Im »herzen Deutschlands«
Friedrich C. BurschelPessimistische Betrachtungen zum ideologischen Alltag in Thüringen.
Nirgends verdient Thüringen den Namen des »grünen Herzens Deutschlands« mehr als im Thüringer Wald auf dem Rennsteig. Selten verirrt sich hierhin, wer nicht Feriengast ist. Die Örtchen hier oben atmen das Röcheln von Regression. Die Straßen sind menschenleer. Und sind in anderen Thüringer Städtchen leer stehende Läden und zerfallende Häuser unübersehbar, müsste man es auf den idyllischen Höhen umgekehrt formulieren: im Leerstand leben Menschen. Die toten Augen der Fenster erzeugen ein Gefühl von Endzeit.
Im Feuerwehrhaus von Neuhaus am Rennweg haben sich zwei Wissenschaftler eingefunden und zwei Weimarer »Aktivisten«. Die Wissenschaftler sollen den Bewohnern die alarmierenden Ergebnisse zum Thema Rechtsextremismus in Thüringen erläutern. Die »Aktivisten« eben jene Methoden, die die »Aktivitäten gegen Rechts« in Weimar so erfolgreich machten. Sie wurden von der Bürgermeisterin und einem Bündnis von Neuhauser BürgerInnen eingeladen, die dem bevorstehenden Aufmarsch organisierter Neonazis nicht tatenlos zusehen wollen.
Die Veranstaltung eine Woche zuvor, wie die heutige mit Unterstützung des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus in Thüringen (MOBIT) organisiert, endete im Eklat und mit einem Sieg für die lokalen Neonazis. Ein Neonazi aus Neuhaus war aufgetaucht, hatte sich kooperationsbereit und freundlich gegeben und das kleine Pflänzchen »Aufbegehren gegen Rechts« verdorren lassen. Selbst die wackere PDS-Bürgermeisterin ging dem jungen Mann auf den Leim und vereinbarte mit ihm als Gegenleistung für den Neonazi-Gedenkmarsch ein paar gemeinnützig-ortspflegerische Maßnahmen. Indem er dem zustimmte gewann der Jungneonazi die Zustimmung der etwa 70 Dorfbewohner, die nun die zwei MOBIT-Mitarbeiterinnen auflaufen ließen. Man komme mit seinen Problemen selbst zurecht, wurde erregt gerufen. Der Versuch einer Stellungnahme seitens MOBIT wurde mit der Aussage, Probleme machten doch nur »die Auswärtigen«, niedergebrüllt. Die beiden MOBIT-BeraterInnen meinten später, sie wüssten nicht, was sie mehr entsetzt habe: diese Anfeindungen oder ,dass ihnen niemand zur Seite sprang. Auch der Moderator Landolf Scherzer, ein bekannter Schriftsteller aus dem nahen Suhl und Autor eines interessanten Buches zum Thema »Fremdenfeindlichkeit« in der DDR,1 kühlte die explosive Atmosphäre nicht ab. Ein Desaster.
Eine Woche später waren wieder ca. 50 Einheimische gekommen. Und auch der Neonazi war da. Doch der Abend verlief anders. Die beiden Politologen Michael Edinger und Andreas Hallermann aus Jena sollten den »Thüringen Monitor« vorstellen. Das Umfragewerk wird jährlich an der Universität Jena im Auftrage des Thüringer Landtages erstellt und enthält die Ergebnisse einer Befragung von 1.000 wahlberechtigten ThüringerInnen. Waren die Ergebnisse vor allem zum Themenbereich »Ausländerfeindlichkeit« und Rechtsextremismus schon 2001 unfassbar, erlangen sie für das Jahr 2002 eine neue Qualität: Mit 55,6 Prozent hat erstmals eine Mehrheit der Befragten ausländerfeindliche Positionen erkennen lassen. Zu rechtsextremen Einstellungen haben sich mehr als ein Fünftel der ThüringerInnen bekannt.2
Der Abend wäre sicher anders verlaufen, wenn die Uni-MitarbeiterInnen so gewesen wären, wie man sich Statistiker vorstellt: langweilig. Sie strahlten aber bei der Präsentation der Daten eine Überzeugungskraft aus, dass es ihnen gelang, etwas wie Klarheit über den Gegenstand der Diskussion zu schaffen. Auch die Beiträge des Weimarer Vertreters des Bündnisses »BürgerInnen gegen Rechtsextremismus«, Frank Lange, und der »Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus bei Radio ‘Lotte in Weimar« verfingen beim Publikum. Der Neonazikader verschwand und sogar das Desaster der Vorwoche wurde erörtert. Der dritte Bürgermeister von Neuhaus: »Ich sehe schon und bitte dafür um Nachsicht, wir müssen einfach noch üben«.
