Der »Rudolf-Heß-Marsch« 1996
Der 10. Todestag des Hitlerstellvertreters Rudolf Heß am 17. August diesen Jahres steht vor der Tür. Neonazis werden sich nicht nur wegen des Jubiläums etwas besonderes einfallen lassen, sondern auch versuchen, Lehren aus den letzten Jahren zu ziehen. Um Gedanken und Diskussionen anzuschieben bzw. voranzubringen, was zu diesem Tag an Antifa-Aktionen stattfinden könnten und sollten, im Folgenden ein Artikel, der sich kurz mit den letzten Heß-Todestagen auseinandersetzt. Besonders eingegangen wird auf den Ablauf im vergangenen Jahr und die Widersprüche, die sich zwischen der offiziellen Darstellung und dem tatsächlichen Geschehen ergeben haben.
Die Tradition der »Pannen« und »unglücklichen Umstände«
August 1993: Begleitet von einem Dutzend völlig überforderter Polizisten marschieren mehrere hundert Neonazis aus dem In- und Ausland zum Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß durch die hessische Stadt Fulda. Die Bilder gehen um die halbe Welt und die Behörden, die vorher vollmundig angekündigt hatten, alle Rudolf-Heß-Aufmärsche polizeilich aufzulösen und denen der Aufmarschort mehrere Stunden vorher bekannt war, geraten unter Druck. Sie sprechen von Pannen und unglücklichen Umständen, die den Aufmarsch ermöglicht hätten.
August 1994: Bei einem versuchten Marsch in Luxemburg müssen die Neonazis feststellen, daß sie sich im benachbarten Ausland nicht auf »Pannen« und »unglückliche Umstände« seitens der Behörden verlassen können. Ihre Rudolf-Heß-Show wird nach wenigen Minuten von der Luxemburger Polizei beendet. Schwer verprügelt werden die Neonazis am Abend abgeschoben. August 1995: Um kein »zweites Fulda« entstehen zu lassen, sind am Wochenende des geplanten Rudolf-Heß- Marsches bundesweit zehntausende Polizisten in Einsatz und in Alarmbereitschaft. Dennoch gelingt es 200 Neonazis einen Aufmarsch im niedersächsischen Schneeverdingen durchzuführen. Als die Polizei eintrifft, sind alle verschwunden. Ein zweiter Aufmarsch findet, beschützt von der Polizei, im dänischen Roskilde statt.
Der »Zentrale Rudolf-Heß-Marsch 1996«
war für den 17. August geplant und wer am späten Nachmittag sein Radio einschaltete, bekam fast den Eindruck, die Behörden hätten aus den Erfahrungen der letzten Jahre gelernt. Ein Aufmarsch im rheinland-pfälzischen Worms sei nach kurzer Zeit aufgelöst und eine Vielzahl von Neonazis festgenommen worden, hieß es dort und: bereits im Vorfeld sei es zu einer Vielzahl von Festnahmen gekommen, auf der Autobahnraststätte Wetterau (nahe Frankfurt) wurden allein 60 Neonazis aus dem Verkehr gezogen.
Die Öffentlichkeit war zufrieden. Doch je mehr über die Umstände und den Ablauf des Aufmarsches in Worms bekannt wurde, um so mehr wird klar, daß die Öffentlichkeit an diesem Tag schlichtweg belogen wurde.
Bereits am Freitagabend stand fest, daß der Marsch im Großraum 200 km um Frankfurt stattfinden würde, die Landeskriminalämter waren über drei potentielle Aufmarschorte informiert. Als solche galten die Regionen um Mannheim, Saarlouis (Saarland) und Siegen (Nordrhein-Westfalen). Aus diesem Grund wurden starke Polizeikräfte in Ludwigshafen (bei Mannheim) in Bereitschaft gehalten. Um 12.02 Uhr wurden dem Landeskriminalamt mitgeteilt, Ziel der Neonazis sei die Region Mannheim/Ludwigshafen/Worms. Um 13.24 Uhr wußte der Verfassungsschutz über den genauen Zielort und den dortigen Treffpunkt Bescheid und gab diese Information »unverzüglich« an das Landeskriminalamt weiter, von dort ging die Informationen ebenso »unverzüglich« an alle zuständigen Polizeidienststellen.
