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50. Jahre Gedenken der Novemberpogrome 1938

Einleitung

Mit dem Schwerpunktthema über den Degesch-Konzern1 im Antifaschistischen Infoblatt (AIB) Nr. 5 wollten wir neben der Hintergrundinformation auch einen Beitrag zum politischen Inhalt zukünftiger antifaschistischer Aktionen leisten. In diesem Zusammenhang geben wir deshalb einen kurzen Rückblick auf die antifaschistische Demonstration und die Veranstaltung in Westberlin zum 50. Jahrestag der Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland 1938. Im Anschluß daran noch ein paar Worte zu den offiziellen Gedenkfeiern.

  • 1Die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H. (Degesch) war ein Chemieunternehmen, das sich mit dem Vertrieb von Schädlingsbekämpfungsmitteln befasste. Sie war die Inhaberin des Patents zur Herstellung von Zyklon B, das im NS für Massentötungen in mehreren Vernichtungslagern eingesetzt wurde.
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F073370-0003 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0

Der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Philipp Jenninger, empfängt 1986 den rechts-nationalistischen Schriftsteller und das frühere "Freikorps"-Mitglied" Ernst Jünger in seiner Dienstvilla in Bad Godesberg.

Nach der Demonstration vom 9. November 1988, die unter der Parole „Kein Vergeben, kein Vergessen – keine Amnestie für das Kapital“ rund 2.500 Menschen zusammenbrachte, schwieg die bürgerliche Presse. Der Umstand, daß explizite politische Inhalte und Forderungen geschnitten werden, ist alt und bekannt und kein Grund für Appelle an die Leitmedien, sondern die Bestätigung wie wichtig eine Presse von Unten ist.

Organisiert worden war die Demonstration von antifaschistischen Stadtteil- und Schülergruppen, die sich nicht der offiziell organisierten "Demutsheuchelei" der regierenden PolitikerInnen, die für den heutigen Rassismus und das Wiedererstarken neonazistischer Verbände mitverantwortlich sind, anschließen wollten. Menschen, die nicht schweigen wollten zu der Tatsache, daß sich das große Vergessen breit macht. Die Ziele der Demonstration, zu der neben der "Antifa Westberlin", der "Antifa Jugendfront" (AJF) und dem „Bündnis gegen Rassismus, Faschismus und Sexismus“ fünfzehn weitere Gruppen aufgerufen hatten, waren die Büros der Konzerne Degesch und Degussa.1 Zwei Konzerne von vielen, die für die Westberliner AntifaschistInnen für "die Kontinuität der Mächtigen und ihrer über Leichen gehenden Profitgier stehen. Konzerne, die mit Vernichtung von Menschen und in Kriegen die besten Geschäfte machten. Es sind die selben, die heute die Grundlinien bürgerlich – demokratischer Politik bestimmen."

Ausgehend von diesem Bewußtsein ergaben sich weitere Ziele, die Westberliner Antifa-Gruppen in diesen Novembertagen in Angriff nehmen wollten: Den Beginn einer Auseinandersetzung über den Antisemitismus und den Rassismus als Ideologie und den Rassismus heute gerichtet gegen die hier lebenden Menschen aus der Türkei und die Flüchtlinge aus der sog. „Dritten Welt “. Dabei sollten ganz konkrete Fragen aufgeworfen werden. Eine lautete z.B. "Wer hatte und hat ein Interesse daran, daß der Rassismus weiter um sich greift und wem nützte Rassismus damals?" Zu diesem und anderen Themen fand eine Veranstaltung am 4. November 1988 statt. Sie wurde mit 250 Leuten gut besucht. Der Einführungsbeitrag skizzierte die Rolle der Degesch-Eigner Degussa und IG-Farben2 im Nationalsozialismus und bei der Judenvernichtung. Es folgte ein geschichtlicher Abriß über den Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Ein weiterer Beitrag beschäftigte sich mit den wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Hintergründen des Massenmordens in den Konzentrationslagern. Zum Abschluß redete Fritz Teppich - Jude, Widerstandskämpfer und Kommunist - über seine Erfahrungen im antifaschistischen Kampf. In diesem Kampf gegen Faschismus und Rassismus betonte er die Notwendigkeit von Bündnissen und wandte sich gegen die Zersplitterung der antifaschistischen Kräfte.

Die rechts-bürgerliche Bewältigung ? Jenningers Rede

Verordnetes Gedenken und Schweigen - vergeben, vergessen... Tausende von Gedenkveranstaltungen, -reden, -vorträgen, -ausstellungen, und Schweigenmärschen in der BRD und Westberlin und dann passiert dieses „Malheur“ (Otto Schily), ausgerechnet zur Hauptgedenkstunde im Deutschen Bundestag. Peinlich, wenn einer nach 50 Jahren spricht wie's ist? Die Rede am 10. November 1988 vom Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger (CDU) brachte die rechts-bürgerliche Geschichtsbewältigung auf den Punkt.3 Der Schriftsteller Stefan Heym aus der DDR trifft den Punkt, wenn er sagt: „Diese Rede hätte eine Auszeichnung verdient für ihre geschichtliche Aussage.“

