Russland: Altbekannte Fakten, neue Skandale
Ewgeniy Kasakow (Gastbeitrag)
Der Faschismusbewunderer und geplante Namensgeber Iwan Alexandrowitsch Iljin
Iwan Iljin (1883-1954) ist nach Jahrzehnten der Vergessenheit in aller Munde. Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnet ihn als seinen „Lieblingsphilosophen“. Iljin ist wegen seiner Sympathie mit dem Faschismus und der daraus folgenden Positionierung während des Zweiten Weltkrieges umstritten. Zitat: „Was hat Hitler getan? Er hat den Prozess der Bolschewisierung in Deutschland aufgehalten und damit ganz Europa den größten Dienst erwiesen. Während Mussolini Italien führt und Hitler Deutschland führt, erhält die europäische Kultur einen Aufschub.“
Moskauer Hochschulskandal
Im August 2023 wurde die Gründung der „Politischen Hochschule Iwan Iljin“ an der „Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität“ (RGGU) in Moskau beschlossen. Als Direktor soll Alexander Dugin fungieren – einer der bekanntesten Theoretiker der russischen extremen Rechten. Die politische Laufbahn Dugins begann in einem esoterischen Zirkel Moskauer Künstler und führte ihn über die antisemitische „Pamjat“-Gesellschaft, "Nouvelle Droite"-Seminare und „Nationalbolschewistische Partei“ (NBP) in die primetime der staatlichen Fernsehkanälen der späten Putin-Zeit. Mit der „Iljin-Hochschule“ bekäme Dugin eine eigene akademische Institution.
Über deren Aufgaben wurde im Januar 2024 auf einer Konferenz mit dem Titel „Geistig-sittliche Erziehung an den Hochschulen“ in der Moskauer Erlöserkathederale Auskunft gegeben. Dugin und anwesende Vertreter der Russisch-orthodoxen Kirche beklagten, dass die Humanwissenschaften „antirussische“ und „westzentristische“ Inhalte verbreiten. Ziel des Projektes sei die Etablierung eines neuen »Paradigmas« der »russischen Zivilisation« an den Hochschulen. So sollten an der „Iljin-Hochschule“ die stellvertretenden Rektoren für den ideologischen Kampf vorbereitet werden.
Doch die politische Biographie des Namensgebers wurde Dugins Projekt beinah zum Verhängnis. Nicht nur die linke und liberale Opposition, sondern auch bekannte Putin-Unterstützer sind mit Kritik an Iljin und Dugin aufgetreten. Schließlich trat der Rektor der RGGU im Juni 2024 zurück, da er die Proteste nicht in den Griff bekam. Seine Klagen darüber, dass dahinter „ukrainische Strippenzieher“ stecken, halfen ihm nicht. Für das heutige Russland, wo Proteste schnell zerschlagen werden, ein erstaunliches Phänomen – freilich haben die Protestierenden einen Trumpf. Sie berufen sich auf neu beschlossene Gesetze, die eine „Rechtfertigung des Faschismus“ unter Strafe stellen. Die Zitate von Iljin lassen kaum Interpretationsspielraum.
Iljins politische Biographie
Iljin wird gerne als Verteidiger der vorrevolutionären Ordnung des Russischen Reiches dargestellt, der revolutionäre Bestrebungen bekämpfte. Doch das Bild ist ungenau. Der aus einer adeligen Familie stammende Iljin beteiligte sich an studentischen Unruhen, später interessierte er sich für die Ideen von Max Stirner. Er übersetzte eine Studie von Paul Eltzbacher über Anarchismus und war nach einigen Angaben auch mit dem Anarchisten Alexei Borowoi befreundet. Iljins Forschungsgegenstand war die Philosophie Hegels. Seine Promotionsarbeit „Philosophie Hegels als Lehrwerk über das Wesen Gottes und des Menschen“ verteidigte er 1918, nachdem die atheistischen Bolschewiki bereits an die Macht kamen. Obwohl er in Feindschaft zur Revolution stand, blieb er im Russischen Bürgerkrieg im „roten“ Moskau und versuchte nicht, in die von den „Weißen“ (Konterrevolutionäre) kontrollierten Gebiete zu gelangen. Iljin wurde mehrmals von der „Tscheka“1 verhaftet, bis er 1922 ausgewiesen wird.
Ein „Philosophenschiff“ bringt Iljin und andere ausgebürgerte Intellektuelle nach Stettin. In Deutschland gelang ihm keine Karriere als Philosoph. Den Rest seines Lebens verdingte sich Iljin als antikommunistischer Publizist. Zum Theoretiker der „weißen Bewegung“ versuchte er erst zu werden, nachdem diese bereits geschlagen und zerstritten war. Iljin arbeitete eng mit der „Russischen All-Militärischen Union“ (ROWS) zusammen, die sich als eine Art Exilarmee begriff, aber nicht vorab die politische Ordnung eines postkommunistischen Russlands festlegen wollte. Iljin sah eine Notwendigkeit „gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“2 zu leisten, was seiner Ansicht nach die „weiße Bewegung“ mit dem zeitgenössischen Faschismus einte.
