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Die Ordnungspolizei im Nationalsozialismus

Einleitung

Terrorismus als Lebensform

Spätestens die sog. Wehrmachtsausstellung zerstörte den Mythos von der »sauberen Wehrmacht«. Doch welche Rolle spielten andere Institutionen im Vernichtungskrieg und bei der Durchführung der Shoah? Die Bücher der amerikanischen Historiker Christopher Browning (»Ganz normale Männer«) und Daniel J. Goldhagen (»Hitlers willige Vollstrecker«) machten bereits vor einigen Jahren auf eine Tätergruppe aufmerksam, die zuvor nur wenig Beachtung erfahren hatte: Die Ordnungspolizei. Grund genug noch einmal einen Blick auf diese Behörde zu werfen, die bis in die Gegenwart ähnlich wie die Wehrmacht als »saubere« Organisation galt.

Bild: Bundesarchiv, Bild 101I-030-0780-28 / Kintscher /CC BY-SA 3.0

Deutsche Ordnungspolizisten führen eine Razzia gegen Juden in Krakau durch.

Die Ordnungspolizei und der Holocaust

Am 13. Juli 1946 gab Adolf von Bomhard, Generalleutnant der Polizei a.D. und während des Nationalsozialismus als Chef des Kommandoamtes im Hauptamt Ordnungspolizei tätig, eine eides-stattliche Erklärung vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal ab. Bomhard sollte zu Vorwürfen Stellung nehmen, die Ordnungspolizei habe sich an Ghettoräumungen, Massenerschießungen und Deportationen beteiligt. Die Aussagen des ehemaligen hochrangigen Polizeiführers waren ebenso eindeutig wie falsch. So betonte er kategorisch: »Von Ausrottungsaktionen war dem Hauptamt Ordnungspolizei nie etwas bekannt.« Und: »Judenaktionen[...] waren reine Angelegenheiten der Sicherheitspolizei.«1 Diese Behauptungen bildeten den Grundstock einer langlebigen Legende, die über Jahrzehnte hinweg kaum hinterfragt wurde. Demnach waren in erster Linie die im Reichsicherheitshauptamt (RSHA) zusammengefassten Organisationen wie die Geheime Staatspolizei (Gestapo) oder der Sicherheitsdienst (SD) der SS die Verantwortlichen. Die »normale« Polizei habe dagegen – genauso wie die Wehrmacht – mit den Mordaktionen in Ost- und Südosteuropa nichts zu tun gehabt, ja sie sei sogar zu einem »arme(n)Opfer Heydrichscher und Himmlerscher Ostpolitik« geworden.2 Die Dreistigkeit, mit der zahlreiche Polizeiführer ihre Interpretation der Geschichte vortrugen und die Bereitschaft in großen Teilen der Gesellschaft, dieses Gemisch aus Halbwahrheiten, Verzerrungen und Lügen zu glauben, waren beachtlich.

Polizei im Dienste der »Volksgemeinschaft«

Die Organisation der deutschen Polizei im Nationalsozialismus war durch starken Zentralismus gekennzeichnet. Das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934 beseitigte den Föderalismus, indem es u.a. die Landespolizeibehörden dem Reichsinnenminister unterstellte. Die geschlossenen Einheiten der Schutzpolizei wurden als eine Art »Polizeiarmee« mit einer Gesamtstärke von 56.000 Mann neu organisiert und erhielten eine zunehmend militärische Ausbildung. Im Juli 1935 gingen diese Verbände schließlich in der Wehrmacht auf. Heinrich Himmler trieb den Umbau der Polizei weiter. Kurz nach seiner Ernennung zum »Chef der Deutschen Polizei« im Juni 1936 gliederte er seine Behörde in das Hauptamt Sicherheitspolizei (ab 1939 RSHA), das Kriminalpolizei, Gestapo und SD vereinigte und das Hauptamt Ordnungspolizei, dem die verschiedenen Abteilungen der uniformierten Polizei, der Verwaltungspolizei sowie die Zuständigkeit für die Feuerwehr, den Luft- und Katastrophenschutz zugeteilt wurden.3 Ziel der Neustrukturierung war es, die Polizei stärker mit dem SS-System zu verzahnen um somit die völkische Staats- und Gesellschaftsauffassung des Nationalsozialismus effektiver abzusichern.