Am Wochenende darauf gingen die Gegner des Neonazi-Aufmarsches in Neuhaus gestärkt in ihre Demonstration »für Frieden und gegen Gewalt«. Aber schon das Mottto zeigt, wie weit man in Neuhaus – und das lässt sich im Grunde für das ganze Land verallgemeinern – vom Kern der Probleme entfernt ist. Es gibt eine Beliebigkeit im Denken, die es ermöglicht, alles, was als das Gute identifiziert und auf die eigenen Fahnen geschrieben werden kann, dann auch in ein Konzept von »Bürgerengagement«, »Zivilgesellschaft«, »Zivilcourage« und »Toleranz« zu vermanschen. Und das können alle mittragen, die nicht gerade organisierte Neonazis sind. Und selbst dorthin, nach ganz rechts, ist dies noch – siehe den Neuhauser Desaster-Abend – anschlussfähig. Unübersehbar war dies auch bei der Friedensbewegung am Jahresanfang, die sich nur mühsam der rechtsextremen Vereinnahmungsversuche erwehren konnte. In fröhlicher Eintracht traten hier unkritisches Friedensgerede mit geschichtsrelativistischen Verzerrungen und antisemitischen Ausfällen auf.
So durfte auch in Neuhaus die bunte »Pace«-Fahne ebenso wenig fehlen wie eine Parole »für Frieden und gegen Gewalt«. Die Dinge werden auch dann nicht benannt, wenn ein Aufmarsch von 150 Neonazi-Skins und NPD-Biedermännern durch das Dorf zieht, gedenkend eines »gefallenen Kameraden«, der hier mal von »Linken« erstochen worden sein soll. Auch bei den GegendemonstrantInnen, die zeitlich um zwei Stunden von den Neonazis getrennt sind, spricht man nur von Gewalt, nicht von Rechtsextremismus.
Die Parole, die von den Landesregierungen und den bürgerlichen Parteien ausgegeben wird, lautet, wo Rechtsextremismus bekämpft werden soll, muss auch etwas gegen Linksextremismus getan werden. Diese ständig wiederholte Formel bedeutet in sich bereits eine Verhöhnung derer, die von rechtsextremen Neonazis ermordet oder schwer verletzt worden sind.3 Nur wer von der Ignoranz der die Diskussion dominierenden nicht schon die Nase voll hatte, würde noch argumentieren, dass deren Argumention eine marginalisierte linke oder zumindest nicht-rechte Jugendbewegung, die sich in »national befreiten Zonen« ihrer Haut erwehren muss, kriminalisiert.
Denn auch in Neuhaus gibt es eine Jung-Antifa. Na also, denkt man nun. Dass diese etwa 10 Köpfe zählende Antifa aber Pappschilder mit sich führt, auf denen steht: »Stoppt die Illuminaten«, führt uns zurück zu den oben beschriebenen Verwerfungen des Denkens. Gefragt, ob das ein Scherz sei, erhält man einen Vortrag über die Verschwörung der Illuminaten, welche vor zwei Jahrhunderten aus Bayern kommend nach Amerika ausgewandert seien und heute die US-Regierung unterwandert hätten und bestimmten, was Bush/Rumsfeld/Cheney an Verderblichem täten. Fassungslos fragt man sich, wie eine dieser proto-antisemitischen Verschwörungstheorien, die mit der antiamerikanischen Hetze auf den Anti-Irakkriegs-Demos wieder aus dem Boden schossen, den Weg hierher auf den Rennsteig und in die Köpfe dieser jungen Linken gefunden haben.
Unbehelligt jedenfalls stellten sich die Neonazis an jenem Tag in Forstdorf in Formation auf, Redner wie Daniel Bartels aus Gera beschworen den »gefallenen Kameraden«, der – weil ermordet – nun keine »deutsche Frau« mehr heiraten und zur Familiengründung nutzen kann. Alle relevanten Neonazi-Größen aus Thüringen waren da, darunter Ralf Wohlleben aus Jena, der NPD-Landesvorsitzende Frank Schwerdt u.a.
