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»Das Vaterland erwacht«. Antisemitische Anschläge und antikaukasische Pogrome in Russland

Ein Artikel der Russlandkorrespondentin des AIB
Einleitung

Am 27. Mai 2002 versuchte eine 27jährige Frau in Moskau ein an einer Schnellstrasse platziertes Plakat mit der Aufschrift »Tod den Juden« zu entfernen. Dabei ging eine am Schild befestigte Bombe in die Luft und verletzte die Frau schwer. Der Anschlag gilt als erstes antisemitisches Sprengstoffattentat in der jüngsten Geschichte Russlands, das gegen Personen gerichtet war. Die Täter sind bis dato unbekannt. In diesem Artikel versuchen wir, diesen Anschlag mit anderen aktuellen Ereignissen in Verbindung zu setzen und die Situation der rassistischen und antisemitischen Gewalt in Russland darzulegen.

Die »Plakatbombe« bereitete den Weg für eine Reihe weiterer Anschläge in unterschiedlichen Regionen Russlands. Mit einer weiteren Ausnahme waren es jedoch Bombenattrappen. Das Ziel, allen jüdischen und antifaschistisch denkenden Menschen zu drohen, wurde auch ohne echten Sprengstoff erreicht. Sehr beunruhigend macht solche Anschläge der Umstand, dass sie leicht nachgeahmt werden können: Weder spezielle Kenntnisse zum Bau von Bomben, noch Zugang zu Sprengstoff sind nötig, um Attrappen zu bauen, was durch die Festnahme eines 14jährigen, der als Hersteller festgenommen wurde, bekräftigt wird.

Die »Plakatanschläge«, die insgesamt drei Leute verletzten, stellen eine neue Form der faschistischen Gewalt dar, eine andere gehört in vielen Teilen Russlands praktisch zur Tagesordnung. Am 10. 9. 2002 überfielen sieben Skinheads auf einer U-Bahn-Station in Moskau einen 32jährigen Studenten aus Senegal. Er musste im Krankenhaus behandelt werden. Seit Beginn diesen Jahres sind ca. 60 solcher Fälle bekannt geworden – die Dunkelziffer liegt viel höher. Das Angriffsziel sind »Nichtrussen«, Menschen, die für die Täter nicht »slawisch« aussehen. Dieser essentiell rassistische Charakter wird in der öffentlichen Diskussion oft übersehen, wenn die Opfer als Einwanderer bezeichnet werden.

Seit 1998 sind solche Überfälle an der Tagesordnung, aber erst nach den Moskauer Ausschreitungen 2000-2001 wurden Presse und Öffentlichkeit darauf aufmerksam. Nach den ersten größeren Randalen im Anschluss an das Konzert einer Naziband, die zu einer Massenschlägerei mit der Polizei führte, wurde das Medienphänomen »Skinhead« entdeckt. Die meisten Experten unterschätzten die Fähigkeit der Skinhead-Szene, große Aktionen geplant durchzuführen. Daher kamen die Pogrome in Jasenewo (Moskau) zum Hitler-Geburtstag am 21. 4. 2000 unerwartet. Damals überfielen ca. 100 teilweise mit Eisenstangen bewaffnete Jugendliche einen Markt und schlugen mehrere »Kaukasier« brutal zusammen. Andere verteilten dabei nationalistische Flugblätter.

Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema lief als emotionale Schilderung von »bösen Horden Jugendlicher«, welche eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen. Dass in erster Linie die Ordnung als gefährdet gesehen wurde und nicht etwa die Opfer, zeigt auch die gleichwertige Behandlung von den Pogromen in Jasenewo und Zarizyno einerseits und Ausschreitungen von Fußballfans andererseits. Schuld an der Gewaltbereitschaft und Verbreitung von rassistischen Einstellungen sei die Verarmung der Bevölkerung und die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Die Frage, warum soziale Misere ausgerechnet zu nationalistischer Mobilisierung führen sollte, wurde bisher nicht gestellt, dadurch wurde der rechte Diskurs in seinen Teilen unkritisch reproduziert.

