Heß-Todestag 1995: Außer Spesen nix gewesen?
Großmäulig war sie angekündigt, die »Rudolf-Heß-Aktionswoche«, die vom 12. bis 20. August stattfinden sollte und zu der ein »Wunsiedel Koordinationsbüro / Die Nationalen« aus Rotterdam aufgerufen hatte. Neben Demonstrationen sollten dezentrale Aktionen verschiedener Art durchgeführt werden: Transparente, Flugblätter, Plakate (unter anderem bei Bundesligaspielen). Höhepunkt sollte ein »zentraler europäischer Marsch« werden, der letztendlich im dänischen Roskilde stattfand und für die Neonazis zum Debakel wurde, da sie von Antifaschistinnen verjagt wurden. Die deutsche Polizei hatte im Vorfeld verlauten lassen, die Verbreitung neonazistischen Gedankenguts während der ganzen Woche »bereits im Ansatz unterbinden« zu wollen.
Wie letztes Jahr hatten verschiedene Neonazikader, vor allem aus dem Spektrum von GDNF und JN, zahlreiche Aufmärsche und Kundgebungen - die meisten in Bayern und Thüringen, aber auch in fast allen anderen Bundesländern - angemeldet, um Antifas zu verwirren und den Verboten der Versammlungen, die auch dieses Jahr wieder in großer Zahl erlassen wurden, entgegenzuwirken. Der Neonazi-Kader Michael Petri (Vorsitzender "Deutsche Nationalisten") mobilisierte frühzeitig nach Dänemark. Andere Neonazi-Funktionäre um den früheren FAP-Chef von Niedersachsen Thorsten Heise warben für eine Aktion in Deutschland.
Die Polizei machte ihre Ankündigung wahr und ging relativ hart gegen Neonazis vor. Auf der Innenministerkonferenz war Anfang Mai 1994 das Vorgehen gegen Neonazi-Demonstrationen mit hohem "Öffentlichkeitsbezug" besprochen worden. So wurden am ersten Wochenende der »Aktionswoche«, besonders in Thüringen, mehrere Ansammlungen von Neonazis komplett in Gewahrsam genommen. Obwohl das natürlich nicht als großer Erfolg der Polizei bezeichnet werden kann, da es diese Ansammlungen nahezu jedes Wochenende gibt, versäumte diese es natürlich nicht, ihr Vorgehen dann mediengerecht zu präsentieren, nachdem vor zwei Jahren massive Kritik am Einsatz der Polizei in Fulda laut geworden war.
Desweiteren ist es natürlich sehr problematisch, daß die Sicherheitsorgane die Gelegenheit gleich nutzten, um scharfe Maßnahmen gegen Versammlungen zu legitimieren. So wurde z.B. in Thüringen ein einwöchiges Versammlungsverbot ausgesprochen. Im ganzen Bundesgebiet wurde gegen über hundert Neonazis ein sogenannter Vorbeugegewahrsam über teilweise mehr als eine Woche verhangt. Das bedeutet, daß man lediglich für den Verdacht, etwas Strafbares tun zu wollen, für zwei Wochen in Gewahrsam genommen werden kann. Gegen wen diese Maßnahmen in Zukunft angewendet werden, ist absehbar.
Die eigentlichen Aktionen der Neonazis gab es schließlich erst am Ende der »Aktionswoche«, also am Wochenende 19./20. August. Ein Heß-Aufmarsch fand im niedersächsischen Schneverdingen mit ca. 200 Neonazis statt. (Mit)-Organisatoren der Demonstration in Schnevedingen sollen laut Berichten aus der Szene die Neonazi Aktivisten Thorsten Heise und Christian Berisha gewesen sein. Das Erfolgsgefühl der Neonazis wurde jedoch durch zwei in Brand gesetzte Neonazi-PKW schnell getrübt. 15 Neonazis konnten von der Polizei festgesetzt werden. Michael Petri landete bereits auf der Anfahrt in einer Polizeikontrolle.
Als Hauptaktion gab es den »Rudolf Hess Commemorative March« in Roskilde bei Kopenhagen. Die Wahl der Örtlichkeit zeigt einmal mehr die Bedeutung der deutsch-dänischen Neonaziverbindungen. Die Neonazis betrachten Dänemark als eine Art »Vorfeldland«, wo sie aufgrund der liberalen Gesetzgebung Dinge durchziehen können, die momentan in Deutschland nicht möglich sind. Allerdings vergessen sie dabei immer wieder, wie tief die Erfahrungen der deutschen Besatzung bei vielen Leuten in Dänemark sitzen. Vor allem das provokative, machtvolle Auftreten und die Tatsache, daß es viele Deutsche waren, die dort marschierten, riefen die Wut der dänischen BürgerInnen hervor, die dem Nazi-Spuk ein Ende bereiteten. Die Ereignisse in Roskilde zeigen einmal mehr, daß die Verankerung politischer Ideen und Aktionen in der Bevölkerung unerläßlich ist und in Deutschland ebenfalls ein nicht zu vernachläßigendes Ziel sein muß, auch wenn wir augenblicklich davon sehr weit entfernt zu sein scheinen.
Doch nicht nur Roskilde war, mal abgesehen davon, daß die Neonazis eine kurze Zeit marschieren konnten, ein Erfolg für die Antifa. Auch wenn wir die gesamte Entwicklung der Heß-Märsche in den letzten Jahren betrachten, können wir eine positive Bilanz ziehen. Antifas waren es, die es im Laufe der Jahre geschafft haben zu verhindern, daß die Neonazis ihre »Aufmarschkultur« weiter etablieren und ausbauen können - heute marschieren statt 2000, wie vor drei Jahren, nur noch 200. Erreicht wurde dies auch durch den von uns aufgebauten öffentlich Druck, der den Staat zum Vorgehen gegen die Neonazis zwang und zwingt. Daß sie nun keinen großen einheitlichen Marsch mehr haben, ist für sie mehr als fatal. Einerseits haben sie damit das Symbol Wunsiedel/Heß verloren. Andererseits fehlt ihnen das Moment der Mobilisierung, wo sie eine breite Basis zusammenbringen, Kraft schöpfen und rekrutieren können. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, daß sie noch zwei von uns nicht behinderte Aufmärsche in Deutschland durchführen konnten. Außerdem sind sie mit ihrer »Aktionswoche« und ihren Organisationen relativ groß in die Medien gekommen. Von Antifas im Vorfeld verkündete Einschätzungen, wie z.B. »Die kriegen sowieso nichts auf die Reihe«1 trafen also nicht zu, auch wenn es sich dieses Jahr natürlich um eine andere Qualität von Neonaziaktionen handelte als beispielsweise 1992 oder 1993. Zwar finden wir es nicht falsch, den enormen Organisierungsaufwand zum Heß-Todestag, der in den letzten Jahren durch Reaktion bestimmt war, ein gutes Stück zurückzunehmen. Wir sollten jedoch nicht zu einer Unterschätzung der Neonazis kommen, und eine solche Tendenz zeichnet sich seit der verstärkten Repression gegen die Neonazis in Teilen der antifaschistischen Bewegung ab. Das Projekt »Wunsiedel« ist für die Neonazis sicher noch nicht vom Tisch, geschweige denn, sie selbst!
- 1junge Welt vom 16.8. «Fußvolk verheizt«