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Colonia Dignidad

Einleitung

Wer auf der Suche nach möglichst großer Entfernung und Entspannung von Deutschland durch den Süden Chiles reist, dem kann es passieren, auf einer verlassenen Schotterpiste mitten in der malerischen Bergwelt der Anden auf ein Werbeschild zu stoßen, auf dem »Tante Hildes Apfelstrudel« beworben wird. Was als absurde Kuriosität oder schlechter Scherz erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als vergleichsweise harmloses Symptom einer seit Beginn des 20. Jahrhunderts starken deutschen Präsenz in dem südamerikanischen Land. Neben Süd-Brasilien und Argentinien war Chile der Hauptanlaufpunkt für deutsche Auswanderer in Südamerika. Hier wurden sie von den Regierungen, die, inspiriert durch die derzeit weit verbreiteten pseudo-wissenschaftlichen Rassentheorien, versuchten, durch gezielte Förderung europäischer Einwanderung die heterogene Bevölkerungszusammensetzung ihrer Staaten »einzuweißen«, mit offenen Armen empfangen. Auch die klimatischen Bedingungen, die den mitteleuropäischen sehr ähnlich sind, mögen dazu beigetragen haben, dass sich Deutsche besonders im Süden Chiles angesiedelt haben.

Paul Schäfer auf einem Fahndungsplakat.

Ein deutsches Mustergut im Süden von Chile

Aus ihrer Heimat brachten die Deutschen ab den 1920er Jahren neben den bei den rassistischen Bevölkerungspolitikern Chiles sehr beliebten »deutschen Tugenden« auch verstärkt nationalsozialistisches Gedankengut in die Gesellschaft des Landes ein. Die NSDAP/AO hatte hier eins ihrer wichtigsten Zentren in Lateinamerika und ab 1933 sympathisierte ein großer Teil des chilenischen Bürgertums mit Nazi-Deutschland. Nach 1945 war Chile einer der Hauptanlaufpunkte für Nazi-Größen, deren Flucht von der ODESSA (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen) organisiert wurde. In den Nachkriegsjahrzehnten entstand in Lateinamerika ein Netzwerk, in dem geflohene Nazis wie Klaus Barbie (der »Schlächter von Lyon«), Mengele, Eichmann und viele andere die Kontinuität der NS Bewegung sicherstellen, wirtschaftliche Macht aufbauen und in den sechziger und siebziger Jahren enge Kontakte zu den ideologisch nahestehenden Militärdiktaturen der Region etablieren konnten. Chile war Dreh- und Angelpunkt dieser Aktivitäten und es ist wohl kein Zufall, dass die zentralen Feierlichkeiten anlässlich des 100. Geburtstags von Hitler am 20. April 1989 ebendort stattfanden. In enger Verbindung zum lateinamerikanischem Nazi-Netzwerk stand auch die sogenannte Colonia Dignidad, ein »Mustergut« etwa 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile, auf dem eine christlich-fundamentalistische Sekte aus Deutschland ab 1961 ein brutales Lagerregime etablierte, in dem totale Überwachung, Kindesmissbrauch, Folterungen, psychische Abhängigkeit, Sklavenarbeit und Mord zum Alltag gehörten. Führer dieser Sekte war Paul Schäfer, der, nachdem er sich aufgrund eines Haftbefehls seit 1997 auf der Flucht befand, am 10. März diesen Jahres in Buenos Aires gefasst und zügig nach Chile ausgeliefert wurde.