Der Nationalitäten-Minister Sorin erklärte die Verbreitung des Extremismus mit der unkontrollierten Migration, durch die eine abnormale Situa-tion entstehe. Am 27. Juni 2002 wurde vom Parlament das »Gesetz zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten« verabschiedet. Die Notwendigkeit wurde vom Initiator, Präsident Putin, unter anderem mit den neueren Ausschreitungen begründet. Selbstverständlich erfüllt das Gesetz die Funktion, dass entschlossenes Handeln gegen Rechts demonstriert wird. Es wird aber vor allem eine rechtliche Grundlage zur Verfolgung jeglicher politischer Opponenten oder Konkurrenten geschaffen. Experten sind sich einig, dass die alten Paragrafen durchaus für die Verfolgung der Verbrechen mit rechtsextremem Hintergrund gereicht hätten.

Am 7. Juli 2002 fand in Krasnoarmejsk, einer Kleinstadt bei Moskau, ein antiarmenisches Pogrom statt: Am Tag nachdem ein Armenier einen Russen bei einer Schlägerei mit einem Messer verletzte, wurden armenische Menschen von einem Mob nicht nur auf der Straße, sondern auch in ihren Wohnungen überfallen und brutal geschlagen. Einige Täter wurden festgenommen. Wenige Tage später fand eine Kundgebung mit den Forderungen, »unsere unschuldigen Jungs« zu entlasten und »Fremde« abzuschieben, statt. Damit war eine neue Stufe erreicht: Die stillschweigende Sympathie für »unsere Jungs«, die mehrere JournalistInnen auch nach den Pogromen in Moskau dokumentierten, wurde zur politischen Realität. Diese Aktion wurde von der »Bewegung gegen illegale Immigration« organisiert, die angeblich von empörten BürgerInnen von Krasnoarmejsk gegründet wurde.

Vieles, unter anderem die Professionalität der Kampagne und absolute Undurchsichtigkeit der Organisation, deutet jedoch daraufhin, dass die »Bewegung« eher ein neues Label zur Öffentlichkeitsarbeit alter Nazi-Strukturen ist. Was bisher ausblieb, war die politische Gegenreaktion auf die faschistische Gewalt. Die Empörung über Pogrome bzw. Anschläge wurde eher am Küchentisch ausgetragen. Teilweise liegt es an der allgemeinen Resignation, die sich auch bei politisch denkenden Menschen verbreitet, aber auch am Fehlen der Tradition des Straßenprotestes – auf die Straße zu gehen oder auf andere Weise seine Position auszudrücken. Unter heutigen Bedingungen bedarf es einer massiven Mobilisierungsarbeit, um Gegenstimmen laut zu machen und den Rassisten die Möglichkeit zu entziehen, sich auf den »angeblichen« Willen des Volkes zu berufen.

In Russland gibt es momentan kaum Strukturen, die dies leisten könnten. Ein positives Zeichen stellte allerdings der öffentliche Auftritt einer MigrantInnen-Initiative aus Moskau dar, welche die oben genannte »Bewegung gegen illegale Immigration« scharf kritisierte. Beim Vergleich antisemitischer mit rassistischen Gewalttaten wird deutlich, dass hier jeweils unterschiedliche Formen vorherrschen: Praktisch alle rassistischen Aktionen gegen »Schwarze« sind mit physischer Gewalt gegen Menschen verbunden. Auch Pogrome, die durch ihr Ausmaß die Qualität des Terrors gegen eine gesamte Bevölkerungsgruppe erreichen, basieren auf der Gewaltanwendung gegen Menschen. Antisemitische Überfälle sind dagegen selten. Antisemitische Aktionen haben den Charakter des Kampfes gegen einen Feind, der nicht auf konkrete Personen reduzierbar ist – wie jeder konkrete Armenier bei den Rassisten für »Kaukasier« steht. Antisemitische Anschläge sind in grösserem Ausmaß symbolisch beladen.

