Rudolf Heß Marsch 1998: Auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit ?
Ein Nachruf auf einen jährlichen "Rudolf Heß Aufmarsch", der Anfang der neunziger Jahre der bedeutendste der deutschen Neonazi-Szene war, und eine Einschätzung, warum er dies im Moment nicht mehr ist.
Der ehemalige Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß würde sich vermutlich im Grabe wälzen, wüßte er um die verzweifelten Versuche seiner Jünger, anläßlich seines elften Todestages am 17. August 1998 einen großen »Gedächtnismarsch« durchzuführen. Nachdem es den Neonazis verschiedener Fraktionen bereits im vergangenen Jahr nicht gelungen war, in Deutschland eine größere Aktion auf die Beine zu stellen, und nur in Dänemark 150 Neonazis aus ganz Nordeuropa unter Polizeischutz aufmarschieren konnten, war die Pleite in diesem Jahr noch größer: Wo auch immer die Neonazis hinkamen, waren Polizei, Presse und Antifa-AktivistInnen schon da. Die erneut in Dänemark abgehaltene Veranstaltung der skandinavischen Kameradinnen geriet aus Angst vor aufgebrachten BürgerInnen und AntifaschistInnen zu einem halbstündigen Kleinstaufmarsch in den frühen Morgenstunden des 15. August.
Chaos 1998
Nachdem sich mit Andree Zimmermann und Thomas Kubiak im November 1997 zwei führende Mitglieder des "Aktionskomitee Rudolf Heß" in den Tod gefahren und der Rest sich aufgelöst hatte, mußte dieses Jahr eine neue Garde ran, um die »Aktionswoche« und den »zentralen Aufmarsch« zum Gedenken an Hitlerstellvertreter Heß zu planen.
In die Bresche sprangen unter anderem Rüdiger Kahsner (Kahsner fiel bislang vor allem als Chef der "Westdeutschen Volkszeitung" (WVZ) auf, einer Tochterzeitung der "Berlin Brandenburger Zeitung (BBZ). Die BBZ - und damit auch die WVZ - erscheint wegen finanzieller Engpässe bereits seit längerer Zeit nicht mehr als Druckausgabe und auch die virtuelle Ausgabe im Internet wird derzeit wegen personeller Probleme nur noch sporadisch aktualisiert.) aus Hagen und Neonazis um den "Donner Versand" um Stephan Haase aus Lüdenscheid. Die NPD und ihre Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) hatten sich in diesem Jahr endgültig aus den Aktivitäten zurückgezogen, um kurz vor den Wahlen nicht mit den verbotenen Aktionen und Aufmärschen in Verbindung gebracht zu werden. Sie überließen das Feld fast komplett den selbsternannten "Freien Nationalisten".
Die Verschickung des Informations- und Propagandamaterials zum zehnten »Rudolf-Heß-Marsch« wurde über die Firma "RK Druck und Vertrieb" von Kahsners, ein Postfach in Lüdenscheid und die Adresse der Neonazi-Zeitschrift "Zentralorgan" abgewickelt. Erneut eine wichtige Rolle in der Mobilisierungsstruktur spielten die "Nationalen Infotelefone" (NIT).
Wie im vergangenen Jahr riefen die Aktionen zum Heß-Todestag bereits Wochen vor dem 17. August Polizei, Innenbehörden und Justiz auf den Plan, denen daran gelegen war, jegliche Aufmärsche zu verhindern. So wurden beispielsweise bei einer großangelegten Durchsuchungsaktion am 13. August zahlreiche der Plakate und Aufkleber zur »Aktionswoche« sichergestellt. Möglich wurde dies, weil die Beamten zuvor bei einem namentlich nicht genannten Neonazi eine Bestelliste mit den Adressen derjenigen fand, die das Propagandamaterial geordert hatten. Auch in Gera (Thüringen) wurden einige Aktivisten des "Thüringer Heimatschutz" (THS) um Tino Brandt und Andre Kapke mit 20.000 Rudolf-Heß-Aufklebern von der Polizei erwischt. Kapke wurde jedoch nach kurzer zeit von dem Berliner Neonazi-Führer Frank Schwerdt und einem Anwalt aus dem Polizeigewahrsam geholt.
