Prozess gegen den »Henker von Ommen«
Wenn der alte Mann schweren Schrittes den Saal 201 des Landgerichts betritt, kann man nur noch ahnen, wie gut er einst körperlich beieinander war. Aber ahnen kann man es. Damals, vor 59 Jahre, muss Herbertus Bikker ein kräftiger Endzwanziger gewesen sein. Und schnell. Schnell genug, um an einem Novembertag des Jahres 1944 – die Maschinenpistole im Anschlag – dem zwei Jahre jüngeren, um sein Leben rennenden holländischen Widerstandskämpfer Jan Houtman hinterher zu laufen. Und skrupellos. Skrupellos genug, um Houtman mit einigen Salven über den Haufen zu schießen. Und zynisch. Zynisch genug, so sieht es jedenfalls die Staatsanwaltschaft, um auf den schon verletzt am Boden liegenden Houtman mit den Worten »Und nun ein guter Tod« den letzten, den finalen Schuss abzugeben.
Bikker steht deswegen jetzt vor einem deutschen Gericht – auch ein Lehrstück für das Versagen deutscher Behörden über Jahrzehnte. »Warum ein niederländischer Kriegsverbrecher in aller Sicherheit in Deutschland Tulpen züchten kann«, titelte vor fünf Jahren eine holländische Zeitschrift. Mit ihr stellten sich viele Niederländer diese Frage. Mitten in Deutschland lebte und arbeitete damals, seit Jahrzehnten weitgehend unbehelligt von Justiz und Öffentlichkeit, der gebürtige Holländer Herbertus Bikker und pflegte in der Freizeit seine Blumenpracht. Die Niederlande sind von Hitlers Wehrmacht noch nicht besetzt, als Bikker sich 1939 mit 24 Jahren der NSB, der Nationalsozialistischen Bewegung seines Heimatlandes, anschließt.
Zwei Jahre später geht er zur Waffen-SS – was ihm, ganz nebenbei, die deutsche Staatsbürgerschaft einbringt. Wiederum zwei Jahre später beginnt seine Ausbildung bei der deutschen »Ordnungspolizei« in Ommen, die auf der Suche nach Widerstandskämpfern ist. Im Straflager »Erica« wird er Wächter – und macht sich bei den Häftlingen wegen seiner Brutalität rasch einen Ruf als »Beul van Ommen«, als »Henker von Ommen«. Nachdem die Niederlande befreit sind, wird ihm dort der Prozess gemacht. Unter anderem zwei Morde weisen ihm die Ankläger nach, darunter den an Jan Houtman. »Seine im Lager Ommen durchgeführten Misshandlungen sind zahlreich und gräulich. Bikker ließ in Wirklichkeit praktisch keinen Tag vorübergehen, ohne die Gefangenen zu quälen«, meinen die Richter. Bikker wird 1949 in Arnheim zum Tode verurteilt, später wird das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt.
»Lebenslang« dauert für Bikker von diesem Zeitpunkt an aber nur noch drei Jahre. Weihnachten 1952 gelingt ihm mit sechs weiteren Kriegsverbrechern die Flucht aus dem Gefängnis in Breda. In der ersten erreichbaren deutschen Stadt jenseits der Grenze, in Kleve, eilen die »Sieben von Breda«, wie sie bezeichnet werden, zum Polizeirevier. Ein Bußgeld von 10 DM wegen illegalen Grenzübertritts ist zwar fällig, aber Bikker & Co. sind erst einmal sicher vor Nachstellungen der niederländischen Justiz. Zwar ermittelt die Dortmunder Staatsanwaltschaft bis 1957 gegen den »Henker von Ommen«, aber letztlich folgenlos. Bikker habe »in rechtmäßiger Ausübung unmittelbaren Zwangs« gehandelt, befindet das Landgericht Dortmund.
