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»Das eigene Leid begreift man nicht« (3)

Erin McGlothlin
Einleitung

Fred Wanders »Der siebente Brunnen und die Geschichte des Selbst«

Bild: attenzione-photo.com

Allmählich nimmt der Erzähler Mendel Teichmanns Lektion in sich auf. Er öffnet seine Augen und beginnt das verborgene Wesen seiner Mithäftlinge tatsächlich zu sehen. Der Erzähler spricht wiederholt vom Beobachten und, wie Walter Grünzweig aufgezeigt hat, gibt es im gesamten Text unzählige Metaphern des Sehens und Betrachtens. Schließlich verwandelt sich das Sehen des Erzählers in Sprechen: Beobachtung und Betrachtung werden Bericht. Seine Beobachtungen werden zu Variationen eines Themas. Wie Pechmanns »Fünf Finger auf einem Brett« werden seine Erzählungen zu einer Improvisation der Notwendigkeit, die trotz ihrer offensichtlichen Einschränkungen etwas Entscheidendem eine Stimme verleihen. An einem Punkt ist der Erzähler so sehr in seine phantasievolle Artikulation vertieft, daß er sich vorstellt, er sei zum Medium für Mendel Teichmanns eigener narrativer Autorität geworden. In einer Unterhaltung mit Pépé ruft er überrascht: »Ihr werdet alle Sorten von Leuten brauchen, sagte ich, wenn die Revolution gemacht ist! Mir blieb die Luft weg, das war nicht ich, aus mir redete Mendel Teichmann! Was hatte Teichmann mit mir gemacht? Was hatte Pechmann mit mir gemacht. Und was würde Pépé mit mir machen.« (S. 81)

Wie dieser Abschnitt zeigt, übernimmt der Erzähler gleichsam Mendels Talent des Geschichtenerzählens, indem er die Stimmen der Mithäftlinge kanalisiert. So wird der Moment, in dem Mendel durch den Erzähler spricht, zu einem dualen Akt der Narration. Nicht nur wird der Erzähler zum Organ, das Mendels einmalige Fähigkeit des Geschichtenerzählens bewahrt, sondern er verleiht auch Mendels eigenen Geschichten (und den Geschichten der anderen), die durch seinen Tod verstummt sind, eine Stimme. Im Verlauf des Buches beweist der Erzähler, daß er Mendel Teichmanns Art des Geschichtenerzählens vollends angenommen hat, da er über die einfache Beschreibung der Erfahrungen seiner Kameraden hinausgeht und das Wesen ihrer Leben durch sinnliche Wahrnehmung belebt. Im Kapitel »Vom Geruch der alten Städte« schreibt er: »Ohne jemals in Odessa gewesen zu sein, in Granada, in Riga, Lemberg oder Kursk, hatte ich doch den Geruch der alten Städte kennengelernt, in der nachtschwarzen Baracke, aus einzelnen beklommenen Worten, melancholischen Geständnissen, Liebeserklärungen an einen Ort, eine Vorstadtstraße, an ein schmales Hintergärtchen mit einem Birnbaum, eine bemooste Vorgartentreppe, an ein kleines Haus. O Schicksal der Juden: Sie, die Weitgewanderten, hängen, wenn sie seßhaft werden, mit verzweifelter Liebe an dem Stück Boden. Wenn sie gewaltsam oder durch eigenes Verschulden ihre Heimat verlieren, tragen sie die Sehnsucht nach einem Fleck Erde untröstlich mit sich herum. Die überall Fremden haben einen ausgeprägten Sinn für das tief Verwurzelte. An jedem Fenster, jeder Pforte spüren sie wehmütig den vertrauten Duft eines Stückchens Heimat, auch wenn es die Heimat der anderen ist!« (S. 91)

Diese Passage fungiert strukturell analog zu Mendels Unterricht im Geschichtenerzählen. Der Erzähler ist, trotz Mendels Einwand, daß er das Anliegen der Unterrichtsstunde komplett falsch verstanden habe, letztendlich in der Lage, seine Augen und Poren zu öffnen, »die inneren Kräfte« der anderen wahrzunehmen und diese in einer Erzählung zu vereinen. Indem der Erzähler durch seine sinnlichen Kräfte die Heimat seiner Mitgefangenen heraufbeschwört, wiederholt er Teichmanns Kunst, das Haus des Bürschleins zu imaginieren. Wie auch Mendel muß der Erzähler die tatsächliche Umgebung nicht persönlich kennen bzw. erfahren haben, um ihr eine Stimme zu verleihen. Es ist eher so, daß er es im Prozeß des kreativen Imaginierens vermag, die Essenz aus den verschiedenen Orten jüdischen Lebens herauszudestillieren und dem Geist bzw. der Seele, die diesen Plätzen innewohnte eine Stimme zu verleihen. Der Erzähler verwandelt sich durch seine Vorstellungskraft in einen wahren Geschichtenerzähler, einen, der die Erfahrungen einer Kultur, die vor seinen Augen zerstört wird, ausdrückt.

