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Die Perspektive der Täter

Einleitung

Die Debatte um Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten«

Bild: USHMM/Photograph #43038

Otto Ohlendorf gestand in den Nürnberger Prozessen die Ermordung von 90.000 Menschen, wofür er zum Tod verurteilt und 1951 gehängt wurde. In Littells Roman wird (durch den Erzähler Max Aue) Ohlendorf als ein Intellektueller geschildert, der gegen seinen Willen zum Einsatzgruppenkommandeur ernannt wird.

Mit beträchtlichem Aufwand wollte das FAZ-Feuilleton die deutsche Debatte über Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten« eröffnet sehen. Doch eine wirkliche literarische Debatte kam nicht auf, wo sich offenbar die Mehrheit der Rezensenten einig ist, das Buch sei von geringem literarischen Wert. Die Urteile reichen von »pornographischer Kitsch« bis zu der Ansicht, es handle sich um einen Schlüsselroman zum Verständnis des Nationalsozialismus. Wie ist das Buch zu lesen?

Der im März auf deutsch erschienene Roman stellt eine alte Frage neu; nämlich nach den Grenzen der literarischen Verarbeitung des Holocausts. Denn neben den Kriminalromanen, die sich des Nazigenres bedienten, gab es in den vergangenen sechzig Jahren Versuche, sich der Monströsität von Auschwitz’ zu nähern. Es waren Autoren wie Primo Levi, Jean Amery und Jorge Semprun, die Adornos Verdikt widerlegten, über Auschwitz könne es keine Poetik geben. Heute gehören ihre Bücher zum internationalen literarischen Kanon, und wurden gerade in Deutschland besonders stark rezipiert.

Littells Roman kehrt die narrative Perspektive um. Hier berichtet der IchErzähler von seiner Beteiligung am Holocaust. Hauptfigur des Romans ist der SS-Offizier und Jurist Max Aue, der nach der Machtübernahme der Nazis im Reichsicherheitshauptamt (RSHA) Karriere macht. Der von Littell entworfene Plot sucht die neuesten Erkenntnisse der Täterforschung in literarische Figuren zu kleiden. Denn die Mehrzahl der übrigen im Buch auftretenden Figuren sind, wie Adolf Eichmann, Werner Best und Reinhard Heydrich, reale Akteure der Vernichtung der europäischen Juden. Zugleich kumulieren in der Figur Aues Charakterzüge der genannten Personen. Litell läßt Aue an allen Schauplätzen des Holocausts als Beobachter und Akteur auf treten, der zudem in die polykratischen Auseinandersetzungen der NS-Bürokratie verwickelt ist, wo es um die Vollzugshoheit des Vernichtungskrieges geht.

Littell sucht einen Tätertypus zu literarisieren, wie er in der Forschung von Michael Wildt bis Ulrich Herbert ausgearbeitet wurde. Die Täterforschung verwarf das Klischee vom brutalen, aber tumben nazistischen Antisemiten, indem sie den Typus des intellektuellen Weltanschauungskriegers freilegte, der mit dem Pathos der Kälte (Helmut Lethen) die Vernichtung der Juden als geschichtsphilosophische Schicksalsaufgabe betrieb. Gerade diese Gruppe völkischer Akademiker stand für einen weltanschaulichen Antisemistismus, die sich habituell vom brutalen Radauantisemitismus der SA abzusetzen suchten.

Erweitert ein fiktionaler Zugriff auf diesen Tätertypus das hermeneutische Spektrum in Bezug auf die Shoa? Die über viele Seiten ausgebreiteten Dialoge des Max Aue mit Schreibtischtätern wie Best, Schellenberger und Six, zeigen dem Leser kaum eine charakterliche Facette, die man nicht den biographischen Studien der Täterforschung entnehmen könnte. Littell vertieft nicht, bietet keine narrative Perspektive, die dem Handeln der Täter eine identifikatorische Logik mitgibt. Die realen Figuren mit Ausnahme Aues bleiben blass, und müssen es bleiben, weil sich bürokratisch geplanter Massenmord nun mal nicht poetisieren lässt. So ist der Leser hin und her gerissen, was er hier denn hier nun lese, fiktionale Nonfiction oder einen Roman?

