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Fluchthilfe Kosovo-Berlin

Helmut Dietrich, Mitarbeiter der »Forschungsgesellschaft Flucht und Migration« (FFM), Berlin (Gastbeitrag)
Einleitung

Ein Prozess und die Abschottung der Schengen-Grenzen

An dem selben Morgen soll um drei Uhr früh eine Kosovarin aus Berlin mit ihrer Mutter im Kosovo telefoniert haben. Wir wissen nicht, was die Mutter ihrer Tochter berichtete: Ob NATO Bomben in ihrem Ort einschlugen, ob die jugoslawische Armee und die serbische Polizei gerade die Albanischsprechenden ihres Ortes vertrieb oder ob sich die Menschen selbständig auf die Flucht machten. Wir wissen nur: Eine Spezialeinheit der Berliner Polizei hörte angeblich ein solches Gespräch ab und behauptet in einem derzeit laufenden Prozess, die Mutter habe gesagt, »das Geld sei jetzt sicher im Garten der Familie vergraben«. Dieses Telefonat ist eines der Beweisstücke in dem größten Prozess gegen FluchthelferInnen, die auch während des Kriegs kosovarische Flüchtlinge auf die heimliche Reise über Ungarn, die Slowakei, die Tschechische Republik bis nach Deutschland gebracht haben sollen.

In der 641-seitigen Anklageschrift, in der dieses Telefonat erwähnt ist, finden sich kein einziges Mal die Wörter »Krieg«, »Bombardement« oder »Vertreibung«. In den transkribierten, willkürlich zusammengefassten Telefongesprächen wird wohl ein Teil der deutsch-kosovarischen Realität des Community-Lebens als Tonfetzen festgehalten sein: Angesichts des Kriegs und der Manipulation der Informationen wird es darum gegangen sein, was tatsächlich im Erfahrungskreis der Telefonierenden passierte und was sie einander empfahlen. Wie ist es möglich, dass die Polizei aus der sozialen Lage der bedrängten Zivilbevölkerung im Krieg ein Feindbild herausinterpretiert – das der »Illegalen«, der »Schlepper und Schleuser«? Wie verwandeln sich die zivilen, fliehenden Opfer des Kriegs in angebliche Feinde der westlichen Gesellschaft?

Die größte Lauschoperation der Berliner Spezialpolizei lief während des Kriegs, als die Vertreibungen zur Legitimation des Kriegs herangezogen wurden. Aus der Anklageschrift geht hervor, dass die Telefonüberwachungen genau zu dem Zweck angeordnet wurden, um die Fluchtwege aus dem Kosovo nach Berlin zerschlagen zu können.1 Die Flüchtlinge, die während des Kriegs aufbrachen und deren Daten von der deutschen Polizei erfasst wurden, wurden für ihre Reise von Angehörigen finanziell unterstützt. Einen Teil der Fluchtkosten zahlten sie im Kosovo, ein anderer Teil wurde in Deutschland von den Verwandten eingezahlt. Die Reise aus dem Kriegsgebiet heraus und dann durch die Transitländer dauerte damals eine Woche bis einen Monat und kostete pauschal 3.000 D-Mark.

Angesichts der Aufwendungen für Beförderung, Bestechung und Logis ist der Preis eher fair als gewinnträchtig. Das ist der Kontext der angeblichen Gelder, die am 31. März 1999 unter Bomben und serbisch-jugoslawischen Vertreibungsattacken in einem Familiengarten verbuddelt worden sein sollen. Den Angeklagten drohen wegen dieser Anschuldigungen in dem bevorstehenden Verfahren am Berliner Landgericht bis zu zehnjährige Haftstrafen.2 Einige Nebenangeklagte haben, so stellte sich zu Prozessbeginn heraus, vor Kriegsbeginn und in den ersten Kriegstagen fast alle ihre Angehörigen verloren. Jugoslawisch-serbische Einheiten haben sie erschossen. Diese Angeklagten wurden zu einem Jahr Haft ohne Bewährung verurteilt, weil sie während des Kriegs heimlich in die Bundesrepublik Deutschland eingereist waren.

Aus Menschen werden »Illegale«

Diesen Prozess in Berlin können wir im Kontext der Grenzpolitik analysieren. Zwischen 1985 und 1990 haben sich erst die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder, und nach und nach fast alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu einer gemeinsamen Außengrenzpolitik unter dem Namen Schengen zusammengeschlossen. Deren systematisch aufgebautes Feindbild sind die Flüchtlinge und MigrantInnen, die sich unkontrolliert und ohne staatliche Genehmigung das Recht der selbstgewählten Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit nehmen. Zu Beginn der 90er Jahre hat sich die Verschränkung von Flüchtlingspolitik und Europapolitik durch die Schaffung von Brennpunkten wie der Außengrenze vor allem lokal – z. B. an Oder und Neiße – artikuliert.

