NS-Aktion »T4« – Mord an Kranken
In diesem Jahr jährt sich zum siebzigsten Mal der Beginn der sogenannten »T4-Aktion«. Der Mord an geistig und körperlich Behinderten markiert den Beginn der systematischen staatlichen Ermordung von »Unerwünschten« durch den Nationalsozialismus.
Die Diskussionen um die Legitimation von Sterilisation und Krankenmord waren weit älter als das »Dritte Reich«. Bereits während der Weimarer Republik existierten »Eugenische und Rassehygienische Bewegungen« die, mit Differenzierungen untereinander, das Wohl und Verderben eines Volkes darin sahen, wie es seinen »Erbstrom« vor »kranken, degenerierten und volksfremden« Einflüssen rein halten könne.
Führende Mediziner, Kriminologen und Politiker der Weimarer Republik hielten Zwangssterilisationen unter gewissen Umständen für angebracht. Die Anhänger fanden sich nicht allein auf der rechten Seite des Parteienspektrums sondern auch weit in bürgerliche Kreise hinein. Auch in demokratischen Ländern wie den USA, der Schweiz oder Schweden existierten zu der Zeit bereits Gesetze, welche die Zwangssterilisation von »Erbkranken« erlaubten.
Hitlers Anordnung zum »Gnadentod unheilbar Kranker«, datiert auf den 1. September 1939, kann deshalb zwar als Bezugspunkt einer Erinnerungspolitik dienen, darf aber nicht die Vorläufer und weite Verbreitung des eugenischen Diskurses vergessen. Ab 1933 setzten die Nationalsozialisten die Ziele der Rassehygienischen Bewegung auch in Deutschland in praktische Politik um, entsprachen doch ihre Vorstellungen den rassistischen und sozialdarwinistischen Grundannahmen dieser Bewegung. Auch Angehörige der eigenen »Volksgemeinschaft« standen im Fokus der rassehygienischen Aufmerksamkeit. Intensive Therapien sollten in Zukunft nur noch bei denen angewendet werden, bei denen noch Hoffnung auf Erfolg bestand – bei denen wo die Mühe aussichtslos erschien sollte die Euthanasiemöglichkeit als Bestandteil des ärztlichen Alltags angewendet werden.
So ermöglichte das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« ab Januar 1934 die Zwangssterilisation von sogenannten Erbkranken. Fürsorgeämter, Gefängnisdirektoren und Amtsärzte waren aufgefordert Erbkranke den Gesundheitsämtern zu melden. Bis zum Beginn des Krieges 1939 wurden auf Grundlage dieses Gesetzes ca. 400.000 Männer und Frauen zwangssterilisiert. Wie viele von ihnen heute noch leben ist unbekannt. Die Massenmordaktionen, welche von der Zentralstelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 ab 1939 organisiert wurden, bedeuteten einen Quantensprung in der Politik des »3. Reichs« im Umgang mit, in Augen des Regimes, »Unerwünschten« und »Lebensunwerten«. Mit Beginn des Krieges wurde zu radikaleren Maßnahmen gegriffen, die nun erst aus Sicht der nationalsozialistischen Führung möglich und nötig waren.
Der Massenmord beginnt
Von der Tiergartenstraße 4 aus wurden neue Institutionen wie die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil und Pflegeanstalten RAG« oder die »Gemeinnützige Krankentransporte GEKRAT« geschaffen und koordiniert.
Krankenhäuser, Psychiatrien und Pflegeheime wurden angeschrieben und aufgefordert, Auskünfte über ihre Patienten zu erteilen. Besonders Informationen über die Krankheit, die Arbeitsfähigkeit, ob sie Besuch von Angehörigen bekommen und wie lange die PatientInnen sich bereits in der Anstalt befanden waren von Interesse. Die ausgefüllten Fragebögen wurden zurückgesandt und drei von insgesamt 30 T4-Ärzten entschieden nach Aktenlage über das weitere Schicksal.
Über 70.000 Menschen wurden nach der Entscheidung durch die berüchtigten grauen Busse der GEKRAT Reichsweit abgeholt und, über mehrere Stationen, in eine der sechs Tötungszentren, ehemalige Heil- und Pflegeanstalten, gebracht. In diesen wurden die Kranken mittels Autoabgasen oder durch Giftspritzen ermordet und in den Krematoriumsöfen der Anstalten verbrannt. Anstaltseigene Standesämter stellten gefälschte Sterbeurkunden für die Angehörigen aus.
