Die deutsche Karte gespielt
Jörg Kronauer (Gastbeitrag)Geschichtspolitische Entwicklungen im Bund der Vertriebenen
Das Gedenkjahr bringt den deutschen Umgesiedelten Erinnerungs-Anlässe zur Genüge. »60 Jahre Kriegsende, 60 Jahre Verlust der Deutschen Ostgebiete, 60 Jahre Beginn der Vertreibung der Deutschen«: Prägnant fasst der »Glatzer Gebirgs-Verein« aus Braunschweig die Ereignisse zusammen, die ein »Feierlicher Ostdeutscher Gottesdienst im Dom zu Fulda« am 3. Oktober ins Gedächtnis rufen soll. Daneben wird, so verkündet der von »Vertriebenen« aus dem polnischen Klodzko im Jahr 1951 gegründete Wanderclub, ein weiteres Datum besonders beachtet werden: »55 Jahre Unterzeichnung der Charta der Heimatvertriebenen«.
An den Folgen der Umsiedlung der Deutschen arbeiten sich die Umgesiedelten ab, seit sie schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Besatzungszonen beginnen konnten, sich zu eigenen Organisationen zusammenzuschließen. Die Umsiedlung begleitete das vorläufige Ende deutscher Macht in verschiedenen mittelosteuropäischen Gebieten, die zuvor zum Deutschen Reich gehört hatten oder von Nazideutschland annektiert bzw. kontrolliert worden waren. In diesen Gebieten den deutschen Einfluss wieder auszuweiten, das war das Ziel, das die Verbände der Umgesiedelten von Beginn an verfolgten und bis heute verfolgen. Die Interpretation der geschichtlichen Ereignisse, die zur Umsiedlung führten und mit ihr einhergingen, Geschichtspolitik also ist für den Bund der Vertriebenen (BdV) und die einzelnen Landsmannschaften essential.
Geschichtspolitische Grundlagen
Bereits in den ersten Jahren nach 1945 gelang es den Umgesiedelten, geschichtspolitisch bedeutsame Pflöcke einzuschlagen. Damals ging es um die Deutung des Potsdamer Abkommens, um eine politisch aufgeladene Bezeichnung für die Umsiedlung und um das politische Motiv der Umsiedlung. Begriffliche und juristische Festlegungen der damaligen Zeit prägen die Debatte bis zur Gegenwart und sind die Basis für die aktuelle Vergangenheitspolitik des BdV. Die bald nach dem Krieg entwickelte Hauptforderung der Umgesiedelten (»Recht auf die Heimat«) bildet - wie damals - den politischen Kern der um sie herum entstandenen Geschichtsinterpretation. Dass sich für die Umgesiedelten die Bezeichnung »Vertriebene« durchsetzte, war ihr erster Erfolg.
»Am Ende des Zweiten Weltkrieges war die Verwendung des Begriffes 'Vertreibung' in seiner heute gängigen Bedeutung noch gänzlich unbekannt«, schreibt Samuel Salzborn in seinem Grundlagenwerk über die »Vertriebenen«-Verbände (»Grenzenlose Heimat«)1
Vielmehr nannte man damals die Menschen, die aufgrund der politischen Entwicklung ihre Wohnorte jenseits der neuen deutschen Ostgrenzen freiwillig oder gezwungenermaßen verließen, entweder »Umgesiedelte« oder »Flüchtlinge«. Selbst im staatsoffiziellen Bonner Haus der Geschichte findet man noch heute ein Plakat aus der britischen Besatzungszone, das vom 5. Oktober 1945 datiert und an Umgesiedelte gerichtet ist. Es trägt nicht die Überschrift »Merkblatt für Vertriebene«, sondern: »Merkblatt für Flüchtlinge«. Der in den westlichen Besatzungszonen wenige Jahre danach gängige Terminus »Vertriebene« drückt hingegen, wie ein Beobachter in den 1950er Jahren bemerkte, »fortlaufende(n) Protest gegen das Unrecht der Vertreibung« aus.2
»Unrecht der Vertreibung«? Das ist historisch schlicht falsch. Die Umsiedlung der Deutschen erfolgte in Erfüllung des rechtsverbindlichen Potsdamer Abkommens, sollte eine erneute deutsche Ostexpansion erschweren und die Bevölkerungen der mittelosteuropäischen Staaten von ihren ehemaligen NS-Peinigern befreien. Die Alliierten »erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß«, heißt es in Abschnitt XIII des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945.3
Den Rechtsakt der Umsiedlung - und mit ihm zugleich einen wichtigen Teil des Vertragstextes - zum Unrecht zu erklären, das war von Anfang an ein Ziel der Geschichtspolitik der Umgesiedelten.