Alle Beweise liegen dem Gericht nicht vor: Weil das Vertrauen niederländischer Behörden in die von Altnazis durchsetzte westdeutsche Nachkriegsjustiz nicht sehr ausgeprägt ist, verweigern sie die Amtshilfe. Umgekehrt kommt eine Auslieferung des »Deutschen« Bikker an sein Heimatland für die deutsche Seite nicht in Betracht. Bikker hat für die nächsten fast dreieinhalb Jahrzehnte seine Ruhe. Für Unruhe sorgt erst wieder in den frühen 90er Jahren der niederländische Journalist Jack Kooistra, der über das unauffällige Leben des Altnazis in Hagen berichtet. Deutsche und holländische AntifaschistInnen demonstrieren im November 1995 vor Bikkers Haus. Konsequenzen hat das Outing zunächst einmal nicht für den Alt-Nazi, sondern für die AntifaschistInnen, die eine eifrige deutsche Justiz eilends vor Gericht bringt. Stern-Reporter Werner Schmitz macht sich auf die Spur von Bikkers Vergangenheit, spricht mit ihm – und hört von ihm den Satz, der schließlich die Staatsanwaltschaft Dortmund glauben lässt, dass eine Anklage in Deutschland doch noch Erfolg haben könnte. »Dann hab ik ihm den Gnadenschuss gegeben«, zitiert der Reporter den Ex-Waffen-SSler, angesprochen auf den Tod Houtmans. »Gegen das Vergessen« steht auf dem Transparent, das AntifaschistInnen am ersten Verhandlungstag in Hagen vor dem Gericht hochhalten. Sie meinen nicht nur, dass Verbrechen wie dieses nicht vergessen werden dürfen. Sie dürften auch den Skandal meinen, dass ausländischen Kriegsverbrechern im Dienste des Hitler-Regimes dank des Führererlasses, der ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft verschaffte, ein ruhiger Lebensabend garantiert wurde.
Bikker ist da kein Ausnahmefall. »Es ging um eindeutige Fälle von Kriegsverbrechen, begangen von identifizierbaren Tätern, die sich in der Bundesrepublik in Sicherheit gebracht hatten – und dort, vielleicht sogar zu ihrer eigenen Verwunderung, auch eine sichere Bleibe fanden«, notiert der niederländische Schriftsteller und Regisseur Leon de Winter Ende August 2003 in einem Beitrag für die »Welt«. Sein Text trägt den Titel: »Der Führer schützt die Mörder noch«. Bei einer richterlichen Vernehmung, deren Protokoll das Gericht verlesen lässt, hat Bikker eingeräumt, Houtman »in Ausübung seiner Dienstpflicht als Ordnungspolizist« erschossen zu haben – aber eben nicht ermordet zu haben, »grausam und aus niederen Beweggründen« sowie mit »Vernichtungswillen«, wie es ihm die Anklage vorwirft. Folglich bestreitet er auch, dem Stern-Reporter Schmitz von einem »Gnadenschuss« erzählt zu haben. Ein »Gnadenschuss«: Das wäre Mord. Auf der Flucht erschossen: verjährter Totschlag.
Ein Schlaglicht auf das Denken des jetzt 88-Jährigen könnte ein Brief werfen, der an einem der Verhandlungstage verlesen wird – den geschrieben zu haben Bikker aber bestreitet. Darin schildert der Autor, wie er um den Jahreswechsel 1944/45 in Ommen gegen »Terroristen« zu kämpfen hatte, die aber schon »so gut wie ausgerottet« seien. Mit neun Schüssen aus einer Pistole habe er einen von ihnen getötet – es könnte einiges dafür sprechen, dass mit dieser Schilderung der Mord an Houtman gemeint ist. Stolz berichtet der Autor, dass er angesichts seines Mutes im Kampf gegen »Terroristen« einen Spitznamen bekommen hat: der »Löwe«. Houtman umzubringen dürfte jedoch keinen Löwenmut erfordert haben. In einem Kuhstall in Dalfsen endet Houtmans Flucht vor dem Nazi-Kollaborateur Bikker am 17. November 1944. Verletzt im Mist liegend, trifft ihn der letzte Schuss. Einer der Schüsse verletzt auch eine Kuh. Ein Sohn des Bauern berichtet später: »Ich habe gehört, dass dieser Bikker mehr Mitleid mit der Kuh hatte als mit dem Mann, der getötet wurde.« Nach dem Krieg wird Bikker von der holländischen Polizei noch einmal zum Tatort gebracht. »Ich habe meine Pflicht getan«, sagt er da.