Wunsiedel 2004
Am Vormittag des 21. August schien Wunsiedel, wie in den Jahren zuvor beim »Heß-Gedenkmarsch«, fest in der Hand von Neonazis. In einer Buchhandlung liegt die »National-Zeitung« mit der Schlagzeile »Rudolf Heß – war es Mord?« ganz oben auf dem Tresen, daneben die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit. Drei zierliche alte Damen tragen Heß-Buttons an beigen Sommermänteln. »Das war unsere Zeit unter Hitler, der Rudolf Heß war so ein feiner Mensch,« schwärmt die Älteste des Trios von Heß, vor dem sie als Balletttänzerin auftrat und dessen Grab sie regelmäßig mit Blumen versorgt. Wunsiedeler Neonazi-WGs warten am Bahnhof auf »Kameraden aus Sachsen« – man kennt sich von Konzerten und Aufmärschen. Im Garten der »Sechs-Ämterland-Klause« posieren die »Veneto Fronte Skinheads« aus Italien fürs Erinnerungsfoto.
Nachdem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Aufmarsch entgegen dem Verbot von SPD-Landrat und CSU-Bürgermeister erneut zuließ, führte das Konzept der Stadt Wunsiedel – den Auftaktort der letzten Jahre mit städtischen Fahrzeugen und Güllewagen zuzustellen - dazu, dass die Rechten sich über die Stadt verteilten. Bei der gedrängten Auftaktkundgebung im strömenden Regen die immer gleichen Bilder: Pathetische Grußworte vom NPD-Vorsitzenden Udo Voigt und »Kameraden« aus Großbritannien, Skandinavien, Russland und Italien, denen die wenigsten zuhören: In der Menge werden stattdessen CDs verkauft, Infos und Tratsch ausgetauscht. Als der Aufmarsch sich dann in Bewegung setzt – mit der NPD-Parteispitze und Anmelder Jürgen Rieger vorneweg – durchbricht eine halbe Stunde lang kein einziger Protestruf die als Schweigemarsch inszenierte Verherrlichung eines NS-Kriegsverbrechers.
Die Zivilgesellschaft
Doch die Erfolgsbilanz der Neonazis, die bei 4.600 Teilnehmern den internationalen Aufmarsch als größten diesjährigen in Europa feierten, ist getrübt. Das lag zum einen an den überraschenden Gegenaktivitäten der Wunsiedeler CSU-Kommunalpolitiker und der lokalen »Jugendinitiative gegen Rechtsextremismus«, die mit einer Straßenblockade Jürgen Rieger zum Toben und den Neonaziaufmarsch für eine halbe Stunde zum Stehen brachten. Das explizite Bekenntnis des CSU-Bürgermeisters, den Neonazis den Aufenthalt so unerfreulich wie möglich machen zu wollen, und die in der Stadt präsenten Fahnen und Transparente »Wunsiedel ist bunt, nicht braun«, haben die Stadt polarisiert: In diejenigen, denen der Bürgermeister und die Jugendinitiative aus dem Herzen sprechen und die mit der Politik des Wegschauens des SPD-Vorgängers nicht einverstanden waren. Und in die Mehrheit, die meinen, man solle die Fensterläden schließen und die Neonazis würden von selbst verschwinden.
Die Mobilisierung der autonomen Antifa
Die Bilanz der Antifa-Mobilisierung fällt zwiespältig aus, da sich zur ganztägigen Kundgebung lediglich rund 250 Antifas in Wunsiedel einfanden und man durch die Aktivitäten der BürgerInnen überrascht wurde. Wirkung hatte das Nebeneinander, als die Neonazis zwischen lautstarker Punkmusik auf der einen und wütenden Protestrufen der BürgerInnen auf der anderen Marktplatzseite laufen mussten. Ohne die Antifa-Mobilisierung wären die KommunalpolitikerInnen – die auf eine Änderung des Versammlungsrechts und eine entsprechende Initiative des Innenminister hoffen – und die Jugendinitiative kaum auf die Idee von Gegenaktivitäten gekommen. Die Frage stellt sich jedoch, ob es im nächsten Jahr – dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus – effektivere antifaschistische Strategien gibt.
Dass diese notwendig sind, machen die Bilanz des Aufmarschs und die Perspektiven fürs nächste Jahr deutlich: Wunsiedel hat sich als europaweit wichtigster Treffpunkt und Aufmarschort für alle Strömungen der extremen Rechten etabliert. Hier werden strategische Absprachen getroffen, Kampagnen beschlossen und Trends gesetzt. Diese Entwicklung gilt es zu beenden.