Auch AntifaschistInnen blieb die Mobilisierung der Neonazis nicht verborgen. Der Neonazi Kai Dalek trat innerhalb der Neonazi-Szene als ein wesentlicher Organisator und Ansprechpartner der Mobilisierung in Erscheinung.
Als gegen 13.30 Uhr die ersten AntifaschistInnen in Worms eintrafen, wurden sie Zeugen, wie eine größere Polizeieinheit das Stadtgebiet verließ. Nachfragen bei der Wormser Polizeidienststelle waren sinnlos - das Revier war (zumindest vorübergehend) verlassen und abgesperrt, nicht einmal das Telefon war besetzt. Währenddessen, um 14 Uhr, sammelten sich ca. 250 Neonazis in und am Wormser Dom. Eine zu diesem Zeitpunkt stattfindende Hochzeitsfeier wurde massiv gestört, Transparente und Fahnen wurden entrollt und um 14.15 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung.
Fast eine Stunde konnten die Neonazis völlig unbehelligt durch die Wormser Innenstadt marschieren. Erst nach 15 Uhr, der Marsch befand sich bereits in Auflösung, beendete ein eilig aus dem 50 km entfernten Kaiserslautern herbeigeschafftes Spezialeinsatzkommando der Polizei das Spektakel.
Die verbliebenen 187 Teilnehmer wurden eingekesselt und festgenommen. Dabei gelang es dem Ludwigshafener Neonazi Christian Hehl, der zu diesem Zeitpunkt zur Fahndung ausgeschrieben war, aus dem Kessel zu türmen, indem er einen Kreislaufkollaps vortäuschte und sich mit dem Krankenwagen abtransportieren ließ. Unter den festgenommenen Neonazis konnten AntifaschistInnen zahlreiche bekannte Neonazi-Aktivisten aus ganz Deutschland feststellen: Holger Apfel (Hildesheim), Stefan Michael Bar (Neustadt/Wstr.), Hans Robert Klug (Bonn), Andre Kapke (Jena), Ralf Wohlleben (Jena), Tino Brandt (Rudolstadt), Christiane Dolscheid (Neumünster), Markus Privenau (Bremen), Michael Kurzeja (Bremen), Jens Pühse (Freising), Rene Rodriguez Teufer (Viernheim), Sascha Roßmüller (Straubing), Björn Schmidtke (Bad Segeberg), Falko Schüssler (Aschaffenburg), Tobias Thiessen (Hamburg), Thomas Wulff (Hamburg) und Andree Zimmermann (Winterberg).
Soviel zum Ablauf des »Zentralen Rudolf-Heß-Marsches 1996«, der wirklich nur noch ganz entfernt eine Ähnlichkeit mit der offiziellen Darstellung und der darauf basierenden Medienberichterstattung aufweist.
Um noch eine weitere Fehlinformation zu berichtigen: AntifaschistInnen, die sich an der Autobahnraststätte Wetterau aufhielten, berichteten von umfangreichen Kontrollen aber lediglich einer handvoll Festnahmen. Der überwiegende Teil der dort kontrollierten Neonazis konnte ungehindert nach Worms weiterreisen.
Fast völlig untergegangen ist in der Berichterstattung, daß in Merseburg (Sachsen-Anhalt) zeitgleich ein zweiter Rudolf-Heß-Marsch mit 120 Teilnehmern stattfand, der völlig ohne Polizeibegleitung über die Bühne ging. Erst als im Anschluß daran die Neonazis auf einem Fest im nahe gelegenen Bad Lauchstädt randalierten, griff die Polizei ein und nahm 30 Personen fest (siehe AIB Nr. 36).