Vergangenheitsbewältigung à la BRD-Parlament

Politik, die ihren Faden durch die Nachkriegsgenerationen spinnt. Betroffenheit und Trauer über deutsche Geschichte - hier speziell am 9. November festgemacht – äußert sich nicht, weil sie bei den meisten Volksvertretern nicht existent ist. „Der Schoß ist fruchtbar noch....“, das könnte kein Spitzenpolitiker über die Lippen bekommen. Jenningers politische "Dummheit" verrät, welchen Wert solche offiziellen Veranstaltungen haben. Er mußte gehen, weil er nicht richtig zu heucheln versteht. Während er noch darüber nachdenkt, wieso ausgerechnet er seinen Hut nehmen muß, geht Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) zur gewohnten Tagesordnung über. Zimmermann will deutsche Geschichte nach den ganzen "Gedenkschauspielen" zu den „Novemberpogromen“ endgültig abgehakt wissen. Sein Kommentar zu den immer aktiver werdenden neonazistischen Organisationen in der Bundesrepublik: „Faschismus ist ein politischer Kampfbegriff, den vor allem Kommunisten verwenden.“ Auch der bayrische Innenminister positioniert sich weit rechts. Eine Woche vor dem 50. Jahrestag der „Reichspogromnacht“, besinnt sich Edmund Stoiber darauf „in erster Linie Politik für die Deutschen“ zu machen und fordert, daß die grundgesetzliche Garantie des Rechts auf Asyl abgeschafft wird. Stoiber soll ausgesprochen haben, was viele wieder denken: Das deutsche Volk dürfe durch „Asylbewerber“ nicht „durchmischt“ und „durchrasst“ werden.4

Der offizielle Schweigemarsch in Westberlin

Die Fraktionen von CDU, SPD, FDP bis AL im Abgeordnetenhaus, die neben der Jüdischen Gemeinde zum Schweigemarsch aufgerufen hatten, hätten sich sicher eine größere Beteiligung gewünscht. Schließlich hatten sich unter die 4.000 Menschen auch viele AntifaschistInnen gemischt, die mit dem Schweigen nicht einverstanden waren. Mit Sprechchören und Trillerpfeifen gaben sie ihren Kommentar während der Rede von Eberhard Diepgen (CDU, Burschenschaft Saravia, RCDS) an der wortwörtlich rechten Stelle ab. Ein Marsch, an dessen Spitze die höchsten Vertreter bürgerlicher Parteien am lautesten schweigen, ist nach Ansicht der protestierenden AntifaschistInnen kein Schweigemarsch, sondern der Weg zum Vernebeln der Ursachen: "Wenn der Millionen jüdischer Opfer gedacht wird, ohne an die Täter zu denken, ohne die Täter beim Namen zu nennen, ohne sie zur Rechenschaft zu ziehen, welchen Sinn hat dann das Schweigen? Tatsache ist heute, daß der allergrößte Teil der Naziverbrecher nie verurteilt worden ist. Die deutsche Industrie - welche die Nazis an die Macht finanzierte und mit dem imperialistischen Krieg und der Vernichtung der Juden ihr Profitgeschäft machte, wurde nie zur Verantwortung gezogen. Dieselben Konzerne sitzen nach wie vor an den Schaltstellen der politischen Macht".

Eine Woche nach dem Schweigemarsch wird vor dem Bonner Schwurgericht der SS-Hauptsturmführer Modest Graf von Korff von der Anklage der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Laut Anklage hat er in den Jahren 1942 und 1943 Sammeltransporte mit mindestens 220 Juden aus Frankreich in das Vernichtungslager Ausschwitz organisiert. Das Gericht sprach Korff frei, weil er behauptete, er habe nicht gewußt, daß die Deportierten in Ausschwitz umgebracht werden sollten. Bis zu seiner Pensionierung war von Korff zunächst Mitarbeiter des Bundesministeriums für Angelegenheiten des Bundesrates bzw. Ministerialrat im Bundeswirtschaftsministerium.

  • 1Die Degussa war stark in NS-Verbrechen verwickelt, u.a in die Verfolgung und Beraubung von JüdInnen, in die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, in die Zwangsarbeit und in die fabrikmäßige Massenvernichtung. In den Schmelzöfen der Degussa wurde Zahngold ermordeter Juden verarbeitet.
  • 2Die I.G. Farbenindustrie AG, kurz IG Farben kooperierte ab 1933 mit dem NS und spielte eine zentrale Rolle in dessen Wirtschaft. So expandierte sie durch „Arisierung“ jüdischer Konkurrenten, beschäftigte ZwangsarbeiterInnen und errichtete mit dem KZ Auschwitz III Monowitz das erste privat finanzierte Konzentrationslager.
  • 3Sicher, meine Damen und Herren, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Aber wer wollte bezweifeln, daß 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit ihm und seiner Politik identifizierte? Gewiß, einige ‚querulantische Nörgler‘ wollten keine Ruhe geben und wurden von Sicherheitsdienst und Gestapo verfolgt, aber die meisten Deutschen und zwar aus allen Schichten – aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft – dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen. (...) Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals –, die ihnen nicht zukam? Mußten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden?
  • 41988 sagte Edmund Stoiber als CSU-Generalsekretär, der SPD-Politiker Oskar Lafontaine wolle „eine multinationale Gesellschaft auf deutschem Boden, durchmischt und durchrasst“. Stoiber sprach damals von einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat, das er sich nicht zu eigen gemacht habe.