Obsession der Gewalt

Zugleich spielt der Roman mit dem Bild der Orestie1 . Denn quasi als Einführung in den Charakter des Aue beschreibt Littell eine Inzestszene Max Aues, die hernach im Buch variantenreich allegorisch wiederholt wird. Die Existenz des Täters Aue will Littell dem Leser als gefährdet vorstellen, wo er dessen homosexuelle Obsessionen ausführt. Die eigentliche Obsession des Buches ist jedoch die allgegenwärtige Gewalt, die der Leser an allen Schauplätzen des Romans antrifft. In der Tat muss man die Lektüre des Buches zeitweise unterbrechen, um dem Sog der unablässigen Darstellung von Gewalt nicht zu erliegen.

Littell arbeitet mit Chiffren, wenn er etwa auf Ernst Jüngers Kaukasus Reise verweist oder die komplexe Verstrickung der Akteure des 20. Juli in den Holocaust anklingen lässt. Mit welchem erzählerischen Impuls dies geschieht, erschließt sich nicht. Ohne Zweifel hat der Autor eine stupende Kenntnis der Materie der Shoa und ihrer Täter. Diese nützt dem Roman als solchem nur nichts. Littells Narration fehlt es an Welthaltigkeit, wiewohl von dieser in dem Buch unablässig die Rede ist.

Littell wurde vorgeworfen, er verletze die Würde der Opfer, in dem er aus der Perspektive der Täter ihr würdeloses Sterben detailliert, ja als voyeuristische Pornographie erzähle. Und in der Tat, die Opfer in Littells Roman bleiben ohne inneren Ort, ohne Gesicht – ganz so, wie sie von den Tätern angesehen wurden: als Menschenmaterial.

Klaus Theweleit bot in der FAS eine Deutung, warum Littells Buch in Deutschland auf so breite Ablehnung stoße. Die deutsche Literaturkritik weigere sich über die Judenvernichtung aus der Täterperspektive zu lesen, da man eine Identifikation mit den Opfern vorziehe. Theweleit hingegen verteidigt Littells Versuch, »diese affektiv-intellektuelle Symbiose des ›Deutschen‹ mit dem ›Jüdischen‹ des 20. Jahrhunderts in vielen Facetten; eine Symbiose, die, nach Maßgabe der zerrissenen Körperlichkeit der Deutschen in dieser Symbiose nur gewaltsam gelöst werden konnte« zu beschreiben.

Bei einer Lesung seines Buches im Berliner Ensembel hat Littell den Vorwurf zurückgewiesen, er zelebriere in seinem Roman eine Empathie mit den Tätern, und ästhetisiere deren Gewaltexzesse. Er habe lediglich literarisch gestaltet, was er bei diesen vorgefunden habe: Monstrosität, Banalität und Emphatieunwilligkeit. Damit müsse sich ein Leser konfrontieren, der einen Verständniszugang zum Prozess der Selbstradikalisierung der NS-Täter gewinnen wolle.

Fazit

Um Belletristik im Wortsinne handelt es sich bei Littels Buch nicht. Der Roman ist ein Balanceakt zwischen den Abgründen der entgrenzten Gewalt der Mörder und der zur Schau gestellten Lakonie ihrer Taten. Davon mag man sich mit Recht angeekelt abwenden. An der historischen Faktizität der Mentalität der Täter ändert dies nichts. Dem Buch wird vermutlich ein breiterer Leserkreis beschieden sein als mancher wissenschaftlicher Studie zum Thema. Leider. Wer dem Buch entnimmt, wie konkret die NS-Ideologie bis in alle lebensweltlichen und sozialen Bezüge wirkte, hat vielleicht etwas dazu gelernt. Wer dies jedoch aus einem guten Geschichtsunterricht oder durch eigene Lektüre weiß, dem eröffnet dieser Roman keine neue Perspektive auf die Täter. Der kann es nach gut einem Drittel mit gutem Gewissen beiseite legen.

  • 1antiker griechischer Inzestmythos