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Der Auschwitz-Prozess.

Einleitung

Der Strafprozess als Laboratorium der Erkenntnis

Am 20. Dezember 1963 begann der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ein Verfahren gegen Verantwortliche des Vernichtungslagers, das eine Zäsur in der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Massenmorden an den europäischen Juden markierte. Conrad Taler, der für die Zeitschrift der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde über den Prozess berichtete, schilderte: »Über die deutsche Todesfabrik (...) hatte ich schon einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag. Musste das Leben nicht still stehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war?«

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer

Unweigerlich mit dem Auschwitz-Prozess ist der Name des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer verbunden, der den Prozess initiierte und den Massenmord der Nationalsozialisten als historische Tatsache unbestreitbar machte. Ein Strafrechtler und Remigrant, der die NS-Prozesse aus einer liberalen Haltung heraus als Instrument gesellschaftlicher Selbstaufklärung verstand, die sich in kollektiver Schuldabwehr zu konstituieren gedachte. Bauer sah seine Hauptaufgabe nie in der Produktion von Strafurteilen. Die Strafverbüßung nach Abschluss eines Prozesses galt ihm weniger, als die Erkenntnis über den Grund des Verbrechens. Dies besonders bezogen auf den Nationalsozialismus, der nur durch das aktive Zutun vieler Einzelner seine vernichtende Gewalt entfalten konnte.

Geboren wurde Fritz Bauer am 16. Juli 1903 als Sohn des Textilgroßhändlers Ludwig Bauer in Stuttgart. Die Familie lebte nach jüdisch-orthodoxer Tradition, der sich der Sohn alsbald entschieden entzog, ohne je seine Verbundenheit mit der Sache des Judentums aufzugeben. Nach dem Jura-Studium in Heidelberg wurde er im April 1930 zum jüngsten Amtsrichter Stuttgarts bestellt. Die Nationalsozialisten setzten der gerade begonnenen Karriere drei Jahre später ein jähes Ende. Nach monatelanger Haft im KZ Heuberg und der Ulmer Strafanstalt wurde Fritz Bauer Ende 1933 zwar wieder entlassen, 1936 jedoch sah er sich gezwungen, zunächst nach Dänemark und 1943 nach Schweden zu fliehen. Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus gehörte er zu den wenigen Emigranten, die in der neuen Bundesrepublik zu Amt und Würden kamen: 1949 zunächst als Landgerichtsdirektor, dann zum Generalstaatsanwalt nach Braunschweig berufen, holte ihn der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn 1956 in dieser Funktion nach Frankfurt. Da war Fritz Bauer bereits durch das Beleidigungsverfahren gegen Major Remer bekannt geworden.

Landesverrat am Unrechtsstaat?

Otto Ernst Remer war der Offizier gewesen, den Joseph Goebbels am 20. Juli 1944 dazu gebracht hatte, sich unter seinen Befehl zu stellen und die »Verschwörer in der Bendlerstraße« zu verhaften. Als hoher Funktionär der Sozialistischen Reichspartei (SRP) hatte Remer nach dem Krieg die Attentäter um Stauffenberg als »Landesverräter« bezeichnet. In dem vom damaligen Innenminister Lehr gestellten Strafantrag sah Bauer eine Chance. Sein Plädoyer zielte darauf ab, das Gericht zu zwingen, das gesamte NS-System als Unrechtsstaat anzuerkennen. Das schien wenig, doch angesichts der seit 1945 gängigen Annahme, in der Diktatur sei Recht nur gebeugt worden, war es viel. »Landesverrat« an einem Unrechtsstaat ist kein Straftatbestand. Dagegen wog es wenig, dass Remer nur zu einer geringen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, der er sich darüber hinaus durch seine Flucht in den Nahen Osten entzog.

Kennzeichnend für das spätere Vorgehen Bauers war das Aufgebot von Gutachtern und Hintergrundzeugen, mit denen er den Prozess abstützte, sowie die Einbeziehung einer breiten Öffent­lichkeit, die im Auschwitzprozess wichtig wurde. Dies galt auch für die damals noch junge und wenig beachtete Zunft der Zeithistoriker, die er zu Gruben- und Gräberarbeit zwang.

Der Auschwitzprozess, den er als Generalstaatsanwalt in Hessen mitorganisierte, berührte eine »Vergangenheitspolitik«, die dem Konsens der Adenauerzeit im Willen zu Amnestie und Amnesie unterworfen war. Im Verhalten der Angeklagten, welche die Verantwortung für ihre Taten zurückwiesen, spiegelte sich die Auseinandersetzung der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem ihr angelasteten Holocaust – nämlich die Versicherung, von alldem nichts gewusst zu haben. Wie konnte gegen diese Betondecke angegangen werden? Zufalls­funde kamen dem Ankläger zu Hilfe. Ein Journalist hatte bei einem Vertriebenen aus Breslau halbverkohlte Blätter gefunden. Es stellte sich heraus, dass es sich um formlose Erschießungsprotokolle aus Auschwitz handelte, Überreste der bürokratischen Korrektheit, ohne die sich die SS ihre Vernichtungsarbeit nicht erlaubte. Mit diesem Beweismittel konnte Bauer das Bundesgericht dazu bringen, der Staatsanwaltschaft Frank­furt die Zuständigkeit für den Komplex Auschwitz zuzusprechen und die Ermittlungen aufzunehmen. Bis dahin lebten die später Angeklagten unter eigenem Namen fast 20 Jahre nach Kriegsende als Apotheker, Krankenpfleger, Fabrikanten in ihren Heimatorten, unauffällig, unangefochten. Bis zur Schließung der Beweis­aufnahme hörte das Schwurgericht 357 Zeugen, von denen 211 Auschwitz-Überlebende waren, der Prozess war zum damaligen Zeitpunkt das größte Schwurgerichtsverfahren in der deutschen Justizgeschichte.

Eine weitere Hilfe war Bauer der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem, an dessen Auffindung er beteiligt war. In der unüberschaubaren Schar der Zeugen offenbarte sich nicht nur das Leiden des jüdischen Volkes, der Blick richtete sich zwangsläufig auch auf Deutschland: Wo waren diejenigen, die die Bluttat für Eichmann und mit ihm zu Ende führten?

Befehlsnotstand

Im Prozess selbst verschanzten sich die Angeklagten hinter dem Befehlsnotstand, es kam für die Staatsanwaltschaft also darauf an, sie des Willens zur Tat zu überführen. Gerade im Missverhältnis zwischen der unbedeutenden, unauffälligen Nachkriegsexistenz und der Monstrosität der Verbrechen offenbarte sich, wozu Menschen unter gegebenen und geduldeten Umständen fähig sind. Bauer ging es um die Aufdeckung der zum Dauerverbrechen gewordenen Realität, beispielsweise in einem Prozess, den er wenige Monate vor seinem Tod gegen die Teilnehmer einer reichsweiten Justizkonferenz von 1941, welche die »Euthanasie« Morde juristisch absichern sollte, anstrengte. Nach Bauers Tod wurde das Verfahren eingestellt.

Aus:
• Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung  # 30, Fritz Güde,
Hebamme im Talar - Fritz Bauer zum 100. Geburtstag
• Asche auf vereisten Wegen.
Eine Chronik des Grauens - Berichte vom Auschwitz-Prozess
Conrad Taler
PapyRossa Verlag,
ISBN 3-89438-263-5
www.fritz-bauer-institut.de