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»Das eigene Leid begreift man nicht.« (2)

Erin McGlothlin
Einleitung

Fred Wanders »Der siebente Brunnen und die Geschichte des Selbst« 

Bild: attenzione-photo.com

Der siebente Brunnen trägt die Spuren des autobiographischen Unterfangens. Auf den ersten Blick scheint es ein Buch zu sein, in dem das Selbst zugunsten der Entwicklung anderer Charaktere eingeschränkt wird. Während des Lesens enthüllt sich das Buch jedoch als Text, der den Spagat des autobiographischen Prozesses vollbringt und den Versuch unternimmt, das autobiographische ›Ich‹ zu erschaffen. Auf gewisse Weise ist Wanders Buch eine Art Bildungsroman, der von der Entstehung eines autobiographischen Subjekts erzählt, das sich langsam positioniert, um seine eigene Geschichte zu erzählen, indem es die Stimmen anderer Figuren annimmt und deren Geschichten erzählt. Die Akzeptanz der Rolle des Geschichtenerzählers reflektiert die Bemühungen des Texts, eine Autobiographie zu werden und eine Perspektive zu finden, aus der das ›Ich‹ die brutale Zerstörung, die es beobachtet, bezeugen kann. Es ist daraufhin in der Lage, etwas über seine eigenen traumatischen Erfahrungen zu erzählen.

Christa Wolf bezeichnet das Problem des Erzählens als zentrales Motiv des Buches.1 Die erste Geschichte mit dem Titel »Wie man eine Geschichte erzählt« reflektiert dieses Problem ganz bewußt, da die Geschichten, die in diesem Fall erzählt werden, keine Märchen sind, sondern Berichte über den tragischen und sinnlosen Tod europäischer Juden und über die »verlorene schöne Welt«2 ihrer Leben vor dem Holocaust. Wie kann man eine Sprache finden, die dieser Aufgabe gewachsen ist? Das ist das Dilemma des Erzählers, der seine Geschichte des Leidens und Traumas schon im ersten Satz mit dem Tod eines der Häftlinge, Mendel Teichmann, beginnt.

Als Mendel Teichmann noch am Leben war, beanspruchte er den Status des Meister-Geschichtenerzählers, denn seine legendären erzählerischen Fähigkeiten hatten einen nachhaltigen Einfluß auf seine Zuhörer: »Das Wort, kaum daß es erklang, machte die Männer erbleichen, es verwandelte sie, kehrte ihre Blicke nach innen, ließ sie Tränen vergießen und lachen, geißelte sie, erstickte sie, ließ sie ächzen und sogar schwitzen.« (S. 8) Mendel ist daher der einzige der Lagerhäftlinge, der das Talent und die Fähigkeit besitzt, die Lagererfahrung sprachlich so zu organisieren und zu übermitteln, daß sie die Taubheit einer unsensiblen Welt überwindet. Der Erzähler glaubt dagegen, daß er der Aufgabe des Geschichtenerzählens nicht gewachsen ist. Selbst sein jetziger Versuch, Mendels Worte zu wiederholen, endet in bedeutungslosen Sprachfetzen und eigenartigen Geräuschen: »Doch wie soll ich es wiedergeben – verglichen mit dem Glanz und der Kraft seiner Rede, kann meine Erzählung nur Gestammel sein.« (S. 8) Doch der Erzähler möchte unbedingt Geschichten erzählen können, und so sucht er Mendel auf, um »das Handwerk des Erzählens zu erlernen«. (S. 8)

Mendels Methode, das Geschichtenerzählen zu lehren, besteht darin, daß er erzählt, wie er einst einem »milchgesichtige[n] Bürschlein« (S. 8) diese Fähigkeit beibrachte, nämlich indem er ihm eine Geschichte erzählte. Die Unterweisung im Geschichtenerzählen ist daher als Geschichte und Lektion verdoppelt: Die Zuhörer und Studierenden sind zugleich Erzähler und Bürschlein (verdreifacht, wenn man den Leser noch in Betracht zieht). Geschichtenerzählen ist, wie Mendel behauptet, nichts, was man lernen kann: »das hat man oder hat es nicht.« (S. 8) Mendel demonstriert sein eigenes Talent des Geschichtenerzählens, indem er erzählt, wie er auf des Bürschleins Verlangen nach Unterricht reagierte.

Nachdem er das Bürschlein bat, ihm etwas über die wesentlichen Bestandteile seines Hauses zu erzählen, sagt er: »Viel mehr sagt er nicht, der kluge junge Mann, und das genügt mir, ich kann es sehen, riechen kann ich das Haus. Ich brauche erst gar nicht hinauszufahren, um es mir anzusehen.« (S. 9) An diesem Punkt, so macht er dem Erzähler klar, war er in der Lage, den Faden der Erfahrungen des Bürschleins aufzunehmen, diese auszuschmücken und in eine Geschichte zu verwandeln, die sich über die nächsten zwei Seiten erstreckt. Das, was Mendel die Fähigkeit verleiht, diese Geschichte zu konstruieren, ist, wie er selbst sagt, seine lebhafte Vorstellungskraft. Seine Phantasie ist in der Tat so stark, daß er sich nicht nur ein mentales Bild von dem Haus des Bürschleins macht, sondern es mit seinen Sinnen erfährt.