Aber seit 1997 – der Intervention in Albanien – und erst recht seit 1999 – der Intervention im Kosovo und in der Bundesrepublik Jugoslawien – hat sie sich zusätzlich in die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den von ihr abhängigen neuen Staatsverwaltungen in Südosteuropa verwandelt, die hier provisorisch »Protektorate« genannt werden sollen. Entsteht so ein Europa der zwei Klassen – Souveränität und Normalität der neuen EU auf der einen Seite, Ausnahmezustand und Protektion auf dem Balkan auf der anderen Seite? Privilegien für die EU-BürgerInnen einerseits und Underdogs auf der anderen Seite, denen aufgrund ihrer Balkan-Herkunft und ihrer heimlichen Ankunft in der EU die Persönlichkeit, die soziale Eingebundenheit und der juristische Status abgesprochen werden? Es sind die migrations- und flüchtlingspolitischen Analysen und Maßnahmen der letzten Jahre, die aus dem Balkan das bedrohliche Hinterland der EU gefertigt haben.

Hier ist nicht der Ort, um auf die Sezessionskriege im zerfallenden Jugoslawien einzugehen. Wichtig ist, wie die EU-Institutionen diese furchtbaren Entwicklungen in Politik übersetzen. Ähnlich wie bei der ostdeutschen Grenze Anfang der 90er Jahre regiert die flüchtlingspolitische oder gar kriminalpolitische Panikmache. Es heißt, es seien neue Instrumentarien zu entwickeln, um die Gefahren des Emigrations- und Kriminalitätsexports zu bannen. Die Fahndung entlang der Fluchtwege, die Installierung eines Frühwarnsystems und die Schaffung von »sicheren Häfen« oder in ländischen Fluchtalternativen seien die flüchtlingspolitischen Aufgaben, die sich die EU für die unmittelbare Zukunft vornehmen sollte. Die neue geopolitische Vision Westeuropas wird am deutlichsten im Strategiepapier zu Asyl und Migration erkennbar, das die österreichische EU-Präsidentschaft am 1. Juni 1998 vorgelegt hat und das wenig modifiziert vom Rat der Europäischen Union einige Monate später angenommen wurde.3

Abschottungspolitik à la EU

Die Flüchtlings- und Bevölkerungspolitik wird zum Schrittmacher einer neuen europäischen Raumordnung. Osteuropa und die übrige Welt werden nach migrationspolitischen Kriterien in eine neue Landkarte konzentrischer Kreise unterteilt. Die EU legt sich Hinterhöfe und Einflussbereiche zu. Manche Grenzfunktionen werden nun in die Herkunftsländer vorverlegt. Polizeiliche Verbindungsbeamte der EU-Staaten sind an den dortigen Flughäfen stationiert; die Kontrolle der Bevölkerung des Kosovo geschieht mit den modernsten Mitteln der Personenerfassungssysteme. Die Regionalmacht Europa, die auf die Weltbühne drängt, dehnt ihre politischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und kulturellen Machtbereiche geografisch aus. Hier überlagern neue Grenzen die auswärtigen Bevölkerungen. Die Definition der Schengener Außengrenze gehorchte in den ersten Jahren polizeilichen Imperativen.

Es war die obskure Politik des Schengener Clubs und der sogenannten Dritten Säule der Europäischen Union, in der die verschiedensten Polizeigremien und Innenministerien zusammenarbeiteten. Jetzt betritt zusätzlich die Europäische Kommission, die das Geld verwaltet und mit den Multinationalen sowie den NGOs zusammenarbeitet, die Bühne der Migrations- und Flüchtlingspolitik. Auch die »Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik« formiert sich auf diesem Feld. Mit der Expansionsgrenze verändern sich die Begründungen und Politikstile. Militärische Interventionen mit angeblichen humanitären Zielsetzungen gehören ebenso dazu wie die EU-weite Diskussion über die Renten der Zukunft und die westeuropäischen Bevölkerungsplanungen.

Da die Grenzpolitik nicht mehr nur an der Außengrenze gemacht wird, sondern auch in den Herkunftsgebieten, werden zunehmend NGOs aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit einbezogen. In Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, sind unzählige westliche Nichtregierungsorganisationen präsent. Viele von ihnen erhalten keine Gelder, wenn sie sich in Berlin um Flüchtlinge kümmern, wohl aber, wenn sie die Rückgeschobenen im Kosovo in Baracken einweisen. Und aus den Grenzschützern, denen die hiesigen Flüchtlingshilfsorganisationen unmenschliche Praktiken an der Ostgrenze und auf den Flughäfen vorwerfen, sind an der Grenze des Kosovo angeblich Friedensschützer geworden. Jüngst wurden 52 BGS-Polizisten für ihre Kontrollen an den Grenzen des Kosovo mit UN-Friedensmedaillen ausgezeichnet. Das Feindbild wandelt sich dabei. Es sind nicht mehr allein die heimlichen GrenzüberschreiterInnen, die zur Bedrohung hochstilisiert werden, sondern die so genannte Organisierte Kriminalität, die »Schlepper und Schleuser«, die auf dem Feld der Flucht und Migration kommerziell agieren.