Durch seine Texte zieht sich die Klage über geheime Machenschaften der äußeren Feinde Russlands. Iljin entwickelte das Konzept des „Übernationalismus“ mit einer Führungsrolle der Völker, die „ihre eigene Kultur entwickelt“ haben, zu denen er die Russen zählte, gegenüber anderen, denen es nicht gelang. Iljin, der die liberalen Demokratien als wehrlos gegen die „rote Gefahr“ einschätzte, begrüßte sowohl Mussolini als auch Hitler als die „Retter Europas vor dem Kommunismus“. Die antisemitische Politik der NSDAP verteidigte er explizit mit der Formulierung, man solle Hitler mit den Augen des deutschen Volkes und nicht der deutschen Jüdinnen und Juden betrachten. Biologisch-rassischer Antisemitimus blieb ihm jedoch fremd.
Gleichzeitig hatte er als konservativer Christ engen Kontakt mit dem rechts-protestantischen Kreis um die Berliner Zeitschrift „Eckart“, aus der sich später ein bürgerlicher Widerstand entwickelte. Für kurze Zeit war Iljin mit der Leitung des staatlichen Russischen Wissenschaftlichen Instituts, eine Exilhochschule in Berlin, beauftragt, nachdem dort bereits etliche Mitarbeitende aus politischen und rassistischen Gründen entlassen worden waren.
1938 wird er selbst der „Freimaurerei“ und der Zusammenarbeit mit den Bolschewiki beschuldigt. Nach dem Verlust der Stellung reiste er in die Schweiz aus. Den Überfall auf die Sowjetunion 1941 sah Iljin als durch den Bolschewismus provoziert und hoffte auf einen schnellen Zusammenbruch des Sowjetsystems.
Auch weit nach dem Zweiten Weltkrieg betonte Iljin die angeblichen positiven Aspekte des Faschismus. Für ihn waren Spanien unter Francisco Franco und Portugal unter António de Oliveira Salazar Vorbilder für ein zukünftiges Russland, weil dortige Modelle - im Gegensatz zu denen in Italien und Deutschland - mit dem Christentum kompatibel seien. Dies sei eine „nicht totalitäre“ Variante des Faschismus. Iljin lehnte die Demokratie nicht komplett ab, ihm schwebte ein meritokratischer Staat vor, in dem eine Auswahl der Würdigsten stattfindet. „Egoismen“ von Klassen und Individuen bewertete er als Gefahr für das nationale Wohl. Den Partikularinteressen hielt er einen „Ranggefühl des Volkes“ entgegen, was für ihn freiwillige Unterordnung und eine „qualitative Auswahl“ der Eliten bedeutete.
Gerade diese Überlegungen Iljins von einer von Interessenkonflikten befreiten und von der Verantwortungslosigkeit geschützten Demokratie scheinen sich als kompatibel zu Putins Russland zu erweisen.
Fazit
Iljins Sympathien für Faschismus waren nie ein Geheimnis. Kaum ein Zitat, was im Rahmen des Moskauer Hochschulskandals als Beleg seiner Gesinnung herbeigezogen wurde, war nicht seit Jahrzehnten bekannt. Iljin war weder „Ideologe der weißen Bewegung“ – an der er in Russland nie teilnahm, noch aktives Mitglied, geschweige denn ein Theoretiker einer faschistischen Organisation - seine Aktivität bestand vor allem darin, russische Exilorganisationen zur Akzeptanz des Faschismus zu drängen und als „Russlandexperte“ in diversen rechten Medien Europas aufzutreten.
Es ist nicht korrekt, ihn als „Putins Lieblingsphilosoph“ zu bezeichnen, da sich Putin äußerst selektiv auf sein publizistisches Werk bezieht, aus dem er meist banale Stellen über Heimatliebe, die Größe Russlands und der Klagen über von Feinden gestiftetes Chaos zitiert. Weder Iljins Beitrag zur Hegel-Forschung, noch seine Faschismus-Apologetik finden dabei Erwähnung.
Auch die Differenzen zwischen dem Esoteriker, „Neoeurasier“ und Querfront-Apologeten Dugin auf der einen, und dem christlichen Antikommunisten Iljin auf der anderen, sind nicht zu übersehen. Iljin ist eine Figur, deren historische und theoretische Bedeutung massiv überschätzt wird.
Doch die Berufung auf Iljin wirkt in Putins Russland als Chiffre für eine antiliberale und antikommunistische Grundhaltung. Protest gegen ihn als Namensgeber wurde zu einem Ventil der Ablehnung solcher Inhalte. Folgenlos war der Widerstand nicht – im Juni 2024 trat Alexnder Besborodow, Rektor der RGGU zurück, im Oktober 2024 erklärte die Studentische Antfaschistische Front der Universität, sie würde über die Information verfügen, dass die „Politische Hochschule“ anstelle von Iljin den Namen von Darija Dugina bekommen soll. Die Tochter und Mitstreiterin von Alexander Dugin fiel im August 2022 einen Anschlag zum Opfer.
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Die allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage übte in Sowjetrussland die Funktion von politischer Polizei und Geheimdienst aus.
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Titel einer seiner Aufsätze gegen Leo Tolstoi. In deutscher Übersetzung wird Iwan A. Iljin etwa vom extrem rechten Verlag Edition Antaios vertrieben.