Die rheinland-pfälzischen Behörden, die sich in ihren ersten Mitteilungen noch prahlerisch über »ihren« Polizeieinsatz in Worms ausgelassen hatten, mußten - konfrontiert mit dieser Vielzahl von Widersprüchen - bald kleinlaut beigeben. Wochen später mußte ein sichtlich angeschlagener Innenmister Zuber dem rheinland-pfälzischen Landtag Rede und Antwort stehen und die Fakten auf den Tisch legen. Dort erst zeigte sich das gesamte Ausmaß eines völlig mißlungenen Polizeieinsatzes.
Zuber sprach in bester »Fulda«-Tradition von einer »Verkettung von Pannen« und von »Fehlleistungen einzelner«. Warum aber beispielsweise die nur 15 Autominuten von Worms entfernt wartenden Ludwigshafener Polizeieinheiten nicht in Bewegung gesetzt wurden, dies konnte (oder wollte) Zuber nicht beantworten.
Es ist auch mehr als ungewiß, ob die offenen Fragen zum Wormser Polizeifiasko noch eine Beantwortung finden. Anders als beispielsweise 1993 nach dem Fulda-Marsch formiert sich keine Öffentlichkeit, die von den verantwortlichen Behörden Rechenschaft einfordert. Die Medienberichte zum Aufmarsch gaben hauptsächlich die polizeiliche Darstellung wieder, Pressemitteilungen und Gegendarstellungen von AntifaschistInnen wurden durchweg ignoriert.
Selbst die Debatte im rheinland-pfälzischen Landtag, bei der die Fakten offengelegt werden mußten, fand in der Presse kaum Beachtung. Insofern scheinen die Behörden doch aus Fulda gelernt zu haben: Bilder, auf denen eine Handvoll überforderter Streifenpolizisten, den Angstschweiß auf der Stirn, mit gequälten Lächeln vor einem übermächtigen Neonazimob stramm stehen, blieben der Öffentlichkeit diesmal erspart.
Denn die Wormser Polizei war einfach abgetaucht. Auch konnten dieses Jahr der Öffentlichkeit Bilder konsequenten staatlichen Handelns, die Einkesselung und Verhaftung von 187 Personen, vorgeführt werden. Daß dies Stunden zu spät geschah, bzw. durch eine Minimum an Organisation und guten Willen unnötig gewesen wäre, steht nicht zur Debatte.
So bleibt letztendlich die Frage offen, ob bezüglich derartiger (Polizei-)Skandale mittlerweile ein Gewöhnungseffekt eingetreten, bzw. die Öffentlichkeit mittlerweile schon so übersättigt ist, daß eine genaue bzw. kritische Betrachtung und Aufarbeitung derartiger Vorfälle nicht mehr im allgemeinen öffentlichen Interesse liegt?
Oder: Wären eventuell auch Skandale wie Fulda 1993 in ähnlicher Art und Weise unter die Tische gekehrt worden, hätte damals nicht die internationale Presse (die 1996 in Worms nicht vor Ort war) über »ihre« Berichterstattung den Druck erzeugt, der die Behörden zu einer Teilaufklärung des Geschehens zwang und einen (vorrübergehenden) Vertrauensverlust in die polizeiliche Arbeit und Informationspolitik bewirkte? Eines läßt sich jedoch festhalten: Es ist vor allem den Beobachtungen und der Öffentlichkeit engagierter AntifaschistInnen zu verdanken, daß der Polizeibericht Stück für Stück widerlegt und wenigstens ein kleiner Teil der Öffentlichkeit wahrheitsgemäß unterrichtet werden konnte.
(Der Artikel erschien in einer leicht veränderten Form in der November-Ausgabe der antifaschistischen Monatszeitschrift Searchlight.)