farbe der Bewegung ist Orange – die Farbe der Rettungswesten. Die Forderungen der SEEBRÜCKE sind sichere Fluchtwege und –häfen, die Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Asylpolitik in Europa – also kurz: die Bewegungsfreiheit für alle Menschen unabhängig davon, wo sie herkommen oder wo sie hinwollen. Damit positioniert sich die Bewegung bewusst als Gegenpol zu den immer deutlicher werdenden nationalistischen Abschottungstendenzen in Europa und der Ausbreitung von rechtem Gedankengut.
Dass es einen spürbaren Rechtsruck auch in Deutschland gibt, kann spätestens nach den Ereignissen in Chemnitz wohl niemand mehr leugnen. Die Umfragewerte der AfD steigen in vielen Bundesländern stetig an, die Wahlerfolge der rechtsorientierten Parteien sind schockierend. Auch der öffentliche Diskurs verschiebt sich immer weiter nach rechts. Der Innenminister macht zu seinem Geburtstag öffentlich zynische Witze über Abschiebungen in teilweise unsichere Herkunftsländer und hat außer einem schnell abgeklungenen Shitstorm keinerlei Konsequenzen zu befürchten. Zu den pogromartigen Ausschreitungen in Chemnitz äußert er sich hingegen kaum. Stattdessen melden sich einige AfD-PolitikerInnen zu Wort und beklatschen zum Teil die rassistischen DemonstrantInnen im Bundestag. Der Parteifunktionär Frohnmaier ging sogar so weit, die Wählerschaft per Twitter zu „Selbstjustiz“ aufzurufen. In Chemnitz führten RasistInnen eine Hetzjagd auf der offenen Straße auf Menschen durch, die für sie ausländisch aussahen.
Mit der rechten Hetze wächst jedoch auch die Empörung. Im letzten Jahr begegnete ein Großteil der Deutschen der Nachricht von brennenden Flüchtlingsheimen noch mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit. Nun ist das Maß voll. Das Gefühl, dass in Deutschland und an vielen Orten in der Welt etwas ganz falsch läuft, wird konkret. Es treibt die Menschen zu mehr Reaktion und endlich auch auf die Straße.
Genau an dieser Stelle setzt die Bewegung SEEBRÜCKE an. Die Bewegung wurde Ende Juni diesen Jahres als spontane Reaktion auf den Skandal um die Mission LIFELINE e.V. gegründet, deren Rettungsschiff das Einlaufen in die Häfen der umliegenden Mittelmeerstaaten trotz 234 unterversorgter und teilweise verletzter Geflüchteter an Bord tagelang verwehrt wurde. Das Schicksal der „Lifeline“ richtete das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die menschenunwürdige Situation auf dem Mittelmeer, wo allein seit Beginn des Jahres 2018 bereits über 1.500 Menschen starben (Quelle: IOM), während private Seenotrettungsorganisationen von Behörden und Regierungen der Anrainerstaaten zunehmend systematisch an der Rettung von Menschenleben gehindert werden. Das Schicksal der „Lifeline“ gab den Startschuss für eine lange überfällige Bewegung für mehr Menschlichkeit und gegen rechts.
Die SEEBRÜCKE steht für Solidarität mit Geflüchteten und den Seenotretter_innen vor Ort. Dabei ist die Idee, eine massenfähige Bewegung für mehr Menschlichkeit zu werden, der sich Menschen verschiedenster Orientierungen und Ansichten anschließen können. Aus diesem Grund sind die Forderungen der SEEBRÜCKE auch relativ allgemein gehalten, sodass sie für eine möglichst große Schnittmenge an Aktivist_innen und nicht organisierten Bürger_innen gleichermaßen anschlussfähig sind und bleiben. Es geht vorrangig um die Mobilisierung der vielen Menschen, die bis jetzt noch stumm geblieben sind, obwohl sie Ausländerfeindlichkeit und Rechtspopulismus eigentlich verurteilen. Dabei richtet sich die Bewegung vor allem an Menschen, die nicht in (politischen) Initiativen aktiv oder organisiert sind. Es scheint eine Vielzahl von Menschen zu geben, die zwar mit der aktuellen Situation unzufrieden sind, jedoch einfach nicht wissen, wie sie sich dagegen engagieren sollen. Hier bietet die SEEBRÜCKE mit ihrem Bewegungsformat eine geeignete Plattform.
Die Zahlen belegen den Erfolg: Seit Ende Juni 2018 sind bereits rund 100.000 Menschen in über 150 Städten deutschlandweit und darüber hinaus an vielen Orten in Europa bei Demonstrationen und verschiedensten Aktionen mit der SEEBRÜCKE auf die Straße gegangen. Allein bei dem von der SEEBRÜCKE initiierten Aktionstag „Day Orange“ am 4. August 2018 kamen rund 50 Veranstaltungen mit über 10.000 Teilnehmer_innen zusammen. Dem Aufruf der Bewegung zu einer europaweiten Aktionswoche unter dem Motto „Build Bridges not Walls“ vom 25. August 2018 bis zum 2. September 2018 folgten Initiativen in Deutschland sowie vielen weiteren europäischen Ländern und es gab verschiedene Großveranstaltungen. Circa 50.000 Menschen solidarisierten sich bei mehr als 50 Aktionen und Demonstration mit Geflüchteten und Retter_innen auf dem Mittelmeer. Unter anderem fanden Aktionen in Lesbos und Athen (Griechenland), vor dem Frontex-Hauptsitz in Warschau (Polen) und dem Gebäude der EU-Kommission in Brüssel (Belgien), sowie in Edinburgh (Großbritannien) und in Zürich (Schweiz) statt.
Diese beeindruckenden Zahlen konnten letzten Endes auch in den Medien nicht mehr ignoriert werden und es begann eine rege Berichterstattung über die Bewegung und die Missstände im Mittelmeerraum.
Bei den SEEBRÜCKE-Veranstaltungen konnten wir ein großes Engagement aus allen Teilen der Gesellschaft feststellen. Familien laufen bei Demonstrationen neben erfahrenen Fahnenschwenker_innen, und Rentner_innen engagieren sich bei Basteltreffen zusammen mit organisierten Student_innen und langjährigen Aktivist_innen. Die offene und dezentrale Struktur der Bewegung, bei der jede_r im Rahmen eigener Fähigkeiten sofort teilhaben und mitmachen kann, spricht scheinbar auch bis dato eher schwach politisierte Teile der Bevölkerung an.
Das Engagement für die SEEBRÜCKE und Erfolge wie „Wir sind mehr“ zeigen, dass es möglich ist, hunderttausende Menschen zu mobilisieren und die Politikresignation zu überwinden. Die Mehrheit der Gesellschaft muss aber noch viel lauter werden. Vielleicht kann dies also ein erfolgreicher Weg gegen rechts sein: eine offene und laute Bewegung für mehr Menschlichkeit.