Die Anfänge

Die Colonia Dignidad entstand 1961, nachdem Schäfer wegen Kindesmissbrauchs aus Deutschland fliehen musste und in Chile einen sicheren Unterschlupf fand. Mit ihm kamen fast alle Mitglieder der Sekte, die er nach einer Abspaltung von den evangelisch-freikirchlichen Gemeinden in Hamburg, Hamm und Gronau im Jahr 1956 mit psychologischen Zwangsmaßnahmen zu seinen treu ergebenen Dienern gemacht hatte. Schon in Deutschland hatte die Sekte ein hohes Maß an wirtschaftlichen Aktivitäten entwickelt, die unter anderem Lebensmittel- und Drogeriegeschäfte umfassten und auf der entgeltlosen Arbeit der Anhänger basierte. In Chile angekommen, wurde ein 18.500 Hektar großes Gelände erstanden, welches durch eine elektrifizierte Überwachungsanlage abgesichert wurde. Nach wenigen Jahren entstanden auf der Colonia Dignidad u.a. Flugplatz, Kraftwerk, Schule, Krankenhaus, Ziegelei, Bäckerei und ertragreiche landwirtschaftliche Anbauflächen. Damit erreichte die deutsche Kolonie ein Maß an Autarkie, das die Sektenführer stolz verkünden ließ, »nur noch auf Salz und Reis von außerhalb angewiesen zu sein«. 1 Das Resultat war ein »Staat im Staate«, dessen Existenz besonders aufgrund der Enthüllungsberichte einiger entflohener Bewohner des Lagers bereits in den 1960er Jahren für einen großen Skandal in der chilenischen Öffentlichkeit sorgte. Die Zeugnisse von Zwangsarbeit, Psychofolter, systematischem Kindesmissbrauch, absoluter Kontrolle und Führerkult ließen die Medien kurzzeitig erschaudern und bewirkten gar einen parlamentarischen Untersuchungssausschuss. Dieser kam jedoch zu dem Schluss, dass bis auf einen ungeklärten Todesfall, eine unangemeldete Schule und einen nicht genehmigten Friedhof, nichts Relevantes gegen die Colonia Dignidad und ihre Führer vorliege. Dass es sich bei der offiziellen Entlastung bestenfalls um einen Trugschluss, wahrscheinlich jedoch um von oben angeordnete juristische Deckung für die Colonia Dignidad handelte, beweist die Fülle von Augenzeugenberichten und Gerichtsurteilen, die sich in den letzten vier Jahrzehnten angehäuft haben. Dem deutschen Haftbefehl wegen Unterschlagung und Kindesmissbrauchs, der die Emigration von Schäfer und seinen AnhängerInnen auslöste, folgten bald auch in Chile Anklagen wegen ähnlicher Delikte. Dem zwanzigjährigem Wolfgang M. war 1966 nach mehrmaligem Scheitern die Flucht aus der Colonia gelungen. Er berichtete, dass der sexuelle Missbrauch von minderjährigen Jungen zum Lageralltag gehöre. Wolfgang M. wurde wenig später wegen falscher Beschuldigungen zu fünf Jahren Haft verurteilt, konnte das Land jedoch rechtzeitig verlassen. Im Jahr 1975 wurde er kurz vor seinem Abschlussexamen als Sozialpädagoge aus einer Wohngemeinschaft in Siegen entführt. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren wegen »Verschleppung« ein, nachdem ein Brief aus der Colonia Dignidad eingegangen war, dass Wolfgang M. sich »freiwillig« in Chile befände. Weitere Enthüllungen von Menschen, die aus dem Hochsicherheitslager fliehen konnten, ermöglichten es ab den 1970er Jahren, ein genaueres Bild vom Alltag im Lager zu erlangen und öffentlich zu machen.