Die Polizeibataillone

Darüber hinaus wurde die Ordnungspolizei in die Kriegsvorbereitungen des »Dritten Reichs« miteinbezogen. Um die dünne Personaldecke aufzufüllen begann man mit der Aufstellung besonderer Polizeiverbände, die sich zunächst aus ca. 26.000 Männern rekrutierten, die nicht zur Wehrmacht eingezogen wurden. Ab 1940 bildeten diese Einheiten insgesamt 31 quasi militärische Polizeibataillone. Außerdem wurden seit 1937 91.500 ältere Polizeireservisten in Reserve Polizeibataillonen zusammengefasst. Die Zahl der Ordnungspolizisten stieg damit bis 1940 von 62.000 Beamten (1938) auf 244.500 in insgesamt 101 Polizei-bzw. Reservepolizeibataillonen.4 Über deren Aufgabe bestand kein Zweifel: Bereits im März 1938 beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich waren Einheiten der Ordnungspolizei im Einsatz gewesen, ebenso während des Einmarsches in das Sudetenland und in die »Rest-Tschechei« 1938/39. Im Rahmen der deutschen Eroberungsfeldzüge quer durch Europa verfestigte sich diese Praxis: Die Wehrmacht rückte vor, die Ordnungspolizei folgte.

Massenmord in Osteuropa

Als unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 die Massaker an den Juden begannen, waren daran verschiedene Polizeibataillone beteiligt. So rekrutierten sich z.B. die Mannschaften der berüchtigten vier Einsatzgruppen des RSHA nicht nur aus Mitgliedern des SD, der Gestapo oder der Kriminalpolizei, vielmehr stammten von den insgesamt 3000 Personen rund 500 aus den Reihen der Ordnungspolizei.5 Zusammen mit der Waffen-SS, die ebenfalls Personal für die Einsatzgruppen abstellte, fungierten die Polizisten als »Männer fürs Grobe«. Das unfassbare Ausmaß, das die Vernichtungsaktionen dieser Einheiten annahm, kann hier nur angedeutet werden. So ermordete die Einsatzgruppe C am 29. und 30. September 1941 in Babij Jar bei Kiew 33.771 Juden – mit tatkräftiger Unterstützung einiger Polizeibataillone.6 Die Ordnungspolizei verübte aber auch Massaker in eigener Verantwortung. Direkt nach dem Überfall auf die Sowjetunion rückte das Polizeibataillon 309 am 26. Juni 1941 in die Stadt Bialystok ein und führte dort Razzien in den jüdischen Vierteln durch. Bereits dabei kam es zu brutalen Übergriffen auf die Bewohner. Schließlich wurden mindestens 800 Juden zusammengetrieben und in die nahegelegene Synagoge gesperrt. Die Ordnungspolizisten setzten das Gebäude in Brand. Menschen, die zu fliehen versuchten, wurden erschossen.7 Anfang Juli trafen die Polizeibataillone 316 und 322 in Bialystok ein. Am 8. Juli wurde das Judenviertel erneut durchsucht und ca. 1000 Personen festgenommen, die allesamt außerhalb der Stadt erschossen wurden. Am folgenden Tag erklärte der angereiste Chef des Hauptamtes Ordnungspolizei in einer Rede, die Polizeieinheiten könnten stolz darauf sein, »an der Niederringung des [...] Bolschewismus mit beteiligt zu sein.«8

