„Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ im Nationalsozialismus
Dagmar LieskeDie Verfolgung von „Berufsverbrechern“, einer bislang weitgehend ignorierten Opfergruppe.
Der „Heiratsschwindler“
Anfang März 1939 befand sich der zu diesem Zeitpunkt achtmal vorbestrafte Berliner Klavierbauer Max Kubik wegen eines Betrugsfalles in der Haftanstalt Berlin Plötzensee. Dem 28-Jährigen wurde vorgeworfen, er sei ein „Heiratsschwindler“ und habe sich gegenüber verschiedenen Frauen als Kriminalbeamter und SS-Mann ausgegeben. Zuvor war Kubik Ende 1938 und Anfang 1939 von zwei verschiedenen Frauen angezeigt worden. Er selber gab in einer polizeilichen Vernehmung an, aufgrund einer Herz- und Lungenkrankheit berufsunfähig und mittellos zu sein. Kurzfristig mischte sich auch die Gestapo in den Fall ein, weil sie überprüfen wollte, ob hinter Kubiks „Tarnung“ als SS-Obergruppenführer eine politische Motivation gesteckt habe. Die Kriminalpolizei kam jedoch zu dem Schluss, „Beobachtungen, die auf eine staatsfeindliche Betätigung des Kubik schließen lassen, wurden nicht gemacht“. Damit zog sich die Gestapo aus den Ermittlungen zurück. Mehrere Monate später wurde Kubik schließlich im August 1939 vor dem Berliner Amtsgericht wegen „Rückfallbetrugs“ zu einer Haftstrafe von einem Jahr und einem Monat Zuchthaus verurteilt, die er in Brandenburg-Görden verbüßte. Dort kam er auf einem Arbeitskommando mit der zivilen Arbeiterin Friedel Z. in Kontakt und ging eine Beziehung mit ihr ein. Da Kubik über seine Geliebte Briefe von anderen Gefangenen herausschmuggeln ließ, geriet er in Konflikt mit der Anstaltsleitung, die Frau verlor ihr Beschäftigungsverhältnis. Obwohl der Berliner seine Haftstrafe Ende 1940 abgesessen hatte, wurde er zu diesem Zeitpunkt erneut der Kriminalpolizei überstellt, die ihn mittels sogenannter „Polizeilicher Vorbeugehaft“ am 31. Januar 1941 in das KZ Sachsenhausen transportieren ließ. Hier registrierte die SS Kubik als „Berufsverbrecher“. Über seine Haftzeit im KZ Sachsenhausen ist nicht viel bekannt — im November 1941 befand er sich im Krankenrevier des Lagers. Am 5. Oktober wurde Kubik schließlich im Rahmen der „Aktion 14f13“1 mit einem Transport von insgesamt 118 Häftlingen in die Heil- und Pflegeanstalt Bernburg gebracht und dort im Alter von 39 Jahren ermordet. Für die „Aktion 14f13“, die eine Fortsetzung des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms in den Konzentrationslagern war, hatte die SS zuvor kranke und missliebige Personen ausgewählt, die in Bernburg vergast werden sollten. Möglicherweise war Kubik aufgrund seiner eingangs erwähnten Krankheiten auf dieser Liste gelandet. Auf den Totenscheinen wurden später falsche Todesursachen angegeben, um die Morde zu verschleiern — im Fall von Max Kubik hieß es auf der Urkunde, er sei an „Ruhr“ gestorben.
„Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ im Nationalsozialismus
Kubik war einer von insgesamt fast 9.000 Menschen, die von der Kriminalpolizei unter dem Label einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in das KZ Sachsenhausen eingewiesen wurden.2 Bereits im November 1933, also noch im ersten Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, wurden zwei Instrumente geschaffen, die einen dauerhaften Ausschluss von Personen mit kriminellen Vorstrafen aus der Gesellschaft ermöglichten: Dies war zum einen die mit Erlassen geregelte „Polizeiliche Vorbeugehaft“ und zum anderen auf der Ebene der Justiz das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ (kurz: Gewohnheitsverbrechergesetz). Beide ermöglichten eine dauerhafte Inhaftierung, deren Grundlage kein aktuelles Ermittlungs- oder Strafverfahren war, sondern die grundsätzliche Einschätzung des „Delinquenten“ im Hinblick auf zukünftiges kriminelles Verhalten. Sowohl die Vorbeugehaft als auch die mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz geregelte Sicherungsverwahrung (§ 42e) gingen auf kriminalpolitische Konzepte zurück, die bereits im Deutschen Kaiserreich diskutiert worden waren. So hatte schon der liberale Strafrechtler Franz von Liszt für das unbegrenzte „Wegsperren“ von „Unverbesserlichen“ plädiert. Besondere Popularität erhielt die Vorstellung von der Existenz eines „Gewohnheits-“ oder „Berufsverbrechertums“ aber in der Weimarer Republik. Der Kriminalpolitiker Robert Heindl veröffentlichte 1926 einen Band mit dem Titel „Der Berufsverbrecher. Ein Beitrag zur Strafrechtsreform“. Darin vertrat er die These, dass eine eingrenzbare Anzahl von professionellen „Verbrechern“, die überwiegend in demselben Kriminalitätszweig tätig sein und „aus reiner Gewinnsucht“ handeln würden, für den Großteil der Eigentumskriminalität insgesamt verantwortlich seien. Heindl forderte ihre dauerhafte Verwahrung, um die Kriminalitätsrate zu senken. Diese Konzepte fielen schon vor der Machtübernahme innerhalb der Kriminalpolizei auf fruchtbaren Boden, wurden aber erst danach in einem bis dahin unbekannten Maße zum festen Bestandteil der Kriminalpolitik. Dabei wurden zunehmend auch kriminalbiologische Erklärungsmodelle relevant — nicht zuletzt sollte die dauerhafte Internierung den „Delinquenten“ daran hindern, weitere Nachkommen zu zeugen.