Das zeigt auch der Prozess in Berlin: Es ist nicht mehr ausschließlich der Bundesgrenzschutz, der wie in früheren Jahren die meisten Fluchthilfeprozesse angestrengt hatte. Statt dessen hat die Landespolizei Berlin – wie auch die anderer Bundesländer – eine spezielle Ermittlungsgruppe gebildet, an der sich auch der Bundesgrenzschutz und die Berliner Staatsanwaltschaft beteiligen. In der Ermittlungsphase wurden nicht nur die Telefonate ausgewertet, sondern auch in großem Umfang die aufgezeichneten Anhörungen von AsylantragstellerInnen beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg und die angeblich nachweisbaren Geldtransfers von Berlin ins Kosovo. Die unterschiedlichsten Behörden im Landesinneren, die von ihrer Kompetenz her nichts oder nur am Rande etwas mit heimlichem Grenzübertritt zu tun haben, arbeiten mit.

Konstruktionen zur Kriminalisierung

Wie machte die Berliner Polizei aus den FluchthelferInnen bedrohliche Kriminelle? In der Anklageschrift ist keine einzige Beschwerde von allein stehenden Frauen, allein reisenden Kindern und Jugendlichen oder von um ihr Geld betrogenen Flüchtlingen notiert. Statt dessen hatten die Flüchtlinge, wenn sie von der Polizei gefasst wurden, mit Übergriffen und institutionellem Rassismus zu rechnen: Wenn ihr Fluchtweg anhand von Passeinträgen oder Fahrkarten nachweisbar war, wurden sie zurückgeschickt, über die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn bis nach Jugoslawien. Die Anklageschrift dokumentiert mehrere dieser inhumanen Kettenrückschiebungen ins Kriegsgebiet, in das Hoheitsgebiet der feindlichen Kriegspartei während der Bombardierungen – eine eklatante Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention, worauf bisher niemand aufmerksam gemacht hat.

Zur kriminellen Organisation machte die Berliner Polizei die verschiedenen FluchthelferInnen in der faktischen Zusammenarbeit mit den Sozialbehörden. Bereits vor dem Krieg begann in Berlin ein Sozialexperiment: Mit Hilfe eines neuen Gesetzes entzog der Senat den neu ankommenden Flüchtlingen aus dem Kosovo jegliche soziale Unterstützung, wenn sie keinen Pass vorlegen konnten. Bei Vorlage des Passes und eines Asylantrags erhielten sie dagegen monatlich 80 D-Mark, ein Bett in einem Lager und Fresspakete. Die gezielte Aushungerung der Neuankommenden sprach sich bis zu den Flüchtlingen im Kosovo herum. Sie mussten separat von ihrem Fluchtweg ihre Pässe über Kurierdienste bis nach Berlin verschicken.

Die Fahndungslage und die Sozialpolitik zwangen sie dazu, ohne Pass zu reisen, aber mit einem Pass in Berlin anzukommen. So entstand ein Passkurierdienst. Für 50 D-Mark kann man seinen Pass dieser parallelen Post anvertrauen. Man ruft nach der Ankunft in Berlin an und erkundigt sich nach dem Verbleib des Dokuments. Menschen sind letztlich nicht zu kontrollieren. Erst der Pass, also die behördliche Repräsentation einer Person, und erst der separate Kurierweg des Passes ermöglicht die Konstruktion eines Organisationsdelikts. Den meisten Flüchtlingen und MigrantInnen gelang die mehrfache heimliche Grenzüberschreitung durch die Transitländer bis nach Deutschland. Erst beim Versuch, ihren Pass wiederzuerlangen, gerieten sie in die Fahndungsnetze.

Und es entsteht das Feindbild der kriminellen Organisation, aus der alle sozialen Aspekte hinausgefiltert sind. Somit stehen wir vor einer neuen Diskussion. Wie können wir die Realität der Menschen aufgreifen, die nur auf heimlichem Weg ihre Herkunftsregion verlassen können? Wie können wir die unkontrollierte Migration und Flucht unterstützen, die die Grenzen zwischen den westlichen Metropolen und den neuen Protektoraten unterlaufen und überschreiten? Die neue Grenzpolitik geht nicht nur über die auswärtigen Bevölkerungen hinweg und formt sie zu Hinterhof-Insassen. Sie erfasst auch unsere gesellschaftliche Praxis, sie dehnt sich nach Innen aus. Die Berliner Sozialbehörde, die Menschen jegliche Existenzhilfe versagt, und der Prozess im Berliner Landgericht befinden sich vor unserer eigenen Tür.

  • 1Az 68 Js 347/98. Der Prozess begann am 30. Oktober 2000 vor dem Berliner Landgericht.
  • 2§ 92 b Ausländergesetz (1990): Mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer »gewerbsmäßig« oder »als Mitglied einer Bande« bei der nichtgenehmigten Einreise von Ausländern in das »europäische Hoheitsgebiet einer der Vertragsstaaten des Schengener Übereinkommens vom 19. Juni 1990 »Hilfe leistet«.
  • 3Strategiepapier zur Migrations und Asylpolitik, 1.7.1998, 9809/98, CK 4 27, ASIM 170.