Das Fußvolk der »Endlösung«

Der Vernichtungsfeldzug gegen den »jüdischen Bolschewismus« vollzog sich in zwei Wellen. Die Massaker in der ersten Phase zwischen Juni und Dezember 1941 verliefen meist willkürlich. Die Durchkämmungsaktionen von Ordnungspolizei und Einsatzgruppen waren nicht »flächendeckend« und orientierten sich am Vormarschtempo der Wehrmacht. Vielfach wurden Juden nicht sofort ermordet, sondern in Ghettos gepfercht oder zum »Arbeitseinsatz« gezwungen. In der zweiten Phase, die im Dezember 1941 begann und im Jahr 1943 ihren Abschluss fand, kam es zu einer Systematisierung der Vernichtungsaktionen, bei denen auch die Ordnungspolizei weiterhin eine zentrale Rolle einnahm. In den besetzten Gebieten der Sowjetunion sowie im Generalgouvernement wurden die Ghettos aufgelöst und deren Bewohner in die Vernichtungslager deportiert. An den verschiedenen Etappen des Massenmordes waren Polizeibeamte, gewissermaßen als »Fußvolk der ‚Endlösung’« (Klaus-Michael Mallmann) beteiligt: Die Ordnungspolizei bewachte die Ghettos, trieb deren Bewohner zusammen, zwang die Menschen in die Deportationszüge und erschoss diejenigen, die nicht mehr gehen konnten. Gerieten die Deportationen ins Stocken, führten Polizeieinheiten Massenerschiessungen direkt vor Ort durch. Nicht zuletzt diese Aktionen, die oftmals unter dem Deckmantel vermeintlicher »Bandenbekämpfung« abliefen, korrigieren die gängige Metapher von den »Todesfabriken«, in denen sich der Holocaust scheinbar subjektlos vollzog. Um die Vernichtungsmaschinerie am Laufen zu halten, bedurfte es nämlich sowohl in den Lagern als auch bei den Massenexekutionen zahlreicher Eigeninitiativen der Täter.9 Gerade der Blick auf die Praktiken der Ordnungspolizei zeigt, wie groß die Bereitschaft der Beamten war, »mitzumachen« und sich freiwillig am Mordprogramm des Nationalsozialismus zu beteiligen. Der Hinweis auf einen vermeintlichen Befehlsnotstand, mit dem zahlreiche Polizisten in späteren Jahren versuchten, sich zu rechtfertigen, entpuppt sich in diesem Zusammenhang als eine jener Legenden, die dazu beitragen sollten, die Verbrechen zu relativieren und letztlich aus Tätern Opfer zu machen. Fest steht: Den Angehörigen der Erschießungskommandos boten sich meist mehrere Möglichkeiten, sich zu entziehen oder sogar »offiziell« entsprechende Befehle zurückzuweisen. Kein einziger Polizist oder Wehrmachtssoldat wurde für die Weigerung an einer Massenerschießung mitzuwirken vor ein Kriegsgericht gestellt, in ein Konzentrationslager eingewiesen oder hingerichtet. Dennoch: Die Zahl derjenigen, die diese Handlungsspielräume nutzten, blieb verschwindend gering.