Das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ ermöglichte nach § 42 k zudem erstmals die Zwangskastration von Männern ab 21 Jahren, wenn diese vor Gericht als „gefährliche Sittlichkeitsverbrecher“ eingestuft wurden. In Abgrenzung zur angeblich zu liberalen Verbrechensbekämpfung in der Weimarer Republik inszenierten sich die neuen Machthaber in diesem Bereich als besonders rigoros. Berühmte Kriminalfälle aus der Weimarer Republik, wie z. B. der „Tresorknacker“ Franz und Erich Saß, dienten zur Begründung der neuen Maßnahmen.3 So heißt es in der preußischen „Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ vom 13. November 1933: „Fälle, wie die der Gebrüder Saß in Berlin, die wiederholt ihre Absicht zur Begehung von Einbruchdiebstählen durch die Tat bekundet haben, jedoch mangels der Erfüllung eines strafrechtlichen Tatbestandsmerkmals — zum Spott für die Behörde — frei ausgehen mußten, sollen im nationalsozialistischen Staate unmöglich werden.“
Lokale Kriminalpolizeibehörden konnten zunächst auf Basis jeweiliger Landeserlasse ein- bis mehrfach Vorbestrafte zu „Berufsverbrechern“ erklären und gegen diese unbefristete und „präventive“ Haft im Konzentrationslager verfügen. Nach der Zentralisierung der Polizei erging am 14. Dezember 1937 schließlich ein „Grunderlaß“, der die Vorbeugehaft reichsweit regelte.
Die mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz eingeführte Sicherungsverwahrung wurde zunächst in den Justizhaftanstalten vollstreckt. Nach einem im Herbst 1942 getroffenen Übereinkommen zwischen dem Reichsjustizminister Otto von Thierack und Heinrich Himmler überstellte die Justiz ab Ende 1942/Anfang 1943 schließlich mehrere tausend Sicherungsverwahrte zur „Vernichtung durch Arbeit“ aus den Haftanstalten in die Konzentrationslager. Thierack begründete dies explizit mit der Kriegssituation. Während die Soldaten an der Front fallen würden, sei eine Versorgung der „Asozialen“ in den Zuchthäusern nicht mehr angebracht. Die Todesrate in dieser Gruppe war in den meisten Konzentrationslagern sehr hoch – im KZ Sachsenhausen verstarb knapp die Hälfte der insgesamt 480 Personen, die als Sicherungsverwahrte eingeliefert wurden. Sowohl Vorbeugehäftlinge als auch Sicherungsverwahrte mussten im KZ-System als „Markierung“ einen grünen Winkel tragen und waren — wie alle anderen KZ-Häftlinge — alltäglichem Terror, Gewalt, schlechten bis katastrophalen Lebensbedingungen, Zwangsarbeit sowie gezielten Mordaktionen der SS ausgesetzt. In einigen Fällen kastrierten SS-Ärzte in den lagereigenen Krankenrevieren auch Personen, die Vorstrafen im Bereich des Sexualstrafrechts wie z.B. wegen „sexuellem Kindesmissbrauch“ (§ 176) oder Homosexualität (§ 175) hatten.