Die T4-Aktion blieb nicht lange geheim. Für Verwunderung hatten bereits die Briefe gesorgt durch welche die Anstalten zu Abgabe der Fragebögen aufgefordert wurden, da sie direkt vom Reichsinnenministerium kamen, ohne dass der normale Dienstweg über die Gesundheitsämter eingehalten wurde. Auch die Begründung, warum die Kranken verlegt werden sollten, die mangelnde Benachrichtigung der Angehörigen, der überraschende Tot der Patienten nach wenigen Wochen und die immer gleich lautenden Erklärungen wie Lungenentzündung oder Gehirnschlag weckten Verdacht. Der Rauch der Krematoriumsöfen in Hartheim war so auffällig, dass Anwohner Fotos von dem Gebäude machten. Auch bei den PatientInnen sprachen sich die Vorgänge rum. Einige leisteten verzweifelten Widerstand wenn sie die grauen Busse vorfahren sahen.
Proteste von evangelischen und katholischen Geistlichen, Unruhe in der Bevölkerung, sogar eine Anzeige wegen Mordes durch einen aufrechten Richter scheinen auf den ersten Blick für den offiziellen Stopp der Euthansieaktion im August 1941 verantwortlich zu sein. Doch zu diesem Zeitpunkt waren bereits über 70.000 Behinderte in den Tötungszentren umgebracht worden, das zu Beginn anvisierte Ziel der T4-Planer vom Herbst 1939 war bereits erfüllt.
Und auch nach dem Stopp ging die Aktion dezentral weiter. Sie transformierte sich und gewann an Radikalität und Umfang. Ca. 100 der Tötungsexperten der Euthanasieaktion wurden gleich nach Ende der T4-Aktion in die neu geschaffenen Todes-Lager Belzec, Sobibor und Treblinka der Aktion Reinhardt geschickt. Die Erfahrungen die sie mit der Massentötung von Behinderten gesammelt hatten wurden für das im Herbst 1941 beschlossene nächste Programm genutzt: Die sogenannte »Endlösung der Judenfrage« in Europa. Die ersten Kommandanten der genannten Vernichtungslager waren T4 Mitarbeiter und wurden auch von dort bezahlt.
In Kliniken des besetzten Osteuropas hielt man sich nicht lange mit medizinischen Untersuchungen von PatientInnen auf: Einsatzgruppen erschossen systematisch die Insassen um Platz für deutsche Truppen zu schaffen.
Auch im Reich ging die Ermordung an Behinderten weiter. Nicht mehr zentral gelenkt wurde weiterhin in den Anstalten durch Ärzte und Pflegepersonal hauptsächlich durch Nahrungsmittelentzug gemordet. Und auch die sechs Tötungszentren der Euthanasieaktion blieben weiter in Betrieb: KZ-Häftlinge, die Arbeitsunfähig oder politisch unbequem waren, wurden in der Aktion 14f13 in diese verlegt. Bis Kriegsende starben in den Krankenmordaktionen innerhalb Deutschlands weit über 200.000 Menschen.
Juristisches Nachspiel?
In den Nürnberger Ärzteprozessen wurden 15 T4-Beteiligte verurteilt. Weit über tausend Ärzte, Krankenschwestern oder Mitarbeiter in der Verwaltung der T4-Aktion gingen in der BRD, wie der Großteil der Nationalsozialistischen Einsatzgruppentäter, Juristen und Staatsbeamten, problemlos auf.
Sie hatten die Chancen für einen Karriereschub genutzt, die Ihnen der NS bot und konnten auch nach 1945 ihre Laufbahn weiter fortsetzen. Viele sahen sich als konsequente Reformer welche nur schädliches Erbgut für immer aus dem »Deutschen Volkskörper« entfernen wollten und den verbrecherischen Charakter der Anordnungen nicht haben erkennen können. Die Opfer der Sterilisierungen dagegen sind bis heute nicht offiziell als Verfolgte des Naziregimes anerkannt, wodurch sie einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen erlangen würden.