Diese Differenz entspricht den ideologischen Unterschieden zwischen dem russischen Rassismus und dem Antisemitismus in seiner gegenwärtigen Gestalt. Das Feinbild »Juden« ist im Vergleich zu Zeiten der Entstehung des modernen Antisemitismus im späten russischen Reich zu einer rein mystischen Vorstellung von der unsichtbaren feindlichen Macht geworden. Es ist also vor allem verschwörungstheoretisch geprägt und braucht dementsprechend auch keine alltägliche Verankerung. Heute ist der Antisemitismus vor allem bei politisch engagierten Rechtsradikalen offen präsent – allerdings kommen auch verdeckte Ressentiments immer wieder im Alltag zum Ausdruck. Dagegen sind »die Schwarzen« durchaus sichtbare »Fremde«: Die Menschen, welche den traditionell im Kaukasus lebenden Ethnien angehören, sind in vielen Regionen Russlands alltäglich präsent. Alle Menschen mit dem unterschiedlichsten Hintergrund, aber mit »typischem« Aussehen werden in das Stereotyp der »Person kaukasischer Nationalität« hineingequetscht.

Im heutigen russischen Rassismus werden die klassischen Ideen der eigenen Überlegenheit mit den eher für den Antisemitismus typischen Ängsten vor der Überlegenheit der Fremden kombiniert. Sie seien ökonomisch erfolgreicher und dadurch eine Gefahr, gerade weil sie moralisch unterlegen seien und sich durch die Kriminalität und den Handel bereichern würden Zur Entwicklung dieses Rassismus trug nicht unwesentlich die staatliche Propaganda in Bezug auf den Tschetschenien-Krieg bei, sowie die diskriminierende Praxis gegenüber MigrantInnen. Durch erschwerte Anmeldeprozeduren werden sie illegalisiert und aufgrund dessen noch kriminalisiert: Für Menschen mit fehlender Registration ist z.B. die Eingliederung in die normale Arbeitswelt erschwert, außerdem sind sie ständigen Polizeikontrollen ausgeliefert, bei denen Bestechungsgeld verlangt wird. Die besondere »Wachsamkeit« der Polizei ist per se rassistisch und dient zugleich als Vorlage des Alltags- und Medienklischees der »Kaukasierkri-minalität«.

Die Politik gegenüber der schwächsten Gruppe unter MigrantInnen, den Flüchtlingen, kann nicht anders als menschenverachtend bezeichnet werden. Deshalb wundert es nicht, dass die staatlichen Strukturen nicht gegen den Rassismus und Faschismus, sondern gegen den diffusen »Extremismus« vorgehen wollen. Wie wir sehen, formulieren der Antisemitismus und der russische Rassismus unterschiedliche Feindbilder und bedienen diverse Ressentiments. Die Einschätzung, dass an die Stelle des Antisemitismus der antikaukasische Rassismus getreten sei, ist nicht korrekt. Diese Meinung verbreitete sich in zivilgesellschaftlichen Kreisen vor einigen Jahren und wurde an der rapiden Entwicklung rassistischer Stimmungen in vielen Massenmedien und in Alltagsdiskursen praktisch aller sozialen Gruppen festgemacht. Der Rassismus gegenüber »Schwarzen« kann den Antisemitismus jedoch nicht auswechseln, denn sie konkurrieren miteinander nicht, sondern sind komplementär.

So verabschiedete das Parlament der Region Krasnodar, deren Gouverneur die jüdische Verschwörung für ökonomische Probleme verantwortlich erklärte, als erstes ein drastisches Migrationsgesetz. Es war nicht unsere Aufgabe, die Ursachen dieser durchaus beunruhigenden Situation antisemitischer und rassistischer Gewalt zu untersuchen – das bedürfe einer eigenständigen Forschung. Aber ein paar Worte zu den Perspektiven: Das Mobilisierungspotenzial der rassistischen Gewalt gegen »Kaukasier« ist in Russland momentan durchaus hoch, und von dieser rechten Welle – in Kombination mit den offen antisemitischen Auswüchsen des Antizionismus – kann auch der Antisemitismus mitgetragen und aktualisiert werden.