Heißt dies, dass sie personell schwach sind, weil auf allen Aufmärschen immer dieselben Gesichter zu sehen sind? Oder bedeutet es, dass sie so gut organisiert sind, dass sogar zu jedem abgelegenen Trauermarsch Prominenz mobilisiert werden kann? Und ist es wichtig, das zu wissen? Wo einem eigentlich klar sein sollte, dass das Agieren und das Pathos der rechtsextremen Parteien und Kameradschaften nicht annähernd das gesellschaftliche Problem von Rassismus und Rechtsextremismus umreissen, höchstens Symptome sind für das, was in der Jenaer Umfrage zutage tritt.
Weg von Neuhaus am Rennweg, zurück nach Weimar: Die öffentlichen Plätze sind bevölkert mit einer Vielzahl der rechten Szene zugehörigen Jungnazis mit ihren »Macht und Ehre«-T-Shirts, den Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln, den Zahlen- und Marken-Codes. Eine Tendenz, dass sich der rechte Mainstream in Musik, Kleidung, Umgang unter jungen Leuten ausweitet, wird ignoriert. Ebenso wie rechtsextreme Einstellungen oder eben der rassistische Mainstream werden die Alarmzeichen herunter gespielt. Bis wieder ein als nicht-deutsch wahrgenommener Mensch verletzt oder gar getötet wird. Dann wird erneut der Ruf ertönen nach Programmen gegen Rechtsextremismus, nach »zivilgesellschaftlichen« Initiativen und »anständigen Aufständischen«.
In einer Phase »relativer Ruhe« – bisher ist im Jahr 2003 »nur« ein Mensch infolge eines Nazi-Angriffs in Erfurt gestorben4 – hat der gesellschaftliche Rollback, in Thüringen repräsentiert von der regierenden CDU, freie Bahn. Die Projekte werden brutal abgewickelt, die im Rahmen des CIVITAS-Programms der Bundesregierung gerade mal zu greifen begonnen hatten. Das Innenministerium wird MOBIT durch ihm genehme Projekte vermutlich der »Gewaltprävention und Kriminalitätsbekämpfung« ersetzen. Man wittert Linksextremisten in den Reihen des MOBITs. Das federführende Bundesfamilienministerium lässt diese Abwicklung zu. Nachdem die CIVITAS-Projekte (Mobile Beratung, Opferberatung, Netzwerkstellen) seit ihrem Bestehen ab September 2001 mit ungeheuerlichen bürokratischen Ansprüchen, inhaltlich-zensorischen Kontrollbegehren und einer überforderten Servicestelle traktiert worden sind, werden sie in dem Augenblick, wo es aufs Durchhalten angekommen wäre, von den Verantwortlichen im Stich gelassen. Die CIVITAS-Servicestelle der Stiftung demokratische Jugend in Berlin unterstützt und finanzierte in Thüringen statt dessen eine Tagung mit ihren wohl künftigen Partnern: den staatstragenden Institutionen wie der »Koordinierungsstelle Gewaltprävention« und dem Verfassungsschutz, unter Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten Althaus. Diese Tagung kostete für zwei Tage rund 65.000 Euro.
So wird der Wechsel von einem unabhängigen, kritischen Projekt hin zur Relativierung eines Kampfes gegen völlig ungreifbare Phänomene wie »Gewalt«, »Extremismus«, »Jugendkriminalität« und »Vandalismus« vorbereitet. Die Mitverursacher rassistischer und rechtsextremer Stimmung im Lande werden mit deren Bekämpfung beauftragt. Den aus der Alimentierung durch den Bund Ausscheidenden oder Ausgeschiedenen sei zum Abschied aus Civitas ein Wort der Hoffnung auf den Weg gegeben: »Mit unverminderter Vehemenz aber richtet linksutopisches Denken sich gleichwohl in diesen Tagen weiter gegen die gesellschaftliche Verfassung in den pluralistischen oder pseudo-pluralistischen westlichen Demokratien,« schrieb Jean Amery.
Friedrich C. Burschel ist freier Journalist und Mitarbeiter von »Radio Lotte« in Weimar.
- 1Landolf Scherzer, Die Fremden. Unerwünschte Begegnungen und verbotene Protokolle, Aufbau-Verlag.
- 2Frankfurter Rundschau, 23.11.02
- 3Seit 1990 starben mehr als 100 Menschen durch rechte und rassistische Gewalt.
- 4Am 27. Januar 2003 starb in Erfurt ein 48jähriger Mann an den Folgen eines Neonaziangriffs. (vgl. AIB Nr. 58/2002)