Es wurde begründet mit irreführenden Behauptungen über das Motiv für die Umsiedlung. Die Deutschen seien im Jahr 1945 als »Volk« bzw. »Volksgruppe« Gegenstand rassistischen Hasses gewesen, hieß es schon bald: Der rassistische Hass habe schließlich die »Vertreibung« initiiert. Auch das ist historisch unwahr und nicht zu halten. Das Benes-Dekret Nr. 33 vom 2. August 1945 etwa - eines der Dekrete, die die Umsiedlung im Detail regelten - erkannte zwar deutschen und ungarischen NS-Kollaborateuren und -Profiteuren die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft ab. Auch für Deutsche und Ungarn galt jedoch: »Personen, welche [ ... ] nachweisen, dass sie der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben sind, sich niemals gegen das tschechische und slowakische Volk vergangen und sich entweder aktiv am Kampf um seine Befreiung beteiligt oder unter dem nazistischen oder faschistischen Terror gelitten haben, bleibt die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhalten.«
Den Kampf gegen das Potsdamer Abkommen stellten die Umgesiedelten in den Mittelpunkt ihres ersten und bislang bedeutendsten gemeinsamen Forderungskatalogs. »(W)ir (fühlen) uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird«, heißt es in der »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« vom 5. August 1950. Ein erfundenes »Recht auf die Heimat« soll gewissermaßen die Umsiedlung rückgängig machen: Es würde den Umgesiedelten politische Einflussmöglichkeiten in ihren Herkunftsgebieten verschaffen. Entsprechend wurde die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« fast genau »am fünften Jahrestag des Potsdamer Protokolls (verkündet), das« - so heißt es beim BdV - »in der 'Charta' ungenannt gewissermaßen am Pranger steht«.4
Basis-Erweiterung
Bereits wenige Jahre nach der Umsiedlung standen damit die Determinanten fest, die die Geschichtspolitik des BdV noch heute prägen: Die Umsiedlung und damit das Potsdamer Abkommen sollen zum Unrecht umdefiniert, das »Recht auf die Heimat« hingegen zum Menschenrecht erklärt werden. Der BdV versucht seit einigen Jahren, für diese Ziele eine breite Basis zu gewinnen, die über seine bisherige überwiegend konservative Klientel hinausreicht. Er nutzt dabei die schon bald nach Kriegsende verbreitete Behauptung, die Umsiedlung sei eine aufgrund angeblichen rassistischen Hasses gegen die Deutschen durchgeführte »Vertreibung« gewesen, durch die den Umgesiedelten »Unrecht« zugefügt worden sei.
Vertreibungen, so heißt es im BdV, kommen bis in die Gegenwart immer wieder vor. Eine umfangreiche Aufstellung unterschiedlichster Vorgänge, die alle unter den Begriff »Vertreibung« subsumiert werden, hält die Website des »Zentrums gegen Vertreibungen« bereit. Die Vertreibung von Azeris durch Armenier Anfang der 1990er Jahre in Nagornyi Karabach wird dort genannt, die Flucht großer Teile der tschetschenischen Zivilbevölkerung vor der russischen Armee und die Verfolgung von Roma im Kosovo. All dies seien »Vertreibungen«, die offensiv als Unrecht gekennzeichnet und bekämpft werden müssen, erfährt man beim Zentrum gegen Vertreibungen. Der Plural im Titel der Organisation (»Vertreibungen«) ist Programm.
Wer die genannten Vorgänge (»Vertreibungen«) ablehnt, muss - so die Logik der deutschen Umgesiedelten auch die Umsiedlung der Deutschen zum Unrecht erklären. Denn die sei ja, so heißt es seit der frühen Nachkriegszeit in ungebrochener Kontinuität, aufgrund rassistischen Hasses gegen die Deutschen durchgeführt worden und daher nicht anders zu bewerten als die Verfolgung von Serben im Kosovo. Die Argumentation beruht auf den eingangs erwähnten, historisch nicht haltbaren geschichtspolitischen Behauptungen. Sie findet dennoch immer breitere Akzeptanz.
