Entliehene Erinnerungen
Viola B. GeorgiGegenstand des Buches ist die Untersuchung der Bedeutung des Holocaust und des Nationalsozialismus für die Eigen- und Kollektividentitätsbildung jugendlicher MigrantInnen, die in Deutschland leben. Einen Ausgangspunkt dafür bildet die Überlegung, dass aufgrund von Migrationsprozessen Pluralisierungsprozesse der Gesellschaft stattfinden, die auch Auswirkungen auf die Geschichtsbilder und das Geschichtsbewusstsein haben. Aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse finden auch Änderungen der Familien- und Kollektivgeschichte statt, die durch die tradierten historischen Erfahrungen von MigrantInnen übermittelt werden, die aus kulturellen Hintergründen stammen und die sich von den »deutschen« Geschichtsbildern unterscheiden. Um zu ermitteln, inwieweit die Ausprägung einer deutsch – nationalen Identitätsbildung verknüpft ist mit einem Antreten des deutschen »Erbes«, werden Fallstudien mit jugendlichen MigrantInnen erhoben.
Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf der Auseinandersetzung der jugendlichen MigrantInnen mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust und inwieweit eine Identifikation der kollektiven Vergangenheit als Opfer, Täter, Mitläufer oder Migrant relevant ist für die Ausbildung einer deutsch -kulturellen Identität.
Die Autorin skizziert zunächst mehr als umfassend theoretische Grundüberlegungen, was zur Herausbildung einer historischen Identität notwendig ist und damit einhergehend, welche Faktoren notwendig sind, damit Jugendliche nichtdeutscher Herkunft die deutsche Geschichte als ihre eigene internalisieren können. Sie führt an, dass mensch die Bildung einer kulturellen Identität nur dann vollziehen könne, sobald der eigene Lebensentwurf mit dem übergeordneten Gesamtgesellschaftlichen vereinbar sei. Unverzichtbar sei hierfür eigentlich eine übergeordnete historische Identität. Sie wirft damit die Frage auf, ob MigrantInnen überhaupt in der Lage sind, eine historische Identität und ein Geschichtsbewusstsein bezüglich des Nationalsozialismus bzw. des singulären Ereignisses des Holocaust auszubilden. Ein solches Geschichtsbewusstsein versucht sie mittels der geführten Interviews zu ermitteln.
Als Ergebnis der geführten Interviews resümiert Georgi, dass Wissen um die Vergangenheit an die Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart angepasst wird und die Erinnerungsarbeit dadurch unweigerlich durch Gegenwarts- und Zukunftsinteressen strukturiert wird und dadurch die Geschichtsbezüge junger MigrantInnen maßgeblich geprägt sind durch ihre Selbst- und Fremdpositionierung im gesellschaftlichen Raum der Aufnahmegesellschaft. Für die jugendlichen MigrantInnen nimmt die Auseinandersetzung mit ihrem Status als Ausländer einen größeren Bezugsrahmen ein als die strategische Selbstpositionierung im Kontext der deutschen Geschichte. Das Verständnis der NS –Geschichte wird hierbei zu einem Instrument der Beobachtung und der Analyse der Aufnahmegesellschaft sowie der Deutung der eigenen Situation als ein in Deutschland lebender Migrant oder deutscher Staatsbürger nicht ethnisch-deutscher Herkunft. Um diese im Umfeld des Diskurses um den Holocaust und der NS-Geschichte stattfindende Austragung von Identitätsverhandlungen im Migrationskontext zu beschreiben, nimmt Georgi eine Einteilung in vier Typen vor. Danach weist ein Teil der jugendlichen MigrantInnen einen reflektierten Umgang mit der Geschichte des NS und des Holocaust auf und hat dazu ein distanziertes Verhältnis. Doch ist auch feststellbar, dass es jugendliche MigrantInnen gibt, die sich die NS-Geschichte aktiv und empathisch aneignen. Dies betrifft zumeist Jugendliche, bei denen die familienbiographischen Hintergründe eine persönliche Verstrickung mit der Geschichte des Nationalsozialismus ergeben. Bei diesen tauchen dann auch Diskursfragmente aus dem Geschichtenrepertoire deutscher Vergangenheitsbewältigung auf.
Bei »Entliehene Erinnerungen« handelt es sich um eine Fallstudie, die zweifelsohne ihrem wissenschaftlichen Anspruch gerecht wird. Sie geht auf Problematiken oder Herausforderungen für den Geschichtsunterricht in Einwanderungsgesellschaften ein, die monokulturell geprägt sind, verweist auf Quellen von Autoren, die einen Geschichtsunterricht kritisieren, in dem die Vermittlung der nationalen Identität im Vordergrund steht und deren Forderung ist, sich auf »Verfahrensweisen« zu konzentrieren. Diese »Verfahrensweisen« sollen den Umgang mit dem »Fremden« und sich selber bedeuten. Dies ist nicht verwunderlich, da das Ziel dieser Studie die Entwicklung einer konzeptuellen Demokratie- und Menschenrechtserziehung sein soll.
Viola B. Georgi
Entliehene Erinnerungen
Hamburger Edition / Institut für Sozialforschung
Hamburg, Oktober 2003