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Österreich: In großen Schritten zum autoritären Polizeistaat

Soligruppe Antifa Graz 2025
Einleitung

Wie aus dem Nichts wache ich auf, mein Herz rast, ich versuche mich zu orientieren. Der Wecker zeigt 05:00 Uhr und ich merke, dass meine Mitbewohner*in nachhause gekommen ist. Ihr Schlüsselbund hat mich aufwachen lassen. Kurze Zeit später kehrt in unserer Wohnung in Graz wieder Ruhe ein, doch mein Kopf fängt an zu arbeiten. Einschlafen kann ich nicht mehr. Mich beschäftigt, was vor einigen Wochen in meiner WG passierte, mich quälen die Gedanken und ich werde panisch. Denn ich erlebe gerade, was es bedeutet, wenn (Neo)Faschist*innen in den Parlamenten sitzen und sich eine Staatsanwaltschaft (StA) politisch instrumentalisieren lässt. Österreich bewegt sich in großen Schritten auf einen autoritären Polizeistaat zu und ich bin live dabei.

Walter Rosenkranz
(Foto: MK)

Nationalratspräsident Walter Rosenkranz bei der Ankunft am "Akademikerball" des

Im März 2025 veranlasste die Grazer Staatsanwaltschaft (StA) sieben Hausdurchsuchungen und Haftbefehle in der linken Szene. Grund dafür ist ein verlorengegangenes „Burschenschafterkapperl“ und ein betrunkener deutschnationaler Burschenschafter, der, während ihm die Kapperl mutmaßlich vom Kopf genommen wurde, stürzte und sich sechs Rippen brach. Die anfänglichen Ermittlungen wegen Diebstahls und schwerer Körperverletzung wurden vom "Landesamt für Staatsschutz und Extremismusbekämpfung" (LSE) und der StA zu einem Ermittlungsverfahren wegen schweren Raubes aufgeblasen. Aus zwei wurden sieben Beschuldigte, die als Teil einer „kriminellen Vereinigung“ gemeinsam gehandelt haben sollen. Das angedrohte Strafmaß für alle sieben beläuft sich auf eine Haftstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Eine lange Zeit, die den österreichischen Behörden gut in die Karten spielt, um Andersdenkende aus dem politischen Alltag zu verbannen. 

Angesichts lang existierender extrem rechter Strukturen in der österreichischen Exekutive lässt sich erahnen, wie es um die Unabhängigkeit der Justiz steht. So auch aktuell, wo das Vorgehen der Behörden ohne politisches Interesse und politischen Einfluss nur schwer zu erklären ist. 

Der "Kapperlvorfall" fand im Rahmen des sogenannten „Akademikerball“ in Graz statt. Jährlich treffen sich dort deutsch-nationale Burschenschafter, FPÖ-Politiker*innen und „Identitäre“ um sich zu vernetzen, zu tanzen und ihre menschenfeindlichen Ideen zu zelebrieren. Dieses Event in Graz ist keinesfalls nur eine Ansammlung obskurer Männerbündler, sondern auch die Spitzen des österreichischen Staates waren vertreten. Beispielsweise trat Walter Rosenkranz, FPÖ-Politiker, deutschnationaler Burschenschafter und als Nationalratspräsident (Parlamentspräsident) de jure zweithöchste Politiker des Landes an diesem Abend als Gast auf. Er war die erste öffentliche Stimme, die keine zehn Stunden nach dem mutmaßlichen Kapperlklau öffentlich forderte, der österreichische Staat müsse mit allen Mitteln daran arbeiten, diesen Fall aufzuklären. Noch am selben Tag fingen die Behörden an wegen des konstruierten Tatvorwurfs des schweren Raubes zu ermitteln. 

Wenige Wochen später sollten dann mehrere Antifaschist*innen am eigenen Körper erleben, was es bedeutet, wenn der Staat mit voller Wucht ein verlorenes "Kapperl" sucht. Alle sieben Beschuldigten wurden mit Haftbefehl gesucht und festgenommen. Eine Wohnung wurde mehrere Tage observiert, Handys mehrfach geortet, Telefonate abgehört und zwei der Beschuldigten mit europäischem Haftbefehl gesucht. Auch der Einsatz der österreichischen Spezialeinheit Cobra, die Wohnungstüren aufbrach oder mit einer Motorsäge zerstörte, unbeteiligte Mitbewohner*innen mit gezogenen Maschinenpistolen bedrohte und Wohnungen verwüstete, wurde durch den konstruierten Tatvorwurf ermöglicht. 