Ganz normale Männer

Dabei entsprach die Mehrheit der Ordnungspolizisten nicht von vornherein der Vorstellung vom nationalsozialistischen Überzeugungstäter, wie er etwa beim SD zu finden war. Der Anteil an NSDAP-Mitgliedern etwa im Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 lag bei 25 Prozent, was nur knapp über dem Reichsdurchschnitt (20 Prozent) lag.10 Die Polizeibeamten wurden zwar fortwährend weltanschaulich geschult, im Rahmen des Dienstalltags spielte dieser Unterricht aber eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Den Polizeibataillonen gehörten darüber hinaus zahlreiche Personen an, die sich zur Polizei gemeldet hatten, um auf diesem Wege der Einberufung zur Wehrmacht zu entgehen. Die mörderischen Handlungsmuster dieser vermeintlich »ganz normalen Männer« waren jedoch kaum von den Praktiken der SS zu unterscheiden. Die Motive, die den Taten der Ordnungspolizisten zugrunde lagen, waren unterschiedlich. Eine zentrale Rolle spielten zweifellos antisemitische und rassistische Einstellungen, die nicht unbedingt deckungsgleich sein mussten mit den Inhalten nationalsozialistischer Propaganda.11 Von Bedeutung waren zudem weit verbreitete Vorstellungen von »deutscher Qualitätsarbeit«, die sich in dem Drang ausdrückten, den Auftrag so perfekt wie möglich auszuführen.12 Nicht zu unterschätzen für die sich zunehmend radikalisierenden Handlungsmuster war auch die Binnenstruktur der Polizeibataillone. Hier bildeten und verstärkten sich Selbstbilder von Männlichkeit und Härte. Die emotionale und soziale Bindung an die Gruppe, das Bedürfnis nach Kameradschaft, die Schutz gegenüber den vermeintlichen Bedrohungen einer feindlich wahrgenommenen Umwelt versprach, förderte eine Entwicklung, die zu einer Verrohung der Polizisten und somit zu kaum fassbaren Dimensionen von Brutalität und Gewalt führte. Davon freilich wollte kaum jemand nach 1945 etwas gewusst haben oder etwas wissen. Dabei waren die Hinweise auf die Beteiligung der Ordnungspolizei am Holocaust und am »Vernichtungskrieg« von Anfang an unübersehbar. In zahlreichen Erfahrungs-und Einsatzberichten über Massenexekutionen wurden die jeweils schießenden oder dabeistehenden Polizeiverbände eindeutig benannt. Die 1958 eingerichtete Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg ermittelte in etlichen Fällen, und seit Beginn der sechziger Jahre mussten sich wiederholt ehemalige Angehörige der Ordnungspolizei vor Gericht verantworten. Die Zahl der rechtskräftigen Verurteilungen blieb freilich äußerst niedrig, was zum einen an oftmals desinteressierten Justizbehörden lag, zum anderen an einer gut organisierten »Kameradenhilfe«, die die Angeklagten mit Verhaltens- und Rechtshilfetipps versorgte.13 Dennoch: Die Feststellung, dass die Ordnungspolizei in die Vernichtungsaktionen mit eingebunden war, mehr noch: dass das Ausmaß der Vernichtung ohne die Beteiligung der Polizeiverbände kaum derartige Dimensionen erreicht hätte, ist kaum zu leugnen.

  • 1Zit. nach Klaus-Michael Mallmann, Vom Fußvolk der »Endlösung«. Ordnungspolizei, Ostkrieg und Judenmord, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXVI/1997, S. 355-391, hier: S. 356.
  • 2Ebd., S. 357.
  • 3Vgl. Friedrich Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, 2. Aufl., Paderborn 1999.
  • 4Angaben nach: Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 24-26.
  • 5Ebd., S. 29.
  • 6Vgl. Dieter Pohl, Die Einsatzgruppe C, in: Peter Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 71-87.
  • 7Vgl. Michael Okroy, »Man will unserem Batl. was tun...« Der Wuppertaler Bialystok-Prozess 1967/68 und die Ermittlungen gegen Angehörige des Polizeibataillons 309, in: Alfons Kenkmann/Christoph Spieker (Hg.), Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort Villa ten Hompel, Essen 2001, S. 301-317.
  • 8Zit. nach Winfried Nachtwei, »Ganz normale Männer«. Die Verwicklung von Polizeibataillonen aus dem Rheinland und Westfalen in den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg, in: Alfons Kenkmann (Hg.), Villa ten Hompel. Sitz der Ordnungspolizei im Dritten Reich. Vom »Tatort Schreibtisch« zur Erinnerungsstätte?, Münster 1996, S. 54-77, hier S. 66.
  • 9Vgl. Alf Lüdtke, Der Bann der Wörter: »Todesfabriken«. Vom Reden über den NS-Völkermord – das auch ein Verschweigen ist, in: Werkstatt Geschichte 5 (1996), S. 5-18.
  • 10Vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 69.
  • 11Zu den antisemitischen Motiven der Ordnungspolizisten vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 313-331.
  • 12Vgl. Alf Lüdtke, Die Praxis von Herrschaft: zur Analyse von Hinnehmen und Mitmachen im deutschen Faschismus, in: Brigitte Berlekamp/Werner Röhr (Hg.), Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, Münster 1995, S. 226-245.
  • 13Vgl. Martin Hölzl, Grüner Rock und weiße Weste: Adolf von Bomhard und die Legende von der sauberen Ordnungspolizei, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), S. 22-43.