Wesentlich ist jedoch, daß der Erzähler, indem er den stummen Leben der anderen durch seine Geschichten eine Stimme schenkt, in gewisser Weise seine eigene Stimme in den Hintergrund drängt. Wie er in obigem Zitat feststellt (»das war nicht ich«) schweigt er über seine eigene Erfahrung, während er die Geschichten seiner Lagerkameraden erzählt. Der Leser lernt den Erzähler also nur in seiner Funktion als Geschichtenerzähler kennen, besonders da letzterer die eigene Undurchsichtigkeit dadurch unterstützt, daß er die Leben der anderen auf gewisse Weise transparent macht. Ein möglicher Grund für die zunehmende Zurückhaltung des Erzählers hinsichtlich seiner eigenen Erfahrung, die in deutlichem Widerspruch zu seinem fließenden Erzählen der Geschichten der anderen steht, findet sich am Ende von »Vom Geruch der alten Städte«, als der Erzähler Feinbergs Stimme annimmt, um Feinbergs imaginierte Heimkehr zu beschreiben: »Ich werde weinen und nichts begreifen.

Man begreift das Leid der andern, man findet sogar Worte des Trostes, findet Rat für andere, die alles verloren haben. Das eigene Leid begreift man nicht.« (S. 97) Obwohl der Erzähler hier angeblich Feinbergs Worten Ausdruck verleiht und dessen persönliche Verzweiflung übermittelt, kann man die Aussage auch so lesen, daß sie eher auf die Situation des Erzählers zutrifft, denn sie faßt das gesamte Projekt – die Geschichte der Lager zu erzählen – zusammen. Da der Erzähler keinen Zugang zu seinem eigenen Kummer und Leid hat, konzentriert er sich statt dessen auf die Leidensgeschichten der anderen, die er in Worte zu fassen vermag. Christa Wolf bezeichnet die Abwendung vom unverständlichen und unaussprechbaren Trauma des Selbst als »Selbst-Verfremdung« – ein Schritt, der dem Erzähler die Distanz gewährt, die er benötigt, um sich auch nur ansatzweise der Erfahrung der Lager zu nähern. Das ›Ich‹ zieht sich fast bis zur Selbstauslöschung zurück, damit es das größere Narrativ der kollektiven Geschichte verstehen und vermitteln kann.

Paradoxerweise ist es jedoch gerade das Sprechen über die Schmerzen der anderen, kanalisiert durch die narrative Instanz, die es dem Erzähler ermöglicht, sich seiner eigenen Geschichte anzunähern und zu seinem eigenen autobiographischen ›Ich‹ zu gelangen. In einer der überwältigendsten Geschichten in Wanders Text, »Woran erinnert dich der Wald?«, versucht der Erzähler, die Geschichte von Tadeusz Moll zu erzählen, die Geschichte eines Jungen, der wider Erwarten vor den Gaskammern in Auschwitz gerettet wurde und somit die unausweichliche Todesstrafe des Sonderkommandos überlebte, nur um in Crawinkel zum Tode verurteilt zu werden, weil er während einer Arbeitsschicht schlief. Er wird tagelang auf einem Podest gefesselt und erwartet gemeinsam mit den anderen Gefangenen seine Exekution. Die Geschichte von Tadeusz Moll stellt aus zwei widersprüchlichen Gründen eine besondere Herausforderung für den Erzähler dar.