Erfolge in Deutschland
Bestes Beispiel: Der Schriftsteller und entschiedene Nazi-Gegner Ralph Giordano. »Die Humanitas ist unteilbar«, erklärte er in einem Briefwechsel mit BdV-Präsidentin Erika Steinbach, den die Tageszeitung »Die Welt« im Februar 2004 veröffentlichte: »Alle Verbrechen, alle Menschenrechtsverletzungen, die von deutschen und die an Deutschen, müssen aufs Tapet, restlos und ohne Tabus.« Eine Bedingung stellte Giordano allerdings doch: Er könne sich - als Holocaust-Überlebender - nur dann für das Zentrum gegen Vertreibungen einsetzen, wenn »der BdV von heute das Empathiedefizit des BdV von gestern« aufarbeite. Ein lobenswertes »Empathiebekenntnis« erkannte Giordano in einem Artikel des früheren BdV-Präsidenten Herbert Czaja aus dem Jahr 1993. Czaja hatte darin erklärt: »Auch über Untaten Deutscher muss man sprechen«.
Dieses Zugeständnis sucht BdV-Präsidentin Steinbach derzeit in ihrem Verband durchzusetzen. Am 19. Juli 2004 führte der BdV in Berlin eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Warschauer Aufstands im Jahr 1944 durch. Als Hauptredner trat damals Ralph Giordano auf. Dabei verhehlte Steinbach keineswegs ihr Ziel, der Opfer Nazideutschlands zu gedenken, um die Umgesiedelten langsam, aber sicher in der »Opfergemeinschaft« etablieren zu können. »Wir würden uns doch auch freuen, wenn in Polen der Vertreibung der Deutschen gedacht würde«, erklärte sie, als in Polen heftige Kritik an dem Berliner Gedenkspektakel laut wurde.
Stößt die Geschichts-Vernebelung der deutschen Umgesiedelten im Ausland noch oft auf Protest, so setzt sie sich in Deutschland inzwischen mehr und mehr durch. Vor allem mit dem Zentrum gegen Vertreibungen, dessen Vorsitz sie sich mit Peter Glotz (SPD) teilt, brachte Steinbach die Sache in ihrem Sinne voran. 1999 ging sie damit an die Öffentlichkeit, gewann schon in den ersten Monaten die Unterstützung prominenter Sozialdemokraten und nach zwei Jahren die Sympathie der SPD-Bundestagsfraktion. Die SPD sucht ihr das Projekt inzwischen sogar aus der Hand zu nehmen und als »Netzwerk gegen Vertreibungen«, eingerichtet von der Bundesregierung, europaweit zu etablieren.
Steinbachs Bemühungen, die NS-Verbrechen in das »Vertreibung« genannte Sammelsurium einzubeziehen und damit dem Zentrum gegen Vertreibungen zu einer breiteren gesellschaftlichen Basis zu verhelfen, hatten zunehmend Erfolg.
Im Mai 2002 versammelte sie prominente Wissenschaftler in einem »Wissenschaftlichen Beirat beim Zentrum gegen Vertreibungen«. Dort dominierten allerdings noch bekannte Rechte, die Völkerrechtler Dieter Blumenwitz und Alfred-Maurice de Zayas etwa, Arnulf Baring und Michael Wolffsohn. Zwar gelang es Steinbach, mehrere regierungsnahe Wissenschaftler in den Beirat aufzunehmen, Hermann Schäfer etwa, den Präsident der Bonner Stiftung Haus der Geschichte, oder den Berliner Völkerrechtler Christian Tomuschat. Micha Brumlik jedoch, den Steinbach zunächst für die Mitarbeit gewinnen konnte, zog seine Zustimmung schon bald zurück.