Ignorierte Opfer
Trotz der hohen Anzahl von etwa 70.000 bis 80.000 Menschen, die mittels kriminalpolizeilicher Vorbeugehaft zwischen 1933 bis 1945 in Konzentrationslager eingewiesen wurden sowie mehreren Tausend Menschen, die die Justiz ab Ende 1942 als Sicherungsverwahrte an die SS übergab, bleibt die Haftgruppe der „Kriminellen“ bis heute weitgehend unbeachtet. Drei Aspekte können dies erklären: Erstens sind sie von Beginn an im juristischen Sinne nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt worden. Aufgrund des eng definierten Opferbegriffs in der deutschen Entschädigungsgesetzgebung, unter den nur gefasst wird, „wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist“, kann mittlerweile allenfalls eine einmalige Entschädigung auf Basis einer Härtefallregelung beantragt werden.4 Zweitens waren sowohl die historische KZ-Forschung als auch die Darstellungen in den Gedenkstätten selbst lange überwiegend durch Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge geprägt. Da sich die als „Berufsverbrecher“ Verfolgten i. d. Regel nach der Befreiung weder in den entsprechenden Verbänden organisierten, noch ihre Erlebnisse verschriftlichten bzw. diese publizierten, blieben ihre Perspektiven unbeachtet. Dominiert wurde die Sichtweise auf die „Grünwinkligen“ durch häufig negative Beschreibungen und Zuschreibungen anderer Überlebender. Und drittens galten die kriminalpolitischen Konzepte und Praktiken der Nationalsozialisten innerhalb der Polizei- und Justizbehörden bis weit in die 1960er Jahre nicht als spezifisch nationalsozialistisches Unrecht, sondern vielmehr als eine Fortsetzung regulärer Kriminalpolitik mit anderen Mitteln.
Frank Nonnenmacher, der sich als Angehöriger intensiv mit der Lebensgeschichte seines Onkels Ernst Nonnenmacher befasst hat, der als „Asozialer“ und „Berufsverbrecher“ in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert war, schrieb kürzlich im „Freitag“: „Um materielle Entschädigung geht es inzwischen nicht mehr. Die Betroffenen sind vermutlich alle tot. Wohl aber geht es um unsere Erinnerungskultur, die immer noch eine zahlenmäßig durchaus bedeutende Opfergruppe ausschließt.“ Tatsächlich werden inzwischen einzelne Schicksale derjenigen, die als „Kriminelle“ verfolgt wurden, in den meisten Ausstellungen der KZ-Gedenkstätten behandelt — öffentliche Gedenkveranstaltungen wurden ihnen bislang aber nicht gewidmet. Nach wie vor ist die Sichtweise auf die Häftlingsgruppe von der auf Erinnerungsberichte zurückzuführenden These geprägt, „Berufsverbrecher“ hätten in den Lagern grundsätzlich privilegierte Stellungen eingenommen und zu Ungunsten der anderen Häftlinge gehandelt. Dabei gerät aus dem Blickfeld, dass es stets auch unter den „Grünwinkligen“ nur eine Minderheit war, die solche Posten im Konzentrationslager bekleiden konnte.
Ausblick
Die KZ-Forschung hat sich lange an den Gruppenzuordnungen der Verfolgungsbehörden entlang gehangelt, um die Pluralität der Häftlingsgesellschaft sichtbar zu machen. Heute erscheint es mir sinnvoller, sich gerade in Bezug auf „Grauzonen“ wie sie anhand der Häftlingsvorarbeiter deutlich werden, verstärkt den individuellen Geschichten zu widmen, anstatt das Verhalten im Lager mit der Zuordnung zu einer „Gruppe“ gleich zu setzen. Neben der Sichtbarmachung aller Verfolgten ist deshalb eine gleichzeitige Dekonstruktion der von den Verfolgern gebildeten Kategorien geboten. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der „Berufsverbrecher“ als KZ-Häftlinge bietet die Möglichkeit, eine kritische Diskussion über problematische Auswüchse aktueller Konzepte der Kriminalitätsbekämpfung- und Prävention anzuregen. Denn noch heute erfreuen sich — insbesondere seit den 1990er Jahren — Maßnahmen wie die Sicherungsverwahrung als Antwort auf Kriminalität und Verbrechen großer Beliebtheit. Forderungen wie die des damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der 2001 im Hinblick auf Sexualstraftäter erklärte: „Wegsperren — und zwar für immer“ dürften bei nicht wenigen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen.
Die zeigt auch die Instrumentalisierung von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs durch Neonazis, die diese nutzen, um ihr Gesellschaftsmodell einer deutschen „Volksgemeinschaft“ zu verbreiten und dabei nicht selten Unterstützung aus der lokalen Bevölkerung erfahren. Eine Auseinandersetzung mit den historischen Konzepten und ihren Konsequenzen für die betroffenen Individuen ist deshalb auch aus tagespolitischen Gründen wichtig. Denn unabhängig davon, welche Straftaten jemand begeht, er hat das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung.
Zur weiteren Lektüre:
Dagmar Lieske: Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, Berlin 2016.
- 1„14f13“ war ein internes Aktenzeichen, dabei stand „14 f“ für den Tod im Konzentrationslager und „13“ für den Transport in eine „Euthanasie“–Anstalt.
- 2Dagmar Lieske, Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, Berlin 2016 (= Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 16), S. 35.
- 3Die Brüder Saß wurden im März 1940 im KZ Sachsenhausen erschossen, vgl. Günter Morsch, Mord und Massenmord im Konzentrationslager Sachsenhausen 1936—1945, 2. Aufl., Berlin 2008 (=Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 13), S. 160-165.
- 4Siehe zur Entschädigungsgesetzgebung die Broschüre Bundesministerium der Finanzen, Entschädigung von NS-Unrecht, Berlin 2012.