Lesbos: Kriminalisierung von Flüchtlingshelfer*innen
Christian Jakob (Gastbeitrag)Seit sechs Jahren geht die Justiz auf der griechischen Insel Lesbos gegen 16 Flüchtlingshelfer*innen vor. Ende Januar 2024 errangen diese einen Etappensieg: Ein Berufungsgericht sprach die Angeklagten von den Vorwürfen der Dokumentenfälschung, der illegalen Nutzung von Funkfrequenzen und der „Spionage“ frei. Dabei handelt es sich um „Ordnungswidrigkeiten“ nach dem griechischen Strafgesetzbuch.
Es ist der bisher größte Verfahrenskomplex gegen Aktivist*innen wegen angeblicher Hilfe zur illegalen Einreise in Europa. Die Angeklagten hatten bis 2018 Migrant*nnen bei der Überfahrt über das Mittelmeer nach Lesbos geholfen. Weiter gegen sie anhängig ist noch ein Verfahren wegen „Verbrechen“, die den 16 sowie acht weiteren einstigen Helfer*innen vorgeworfen werden: Geldwäsche, die „Bildung einer kriminellen Organisation“ und die „Beihilfe zur illegalen Einreise“. Mit einer Verfahrenseröffnung wegen dieser Vorwürfe wird für 2025 gerechnet. Ihnen droht dafür teils jahrzehntelange Haft.
2018 wurden die insgesamt 24 Personen, darunter die syrische Leistungsschwimmerin Sarah Mardini und der Deutsch-Ire Sean Binder, verhaftet und kamen drei Monate in U-Haft. Alle waren auf Lesbos in Solidaritätsinitiativen aktiv.
Bei den ersten Verhandlungen im November 2022 und im Januar 2023 hatte das Gericht geurteilt, dass die Staatsanwaltschaft Verfahrensfehler begangen habe: Dokumente seien nicht für die Ausländer unter den Angeklagten übersetzt worden. Zudem seien die Spionagevorwürfe zu vage gewesen.
Die Staatsanwaltschaft hatte dagegen vor dem Obersten Gericht mit Erfolg Beschwerde eingelegt. Deshalb wurde das Verfahren im Januar 2024 vor einem Berufungsgericht gegen die 17 griechisch-sprachigen Angeklagten erneut geführt. Weil diese keine Übersetzung benötigten, lägen in ihren Fällen keine Verfahrensfehler vor, argumentierte die Staatsanwaltschaft. Doch bei der Berufungsverhandlung vermochten Polizeizeugen die Vorwürfe nicht zu erhärten: Die vernommenen Beamten konnten unter anderem nicht sagen, welche Funkfrequenzen die Angeklagten widerrechtlich benutzt haben sollen. Auch die Spionagevorwürfe konnten sie nicht substantiieren. So wies das Gericht die Strafanträge ab.
Die Angeklagten seien gleichwohl seit sechs Jahren „in einer juristischen Schwebe gehalten worden, was ihr Privatleben stark beeinträchtigt“, heißt es in einer Erklärung der Unterstützergruppe "Free Humanitarians". „Sie leben mit dem emotionalen Stress einer drohenden 20-jährigen Haftstrafe.“ Das erschwere ihnen, sich beruflich zu etablieren, gleichzeitig hätten sie hohe Gerichtskosten zu tragen. Die Kriminalisierung von Flüchtlingshelfer*innen sei „zweifellos zu einem Trend in der EU geworden“. Dies diene auch der Abschreckung von Rettungsaktionen im Mittelmeer, was tödliche Folgen habe, so "Free Humanitarians".
Die Angeklagten seien sehr froh über das Ausmaß an internationaler Solidarität, das sie erfahren hätten, sagte der Angeklagte Seán Binder. „Das hat Druck auf die Staatsanwaltschaft und das Gericht aufgebaut, die Fehler anzuerkennen, die in dem Verfahren gemacht worden sind. So gibt es heute zu einem gewissen Grad weniger Ungerechtigkeit. Was wir aber wollen ist Gerechtigkeit“, so Binder. Das Verfahren sei ein „gefährlicher Präzedenzfall für alle“.
Der heute 28-jährige Deutsch-Ire Binder hatte sich 2017 als Freiwilliger der griechischen NGO "International Emergency Response Centre" (ERC) angeschlossen. „Jede Nacht verlief gleich. Ich stand auf dem Felsen und schaute auf das Wasser,“ sagte Binder. 16 Kilometer sind es von dieser Stelle an der Südwestspitze von Lesbos bis zur türkischen Küste. „Die Schmugglerboote haben kein Licht, und niemand an Bord, der weiß, wie man navigiert. Aber wenn sie sich der Küste nähern, hört man Schreie.“ 433 Menschen starben 2018 in der Ägäis. Anders als im zentralen Mittelmeer, wo die Wege viel weiter sind, verunglückten viele bei der Ankunft an der Küste.
Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hatte die griechische Justiz mehrfach aufgefordert, alle Anklagen gegen Helfer*innen fallen zu lassen. „Diese Art von Verfahren ist besorgniserregend, weil es Handlungen kriminalisiert, die das Leben von Menschen retten, und einen gefährlichen Präzedenzfall schafft“, sagte Sprecherin Elizabeth Throssell. Menschenleben zu retten, dürfe niemals kriminalisiert werden.
Es handele sich um eine „ungerechte und unbegründete Strafverfolgung, bei der ihnen sehr schwere Vorwürfe gemacht werden, die im Falle eines Schuldspruchs zu 25 Jahren Gefängnis führen können“, schrieb die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" zu dem Fall. In einem Bericht des Europaparlaments war von der „größten Affäre zur Kriminalisierung von Solidarität in Europa“ die Rede.
In Griechenland werden derzeit etwa 50 humanitäre Helfer strafrechtlich verfolgt.Die 2019 gewählte konservative Regierung hat angekündigt, das Land für Flüchtlinge „weniger attraktiv“ zu machen – und will unter anderem eine 40 Kilometer lange Grenzmauer zur Türkei auf 80 Kilometer erweitern. Zudem setzt sie auf gewaltsame Zurückschiebungen von Flüchtlingen an den See- und Landgrenzen. NGOs sollen dabei möglichst ferngehalten werden.
Gleichzeitig geht die Justiz mit drakonischen Urteilen gegen Geflüchtete vor, denen Schlepperei vorgeworfen wird. Griechenland hat – wie auch andere EU-Staaten – seit 2015 die Strafmaße für Beihilfe zur illegalen Einreise immer weiter heraufgesetzt. Schleuser steuern deshalb Boote oder Kleinbusse nicht mehr selbst, stattdessen überlassen sie dies den Geflüchteten. Dadurch kommt es immer wieder zu teils tödlichen Unfällen, weil diese nicht wissen, wie man etwa ein Boot steuert. Den Geflüchteten ist weiter meist nicht klar, dass sie sich der Schlepperei schuldig machen – und welche Strafen drohen.
Die Gesetzgeber haben – nicht nur in Griechenland – das sogenannte Tatbestandsmerkmal der Gewinnerzielungsabsicht abgeschafft: Als Schlepper bestraft werden kann auch der, der kein Geld kassiert. Ankommende werden von der Polizei oft so lange verhört und häufig unter Druck gesetzt, bis sie einen der Mitreisenden etwa als Fahrer oder Steuermann benennen.
Eine Untersuchung der Nichtregierungsorganisation „Borderline Europe“ im Auftrag des grünen EU-Abgeordneten Erik Marquardt ergab, dass allein im Jahr 2022 mindestens 1.374 Personen wegen angeblichen Schmuggels verhaftet wurden. 81 ausgewertete Gerichtsprozesse an acht Orten in Griechenland dauerten im Durchschnitt nur 37 Minuten. In Verfahren mit Pflichtverteidiger*innen sind es sogar lediglich 17 Minuten.
Umso härter fielen aber die Strafen aus: Im Schnitt stand am Ende eine durchschnittliche Haftstrafe von 46 Jahren und eine Geldstrafe in Höhe von 332.209 Euro. Mehr als die Hälfte der Verurteilten soll eine Haftstrafe von 15 Jahren bis lebenslänglich verbüßen.
Im Mai 2022 wurden die Afghanen Kheiraldin A., Abdallah J. und Mohamad B. auf der Insel Syros zu 187 Jahren und 126 Jahren Gefängnis verurteilt. Die drei hatten an Heiligabend 2021 ein Schiff mit 80 Menschen in der Ägäis gesteuert. Nach einem Motorschaden kenterte es, 18 Menschen ertranken.
„Urteile werden auf der Grundlage unzureichender und fragwürdiger Beweise erlassen“, heißt es in dem Bericht. Häufig genüge die Aussage einer einzigen Person von Polizei oder Küstenwache. Die Beamt:innen, auf deren Aussagen sich die Anklagen stützten, erschienen demnach in 68 Prozent aller dokumentierten Fälle nicht einmal vor Gericht.
Der Studie zufolge befanden sich Ende Februar 2023 insgesamt 2.154 Personen in griechischen Gefängnissen, die des Schmuggels beschuldigt wurden – die zweitgrößte Gruppe nach Straftat. Fast 90 Prozent waren sogenannte Drittstaatsangehörige – also Menschen aus Nicht-EU-Staaten, die in der Regel selbst geflüchtet sind.
Die Verhaftung wegen Schmuggels sei „eine gängige Praxis der Strafverfolgungsbehörden“, heißt es in dem Bericht, wobei die tatsächliche Absicht der Beschuldigten kaum berücksichtigt wird. Geschmuggelte Personen selbst, darunter auch Asylsuchende, würden systematisch wegen Schmuggels verurteilt, weil sie – angeblich – das Boot oder das Auto gefahren oder dabei assistiert hätten.