Ein wirklicher Einbruch ins linksliberal-grüne Spektrum gelang Steinbach Anfang 2003. Einen neuen Menschenrechts-Preis verlieh das »Zentrum gegen Vertreibungen« damals, benannt nach dem jüdischen Schriftsteller Franz Werfel. In der Jury des Franz-Werfel-Menschenrechtspreis es traf zum ersten Mal ein Personenbündnis zusammen, dessen politische Bandbreite eine zuverlässige Verankerung der »Vertriebenen«-Anliegen in der deutschen Gesellschaft verhieß. Neben dem Erzreaktionär Otto Habsburg saßen dort zwei Sozialdemokraten (Peter Glotz, Klaus Hänsch), ein Liberaler (Otto Lambsdorff) und ein Grüner (Daniel Cohn-Bendit). Ralph Giordano komplettierte die Jury.
Beeindruckend ist die Liste der »Persönlichkeiten«, die das Zentrum gegen Vertreibungen inzwischen in der Rubrik »Menschen an unserer Seite« als Unterstützer aufführt. Neben Ralph Giordano finden sich dort die Schriftsteller Imre Kertesz und György Konrad, der Direktor des Potsdamer Menschenrechtszentrums Eckart Klein, der Vorsitzende der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Tilman Zülch, der Historiker und Direktor des Moses Mendelssohn-Zentrums Julius Schoeps und der Rabbiner Walter Homolka von der Weltunion für progressives Judentum. Die Liste zeigt, dass auch Staatsapparate und Wirtschaft das Projekt inzwischen unterstützen: Sie nennt den Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, und Rolf-E. Breuer, den Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank.
Probleme im Ausland
Die geschichtspolitische Vermengung von NS-Verbrechen und verschiedensten anderen Vorgängen mit der Umsiedlung der Deutschen unter dem Begriff »Vertreibung« ermöglicht es, auch unter Nicht-Deutschen Bündnispartner zu gewinnen. Im April 2002 nahm Steinbach an einer Gedenkfeier des Zentralrates der Armenier in Deutschland zur Erinnerung an den Genozid von 1915 teil. Franz Werfet, der Namensgeber des neuen »Vertriebenen«-Preises, hat den Genozid literarisch beschrieben, der erste Preisträger (Mihran Dabag) hat ihn wissenschaftlich erforscht. Über die Kooperation u.a. mit armenischen Verbänden lässt sich, so hofft Steinbach, das internationale Ansehen der Vertriebenenverbände verbessern.
Einen weiteren Schritt voran brachte die Pressekonferenz, die Steinbach gemeinsam mit dem GfbV-Vorsitzenden Tilman Zülch am 5. August 2002 durchführte - am Jahrestag der Proklamation der »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« also. »Vertriebene unterschiedlicher Volksgruppen«, so der BdV, hätten bei der Pressekonferenz »durch ihre Anwesenheit ihre Solidarität mit einem Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin bekräftigt«. Anwesend waren eine Serbin aus Kroatien, eine bosnische Muslimin, eine griechisch sprechende Zypriotin, eine Russin aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien und ein Vertreter der Roma aus dem Kosovo. Ihnen wurde für ihren Einsatz zugunsten der deutschen Umgesiedelten die Unterstützung ihrer eigenen Ziele in Aussicht gestellt: »Für Vertriebene unterschiedlicher Völker«, hieß es, sei Berlin »leicht erreichbarer Anlaufpunkt«.
Im Ausland freilich beißt der BdV mit seiner geschichtspolitischen Vermengung unterschiedlichster Tatsachen noch auf Granit. In Polen etwa haben die wenigsten vergessen, dass die Umsiedlung durchaus etwas anderes war als die barbarische Niederschlagung des Warschauer Aufstands. »Erika, lass den Aufstand in Ruhe!«, titelte die polnische Presse als Reaktion auf die BdV-Gedenkveranstaltung vom Juli 2004, bei der Ralph Giordano - als Vertreter des vermeintlich »besseren Deutschland« - die Hauptrede hielt. »Dieser Gedanke«, urteilte der ehemalige Aufstandskämpfer und spätere polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski über Steinbachs Gedenk-Konzept: »Dieser Gedanke ist eine Provokation.«
Jörg Kronauer ist Sozialwissenschaftler, freier Journalist und er lebt in Köln.
- 1Samuet Satzborn: Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände, Berlin o.J., S 40.
- 2Ebd.
- 3Wolfgang Benz: Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München 1986, S. 224f.
- 4zitiert nach Holger Kuhr: »Geist, Volkstum und Heimatrecht«. 50 Jahre »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« und die eth(n)isch orientierte deutsche Außenpolitik