Wie Birgit Kröhle aufgezeigt hat, identifiziert er sich sehr stark mit dem Jungen, dessen Auschwitzerfahrung den Platz seiner eigenen nicht evozierten Auschwitzvergangenheit einnimmt. Trotz seiner sympathisierenden Identifikation ist er jedoch nicht in der Lage, wirklich zu wissen, was der Junge durchlebt, während er am Pfahl gefesselt ist. Der Erzähler ist einerseits mit Moll verbunden, aber auch ganz von ihm getrennt. Er stellt sich Molls Gedanken vor und akzeptiert gleichzeitig die Barriere, die ihm den Zugang zu Molls eigener Erfahrung versperrt: »Sie waren nicht mehr bei uns, die Delinquenten. Noch nicht drüben und nicht mehr hier. Wie heißt jenes fremde Land an der Grenze?« (S. 116f.) Die Grenze, von der der Erzähler spricht, repräsentiert die radikale Spaltung zwischen dem sicheren Wissen über das eigene Selbst und dem epistemologischen Problem die Erfahrungen der anderen zu kennen. Er ist nicht in der Lage, diese Grenze zum unbekannten Territorium zu durchbrechen, da Tadeusz Molls Erfahrung so beispiellos ist, daß der Erzähler keine narrative Form zur Verfügung hat, die ihr einen Rahmen verleihen würde. Es ist eine Grenze, die an das Unbekannte stößt, an einen Ort, der nur mit reiner Phantasie erreicht werden kann.

Der Erzähler verhandelt das epistemologische Problem, Molls Geschichte zu erzählen, auf zweierlei Weise. Um Molls Erfahrung an die Oberfläche bringen zu können, verwirklicht er einerseits die Teichmannsche Methode einer sich ausdehnenden Vorstellungskraft, indem er aus wenigen Details eine lange Folge von Molls möglichen Gedanken konstruiert. Der Erzähler erklärt ganz deutlich, daß dieses Imaginieren weit über die Grenzen eines Berichts hinausgeht. Auf seine eigenen Fragen, warum Moll und die anderen Häftlinge nicht einfach davongerannt sind oder sich selbst töten, indem sie in den Stacheldrahtzaun rennen, antwortet er: »Es gibt keine Antwort. Keiner, der unter jenem Galgen gestanden hat, konnte eine Nachricht hinterlassen oder auch nur ein Wort. Vielleicht gibt es doch eine Antwort. Eine fiktive Antwort.« (S. 119) Wie auch mit der Metapher der Grenze zieht der Erzähler hier eine Linie zwischen der Antwort, die in Molls eigenem subjektiven Wissen über die Situation liegt, von der der Erzähler getrennt ist, und der Antwort, die er selbst erfinden muß, um überhaupt Zugang zu Molls Erfahrung zu haben. Aber die fiktive Vorstellungskraft vermag die Erfahrung der Verdammten nur in beschränktem Maße zu erklären.

Als Überlebender kann der Erzähler lediglich bezeugen, was er gesehen hat, und er muß unweigerlich darüber spekulieren, was Moll gedacht und gefühlt hat. So verweist er darauf, daß kein noch so phantasievolles Geschichtenerzählen die grundsätzliche Unzugänglichkeit zu den Erfahrungen jener, die nicht überlebt haben, überwinden kann. Gleichzeitig läßt der Erzähler nicht zu, daß diese Einschränkungen ihn zum Schweigen bringen; er stellt sich weiterhin Molls Gedanken vor, da dies die einzige Möglichkeit ist, Molls Stimme gehör zu verschaffen, auch wenn sie nicht immer wahrheitsgetreu ist.

Der zweite Weg, über den der Erzähler versucht, die epistemologische Ungewißheit des Erzählens der Geschichte eines anderen zu verhandeln, führt ihn schließlich dazu, seinen eigenen Erfahrungen eine Stimme zu geben. Obwohl dem Leser in vorangegangenen Kapiteln schon ein paar, wenn auch wenige, Einblicke in das Leben des Erzählers gewährt wurden, beginnt er erst in diesem Kapitel, neben den Geschichten über die anderen Figuren, auch über seine eigenen Erfahrungen zu sprechen. Schon die Überschrift des Kapitels gibt Aufschluß über den veränderten Fokus des Erzählers. Im Gegensatz zu Überschriften wie: »Wie man eine Geschichte erzählt« oder »Wovon der Mensch lebt«, die sich auf allgemeine Erfahrungen konzentrieren, beinhaltet die Überschrift dieses Kapitels einen Adressaten: »Woran erinnert dich der Wald?«