Das politische Kalkül, mit dem versucht wird, Antifaschist*innen zu kriminalisieren, zeigte sich neben dem unverhältnismäßigen Vorgehen der Ermittler*innen auch bei der Dauer der Inhaftierungen der Beschuldigten. In Österreich kann man, wenn man wegen einer Strafsache festgenommen wird, bis zu 48 Stunden in Polizeihaft genommen werden. Nach Ablauf dieser Frist besteht die Möglichkeit, dass noch immer Haftgründe vorliegen und es erfolgt eine Überstellung in eine Justizanstalt. Dort können erneut bis zu 48 Stunden vergehen, bis es zu einer sogenannten Haftprüfung durch ein*e Richter*in kommt, die aber schon während der Polizeihaft möglich wäre. Eigentlich sollte eine richterliche Entscheidung so zügig wie möglich erfolgen, um die Haft nicht unnötig zu verlängern. Während zwei Beschuldigte über zwei beziehungsweise sieben Wochen in Untersuchungshaft gehalten wurden, enthaftete ein*e Richter*in die fünf anderen Beschuldigten, jedoch erst nach Ablauf des legalen Maximums von 96 Stunden. Wiederum bei einer Person legte die StA gegen diese Haftentlassung Einspruch ein, ohne Erfolg. Anders als eine gerichtlich angeordnete Enthaftung erwarten ließe, landeten drei der Beschuldigten erneut in polizeilichem Gewahrsam. Sie haben einen deutschen Pass und wurden auf expliziten Wunsch der StA hin aus der U-Haft direkt in fremdenpolizeiliche Gewahrsam genommen. Die Fremdenpolizei prüft nun Abschiebungen nach Deutschland. In einem Fall schöpfte die Fremdenpolizei die legale Dauer eines Gewahrsams nach Fremdenrecht mit 72 Stunden maximal aus. Doch damit nicht genug. Die drei Beschuldigten müssen sich nun auf unbestimmte Zeit wöchentlich bei einer Polizeiinspektion in Graz melden. 

Noch einmal zur Erinnerung: Es geht um ein „Burschenschafterkapperl“, das bis heute nicht gefunden wurde, sowie um eine vorgeworfene schwere Körperverletzung. Darüber hinaus zeigen auch die Verstrickungen von StA und steirischer "Freiheitliche Partei Österreichs" (FPÖ) die politische Dimension dieses Ermittlungsverfahrens.

Radikalisierte Behörden?

Ein Beispiel dafür ist ein Korruptionsskandal der Grazer FPÖ aus dem Jahr 2022, in dem die StA Graz die Ermittlungen führte. Mutmaßlich wurden rund 1,8 Millionen Euro durch FPÖ-Politiker veruntreut und flossen unter anderem in Burschenschaften. Die StA Graz verschleppte die Ermittlungen monatelang und gab sie schließlich aufgrund des „Anscheins der Befangenheit“ nach Klagenfurt ab. Politiker*innen verschiedener Parteien sprechen von Amtsmissbrauch und Verschleierung durch die Grazer StA. Im Zuge dieser Ermittlungen wurde erst im März 2025 erneut die Auslieferung des FPÖ-Spitzenpolitikers und Präsident des steirischen Landtags Gerald Deutschmann beantragt.1 Ebenso wie 2022 ist auch im „Kapperlverfahren“ 2025 die politische Unbefangenheit der Behörde kritisch zu hinterfragen. Denn der Geschädigte ist FPÖ-Lokalpolitiker und in derselben Burschenschaft korporiert wie Gerald Deutschmann (Marcho Teutonia Graz). Einer der vielen FPÖ-Politiker*innen, gegen die die StA 2022 lange nicht ermittelte. Auch an anderen Stellen stößt man immer wieder auf die Frage, wie unabhängig die Grazer Behörden sind. Seit Mario Kunasek (FPÖ) steirischer Landeshauptmann (entspricht Ministerpräsident) ist, radikalisierte sich das Vorgehen der Ermittlungsbehörden in der Steiermark innerhalb kürzester Zeit. Kleinigkeiten, wie der zu späte Start einer Demonstration,
geöffnete Sektflaschen am 8. März oder Demonstrationsparolen gegen FPÖ-nahe Burschenschaften sind für die Ermittler*innen inzwischen Grund genug Personen anzuzeigen und vorzuladen. Noch sind es einzelne links-politische Personen, Initiativen und Vereine, die zunehmend ins Visier der Behörden geraten. Allerdings zeigte die Vergangenheit, dass die FPÖ - sobald in einer Machtposition angekommen - unverzüglich mit dem Umbau und der Übernahme aller staatlicher Institutionen beginnt. So veranlasste Herbert Kickl (FPÖ), damals als Innenminister, eine Razzia beim österreichischen Verfassungsschutz, bei der vor allem FPÖ-belastende Unterlagen verschwanden. Die FPÖ ist eine Gefahr für alle, nicht nur für politisch Andersdenkende.

Fühlt sich an wie in einem schlechten Traum, doch ich merke, ich bin hellwach. Inzwischen ist es 6.00 Uhr. Ab jetzt ist klar, dass es ein Morgen ohne Spezialeinheit in meiner Wohnung ist. Ich stehe auf und freue mich, dass ich heute nach achtwöchigem Kontaktverbot zu den anderen Beschuldigten alle wieder sehen kann. Doch die Last der politischen Verfolgung sitzt mir im Nacken. So schwer sie auch sein mag, weiß ich aber, dass ich weiterkämpfen werde. Nicht zuletzt die Solidarität von Genoss*innen aus Graz, Wien und aller Welt, die mich in den letzten Wochen erreichte, lässt mich nicht verzweifeln. Antifaschismus ist legitim und bleibt notwendig, denke ich mir und starte einen weiteren Tag als Antifaschist*in in einem prä-autoritären, bürgerlichen Rechtsstaat.

Nachtrag AIB

Stand September 2025 sind die Ermittlungen der Polizei abgeschlossen und die Staatsanwaltschaft hat nun tatsächlich gegen alle sieben Personen Anklage wegen schweren Raubes erhoben. Alle sieben Personen haben Anwält*innen und bereiten sich auf den anstehenden Prozess vor. Wann der Prozess stattfinden wird, ist derzeit noch nicht absehbar.2

Spendenkonto:
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