Zusammengenommen kamen erneut nicht nur ein großes Polizeiaufgebot, sondern auch zahlreiche andere Werkzeuge der »Inneren Sicherheit« zum Einsatz. Staatliche Stellen demonstrierten bei dieser Gelegenheit einmal mehr den "starken Staat" und man kann sich gewiß sein, daß bei den nächsten Forderungen nach Gesetzesverschärfungen und einer Ausweitung polizeilicher Befugnisse auch die Rechtsextremisten wieder auf der Liste der Gründe aurtauchen werden.
Traurige Aufmarschversuche und eine »Aktionswoche«
Am 15. August, dem Tag des »zentralen« Aufmarsches, boten die Neonazis und ihr »Aktionskomitee« ein klägliches Bild. Wohl nicht viel mehr als hundert Kameraden ließen sich mittels einiger Mobiltelefone, die als Kontaktnummern dienten, über den Großraum Kassel in Richtung Sauerland lotsen. Die meisten von ihnen schafften es nicht einmal bis zum ersten geplanten Aufmarschort Brilon südlich von Paderborn. Dort warteten schon zahlreiche JournalistInnen, AntifaschistInnen und die Polizei auf sie. Als auch dem "Aktionskomitee" klar geworden war, daß in dem Ort an diesem Tag kein Aufmarsch stattfinden würde, dirigierte man die zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgenommenen Kameraden in das 15 Kilometer entfernte Masberg um. Am ausgegebenen Treffpunkt aber erschien kein einziger der Heß-Anhänger mehr. 25 von ihnen, darunter das "Aktionskomitee", waren schon vorher festgenommen worden. Im Bundesgebiet wurden ca. 100 weitere Neonazis von der Polizei festgesetzt.
Rund um den 15. August herum allerdings kam es zu zahlreichen Neonazi-Aktionen, die nur zum Teil von der Polizei unterbunden wurden. Nachdem der »zentrale Marsch« bereits im vergangenen Jahr gescheitert war, verlegten sich diesmal offensichtlich noch mehr Neonazis auf dezentrale und selbst geplante Aktionen, darunter Saalveranstaltungen, Aufmärsche, »Mahnwachen« und Propagandaverteilaktionen. So kam es beispielsweise in der Nacht des 14. August in Zielitz bei Magdeburg zu einem halbstündigen Aufmarsch von etwa 100 zum Teil vermummten und Fackeln tragenden Neonazis, einem Aufmarschversuch in Goslar und einer Kranzniederlegung in Marburg. Bereits am 8. August fand im Saarland ein kurzer Aufmarsch örtlicher Kameradschaften in St. Wedel statt. Als die Neonazis anschließend ein Fuballspiel der Regionalliga als Propagandakulisse nutzen wollten, wurden 37 von ihnen festgenommen.
Immer wieder Dänemark
Der internationale Heß-Marsch fand dieses Jahr erneut in Dänemark statt. Nachdem Anmeldungen der "Danmarks Nationalsocialistiske Bevægelse" (DNSB) in Koge bei Kopenhagen und in der Kopenhagener Innenstadt verboten worden waren, wichen die Neonazis in den Vorort Greve aus, in dem auch das bunkerartig gesicherte DNSB-Hauptquartier liegt. Um den mehreren Tausend angereisten AntifaschistInnen auszuweichen, führte die DNSB ihren Aufmarsch anders als geplant bereits in den frühen Morgenstunden und unter starkem Polizeischutz durch: Ab acht Uhr dreißig marschierten ganze 132 Neonazis aus Skandinavien und Deutschland zum Teil vermummt, uniformiert und mit Hakenkreuzfahnen unter Führung von DNSB-Chef Jonni Hansen nur eine knappe Stunde durch Greve. Anschließend zogen sie sich schnell in den DNSB-Bunker zurück und die ersten Neonazis machten sich bereits an die Abreise. Ab dem Vormittag demonstrierten mehrere Tausend Menschen in Kopenhagen und Greve gegen den Nazi-Aufmarsch und verhinderten weitere Aktionen der Nazis, die unter Polizeischutz abreisen mußten. Als einige Hundert AntifaschistInnen in Greve näher zum Neonazi-Hauptquartier ziehen wollten, wurden sie von der Polizei mit Tränengas daran gehindert. Bereits im Vorfeld waren nicht nur weit über 120 Nazis, sondern auch zahlreiche AntifaschistInnen an den Grenzen von Beamtinnen auf beiden Seiten an der Einreise gehindert worden.