Der Ich-Erzähler hört der Lektion über das Geschichtenerzählen geduldig zu und antwortet: »Das alles haben Sie dort gesehen, in jenem Haus, wo jenes Bürschlein wohnte?« (S. 13) Diese naive Reaktion auf Mendels Geschichte, die pure Phantasie war, verrät das Unverständnis des Erzählers darüber, was Mendels Geschichtenerzählen ausmacht. Mendel reagiert äußerst vehement auf dieses falsche Verstehen seiner Lektion:
Mendel schaute mich erschrocken an: Also du hast nichts verstanden. Ich rede und rede, und du verstehst mich nicht. Ich war nicht draußen, wo er wirklich wohnte. Ist es denn so wichtig, dieses Haus, jenes Haus ... In den Menschen liegen Kräfte verborgen, aber sie wissen es nicht. Man läßt sie verkümmern und zu Krüppeln werden. Und da ihre Poren verstopft sind, ihre Augen blind, aber das Leben in ihnen drängt, all diese Kraft, von der sie nicht wissen, was sie mit ihr anfangen sollen, brechen sie aus. (S. 13)

Für Mendel besteht Geschichtenerzählen nicht aus den trockenen Fakten und nüchternen Details des täglichen Lebens. Im Fall des Bürschleins ist es nicht die tatsächlich greifbare Struktur des Hauses, die die Geschichte bestimmt. Mendel ist eher der Meinung, daß Geschichten aus einer inneren menschlichen Erfahrung bestehen, einer inneren Bedeutung, zu der viele Menschen oft keinen Zugang haben, da sie unfähig sind, ihre eigenen Kräfte wirklich wahrzunehmen. Es bedarf eines Geschichtenerzählers mit offenen Augen und Poren, der sich diese innere Erfahrung vorstellen, sie sprachlich fassen und in eine Geschichte einbinden kann, so daß die inneren Kräfte dieser Erfahrung wahrgenommen und kundgetan werden können.

Mendel Teichmann, der als Zadik in der Lage ist, das Wesentliche hinter der Fassade zu sehen, übernimmt daher die Aufgabe, sich menschliche Erfahrungen vorzustellen und zu interpretieren. Für Mendel zeigt sich in der Unfähigkeit des Erzählers, über das Haus des Bürschleins hinausgehend die wesentliche Erfahrung zu sehen, seine Untauglichkeit für die schwierige Aufgabe des Geschichtenerzählens.

Nach dieser mißglückten Lektion im Geschichtenerzählen spricht der Erzähler nicht mehr von seinem Verlangen, das Geschichtenerzählen zu lernen. Am Ende des Kapitels erzählt er uns jedoch von Mendels Tod und dem damit verbundenen Verlust von Mendels Geschichten. Der Geschichtenerzähler, der die innere Erfahrung der Lager vermitteln würde, ist tot, und das Vermächtnis seiner Geschichten ist mit ihm gegangen. Es gibt niemanden, der Mendels Rolle als Geschichtenerzähler übernehmen könnte, und so muß der Erzähler, trotz seiner fehlenden Phantasie, irgendwie in die Schuhe schlüpfen, die ihm Mendel zurückgelassen hat.

Zu Beginn sieht sich der Erzähler ganz und gar nicht in der Lage, diese neue, selbstauferlegte Pflicht zu erfüllen. Als er über Mendels Tod berichtet, bemerkt er seine eigene Unfähigkeit, dieses Ereignis zu beschreiben: »Er starb einen sinnlosen, unwürdigen Tod, laßt mich darüber schweigen.« (S. 16) Wie er zu Beginn des nächsten Kapitels feststellt, reicht das Verlangen danach, eine Geschichte erzählen zu können, nicht aus, um die Geschichte dazu zu zwingen, sich in Sprache zu manifestieren: »[Der Mensch] möchte das alles rufen, glänzen, prahlen, sich ereifern, atemlos. Er kann es nicht, ihm fehlen die Worte, fehlt die Kunst.« (S. 18)

Trotz seiner Sprachlosigkeit und seiner fehlenden Vorstellungskraft beginnt der Erzähler, der über sich selbst in der dritten Person spricht, sich langsam seinen Weg aus dem Schweigen zu bahnen: »Erst fängt er stockend zu erzählen an, vorsichtig den anderen taxierend.« (S. 18) Er bricht dieses Schweigen nicht, indem er seine eigene Geschichte erzählt, sondern indem er sich eher auf ›die anderen‹ konzentriert und versucht, sich ihre Geschichten vorzustellen und ihnen eine Stimme zu verleihen. In seinem ersten Erzählversuch nimmt er die Stimme des holländischen Juden de Groot an und probiert, de Groots Erfahrungen von innen heraus zu imaginieren und Zugang zu ihnen zu finden. Sehr bald danach beginnt er, sich die Geschichten der anderen Häftlinge vorzustellen: Tschukran, Meir Bernstein, Sascha, Jacques. Die eigene Stimme des Erzählers zieht sich dabei fast gänzlich in den Hintergrund zurück, während die Stimmen der anderen in den Vordergrund rücken. Auf diese Weise wird er zu einem Zeugen; jemand, der die innere Erfahrung anderer wahrnimmt und ihnen eine Stimme verleiht.

  • 1Wolf, Gedächtnis und Gedenken, a.a.O., S. 140.
  • 2Fred Wander: Der siebente Brunnen. Erzählung. Berlin, Weimar: Aufbau 1971, S. 8. In Hinkunft im Text mit einfacher Seitenangabe zitiert.