Wie der Leser aus verschiedenen Passagen des Kapitels, die versuchen, diese Frage zu beantworten, entnehmen kann, ist das ›Du‹ weder eine weitere Figur im Text, noch der Leser, sondern der Erzähler selbst, der ein Selbstgespräch führt. So ähneln diese dialogischen Passagen, die sich auf die Erfahrungen des Erzählers konzentrieren, einer archäologischen Expedition, bei der der Erzähler versucht, seine Gefühle über den Wald, die in den verschiedenen Schichten seiner Erinnerung begraben sind, auszugraben. Trotz seiner Fähigkeit, sich an Wälder von früher zu erinnern, wie zum Beispiel an den Wald aus seiner Kindheit in Wien, als die Welt noch »heil« (S. 114) war, und an solche, in denen er sich später in Frankreich versteckte, überdeckt die jüngste Schicht der Erinnerung, nämlich die des Crawinkel Waldes, alle anderen und absorbiert diese in ihr Trauma: »Anblick des Waldes, ich werde nie wieder deine ungemischte Freude trinken.« (S. 114f.)

Die Crawinkel-Walderinnerungen legen nahe, daß der Erzähler nie wieder eine naive Assoziation mit der natürlichen Welt wird haben können. Schon das Wort ›Wald‹ zu denken bedeutet, die traumatische Erinnerung an Tadeusz Molls brutalen Tod abzurufen. Der Erzähler kann so in seiner Erinnerung nie wieder in die Wälder seiner Kindheit zurückkehren, ohne daß auch das Trauma seines Lagerlebens wiederkehrt. Obwohl diese dialogischen Abschnitte keine vollständige, kohärente oder lineare Geschichte des Leben des Erzählers darstellen und somit keine eindeutig autobiographischen Äußerungen sind, enthüllen sie doch eine grundlegend autobiographische Wahrheit: Die Welt der Lager ist für den Erzähler eine allgegenwärtige Realität, die man nicht in der Vergangenheitsform erzählen kann.

Was dem Erzähler und seinen Kameraden dort zugestoßen ist, ist keine Erfahrung, die sich leichtfertig in eine normalisierte Erinnerung des Lebens nach dem Holocaust integrieren läßt, in der der Erzähler die Geschichten der anderen erzählen kann, ohne seiner eigenen eine Stimme zu geben. Im Versuch, die Leidensgeschichte der anderen zu begreifen, wie zum Beispiel die von Tadeusz Moll, offenbart der Erzähler, wenn auch sehr verschlüsselt, seine eigene schmerzliche Erfahrung. Als Leser mögen wir nicht in die feinen Details dieser Erfahrung eingeweiht sein, aber wir haben erfahren, was den Erzähler zu der Person gemacht hat, die er ist. Das ist die wesentliche Geschichte der Entwicklung des Selbst, an der uns der Erzähler teilhaben läßt. Das ist seine Autobiographie.

Fred Wanders Geschichten sind daher nicht einfach distanzierte Beschreibungen von Vorgängen innerhalb des Lagers. Sie repräsentieren vielmehr den Versuch, den Menschen und ihren Geschichten Ausdruck zu verleihen, die dort gefangen waren und umgekommen sind. Wie Christa Wolf schreibt, bringt er die Erfahrungen der Häftlinge durch das Erzählen ihrer Geschichten in den Bereich der Erinnerung: »Wenigstens einige aus diesem Heer der Anonymität entreißen, in der man sie umkommen lassen wollte. Wenigstens einige Namen aufrufen, einige Stimmen wiedererwecken, einige Gesichter aus der Erinnerung nachzeichnen.« Indem der Erzähler Geschichten über die Menschen, die nicht überlebt haben, weitergibt, entwickelt er seine eigene Stimme und Perspektive und er verleiht seiner Erfahrung des Überlebens Ausdruck.

Auf diese Weise wird Fred Wanders Buch mit seinen Geschichten über die kollektive Holocausterfahrung zu einem Dokument des autobiographischen Prozesses, in welchem das ›Ich‹ darum bemüht ist, seine eigene Stimme zu finden und seine eigene Geschichte aufzuzeichnen, auch wenn der entstandene Text den herkömmlichen Ansichten über Autobiographie nur wenig ähnelt. Indem er sich aus dem Zentrum der autobiographischen Befragung zurückzieht und sich statt dessen intensiv und voll Mitgefühl an der Erfahrung der anderen beteiligt, ist Fred Wander in der Lage, sich selbst in seinen eigenen Text hineinzuschreiben. Selbst wenn es nur darum geht, ein Stück Wahrheit über sich selbst preiszugeben, nämlich das, was das Überleben mit ihm getan hat, dann hat er sein Werk in eine Autobiographie verwandelt.