Resümee
Die Nazis sind mit dem Ergebnis ihrer Aktionen nicht zufrieden, und der Streit hat schon begonnen. Das "NIT Rheinland" um Sven Skoda wirft dem "Aktionskomitee" eine »mißlungene Planung« vor und mokiert sich darüber, daß man sich bei der Koordinierung wieder auf die leicht zu ortenden Mobiltelefone verlassen habe.1 In die gleiche Kerbe schlägt ein unter dem Pseudonym »Hauptfeld« im Neonazi-Mailbox-Computer-Netzwerk "Thule Netz" schreibender Neonazi aus dem Saarland: Er hält es für »wesentlich sinnvoller«, auf regionale Aktionen zu setzen, «als sich denn, ich sabe bewusst, diesjaehrigen Aktionskomitee anzuschliessen«.2 Für die eigenen regionalen Aktionen klopft er sich dann auch gleich selbst auf die Schulter.
Bereits im Vorfeld der »Aktionswoche« hatte auch die neonazistische "Berlin Brandenburger Zeitung" (BBZ) um den Berliner Christian Wendt in ihrer Internetausgabe dazu aufgerufen, zumindest parallel zu dem Aufmarsch «ein noch stärkeres Augenmerk auf die Arbeit vor Ort« zu richten: »Eurer Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist vielmehr, daß der Name Rudolf Heß über die Aktionswochen in jedem noch so kleinen Systemblatt Einzug hält. (...) Alles Aufsehenerregende sollte ins nähere Augenmerk genommen werden.«3
Auch wenn der »zentrale Aufmarsch« in diesem Jahr erneut ein Trauerspiel war, haben die Neonazis zumindest ihr Ziel erreicht, Aufsehen zu erregen, und den Namen Rudolf Heß zu verbreiten. Natürlich ein bescheidener Anspruch gemessen daran, daß der Heß-Marsch über mehrere Jahre hinweg die zentrale und mit bis zu 2.000 TeilnehmerInnen größte Aktion des Neonazi-Lagers mit großer Integrationsfunktion war. Andererseits stehen der extremen Rechten mit Kundgebungen der NPD heute natürlich auch ganz andere - legale - Massenaktionen zur Verfügung. Für die nächsten Jahre werden wir uns wohl darauf einstellen können, daß ein zentraler »Rudolf-Heß-Gedenkmarsch« unter den gegebenen Rahmenbedingungen wohl weiter an Bedeutung verlieren wird. Stattdessen werden offenbar erst mal kleine und regionale Aktivitäten wichtiger.
Daß dem aktuell so ist und die Neonazi-Szene damit eine wichtige Großveranstaltung mit Tradition und Mythos weniger besitzt, ist in erster Linie der antifaschistischen Bewegung zu verdanken. Von Anfang an und über Jahre hinweg waren es die Antifa-Gruppen, die kontinuierlich gegen den Aufmarsch mobilisierten, ihn in der Öffentlichkeit und vor dem Ausland anprangerten und mit vielen verschiedenen Aktionen den Neonazis Bewegungsspielraum nahmen. Dies und letztendlich auch die Tatsache, daß staatliche Stellen durch die entstandene Öffentlichkeit zum Eingreifen gezwungen waren, bereitete dem Heß-Marsch das vorläufige Ende. Nun heißt es, den Neonazis rund um den 17. August bei ihren regionalen Aktionen die Straße zu nehmen, ohne dabei die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihr Anliegen zu lenken.