Der Sektenguru Paul Schäfer

Schäfer, der seine Tätigkeit mal als Seelsorger, mal als Psychologe beschrieb, hatte sich im Rahmen seines Wirkens als maximale Autorität der Sekte zu einem Meister perfider Psychopraktiken entwickelt. Diese waren darauf ausgerichtet, die Persönlichkeit der Betroffenen zu zerstören und sie so in die absolute Abhängigkeit von ihrem Oberhaupt zu bringen. Wichtige Elemente von Schäfers Unterwerfungsstrategien waren unter anderem totale Abschottung von der Außenwelt, die durch ein ausgeklügeltes Überwachungs- und Blockwart-System sichergestellt wurde, sowie repressive Maßnahmen zur Unterbindung der Verständigung zwischen den BewohnerInnen, die sich mit allen Anliegen und persönlichen Problemen ausschließlich an Schäfer zu wenden hatten. Ein rigides Bestrafungssystem stellte sicher, dass jegliche sexuelle Neigungen junger Menschen unterdrückt wurden, während sie gleichzeitig zur Verfügung ihres Führers stehen mussten, der so die uneingeschränkte Befriedigung seiner pädophilen und homosexuellen Bedürfnisse gewährleisten konnte. Schäfer bediente sich in seinem Mini-Führerstaat einer pseudo-wissenschaftlichen Psychologie, die mehr als nur Versatzstücke aus dem NS enthielt. »Psychopathen« sollten auch in der Colonia Dignidad durch Arbeit und Bestrafung geheilt werden. Als geisteskrank galten Menschen, die eines Fluchtversuches überführt wurden, Schäfer kritisiert oder über Missstände geklagt hatten. Die Foltermethoden, die Menschen zu erleiden hatten, die sich außerhalb des Zwangskollektivs gestellt hatten, zeichneten sich durch eine Fixierung auf Anus und Geschlechtsteile aus, wodurch die Folterer tiefe Eingriffe in die Biographie der Opfer erzielen konnten, die in ihre frühkindliche Phase zurückgeworfen wurden. Die mit diesen Methoden erzielte »Entkernung der Persönlichkeit« sorgte dafür, dass die Colonia-Bewohner sich kein Leben mehr außerhalb des Mini-Führerstaates vorstellen konnten und wollten. Das zweite wesentliche Merkmal der Colonia neben der Psychologie war der militante Antikommunismus ihrer Führer. Als 1970 die linke Volksfront mit Allende als Präsidenten die Macht in Chile übernahm, wurden die Sicherheitsmaßnahmen in der Colonia extrem verschärft und alle Männer mit Schusswaffen ausgerüstet, da man Landenteignungen befürchtete. Die guten Kontakte zu rechten Kräften in Militär, Wirtschaft und Politik wurden intensiviert und das deutsche Mustergut entwickelte sich zu einer wichtigen Basis der militanten Opposition gegen die neue linke Regierung. Schäfer stand in enger Verbindung zur rechtsradikalen Terrororganisation »Patria y Libertad«, die versuchte, durch Attentate und Sabotage die Allende-Regierung zu destabilisieren. Bei einer staatlichen Durchsuchung in der Siedlung am 14. Juni 2005 wurde ein riesiges Waffenlager ausgehoben, möglicherweise das größte in Chile in Privatbesitz befindliche. Auch der Putsch am 11. September 1973 wurde logistisch durch die Colonia Dignidad unterstützt. Die persönliche und politische Nähe von DINA-Chef Manuel Contreras und Schäfer sorgte für eine intensive und reibungslose Kooperation zwischen Pinochets Militärregime und der Colonia, die durch ihre abgeschiedene Lage, gute Auslandskontakte, eine hochentwickelte Sicherheitsanlage, modernste Abhöreinrichtungen und die Anwesenheit von in Foltertechniken erfahrenen Gestapo- und SS-Schergen den Bedürfnissen des im Aufbau befindlichen Unterdrückungsapparates entgegenkam. Es ist heute klar, dass die Colonia zwischen 1973 und 1990 als Ausbildungs-, Haft- und Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes DINA fungierte. Eine unbekannte Zahl von Menschen wurde hier über Jahre festgehalten, gefoltert und einem Zwangsarbeitssystem unterworfen, das getreu Schäfers Motto »Arbeit ist Gottesdienst« funktionierte. Zeugenaussagen und Ermittlungen haben des weiteren ergeben, dass die Colonia Schauplatz der »Operation Colombo« war. Diese hatte zum Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass sich »verschwundene« Oppositionelle im Ausland gegenseitig umbrachten, um so den immer drängenderen Fragen nach ihrem Verbleib zu begegnen. 1975 wurden 119 Oppositionelle in einer gemeinsamen Aktion von Colonia-Bewohnern und DINA auf dem Gelände der Kolonie nach Aussagen eines Zeugen »massakriert«, deren Leichen später im Ausland auftauchten. Eine wichtige Basis für den Erfolg der Colonia Dignidad waren die intensiven Kontakte nach Deutschland und zur internationalen Nazi-Szene. Zu den guten Freunden, Geschäftspartnern, Unterstützern und häufigen Besuchern der Colonia zählten unter anderem die nach Chile exilierten Nazis Hugo Roggendorf (SS-Veteran), Walter Rauff (der Erfinder der Tötungswagen) und Hans Albert Loeper, eine der wichtigsten Figuren des lateinamerikanischen Nazi-Netzwerks. Auch in Deutschland lebende Nazis waren gern gesehene Gäste in Chile: Gerhard Mertins, Waffenhändler und Vorsitzender des »Freundeskreises Colonia Dignidad«, nach 1945 aktiv in der Sozialistischen Reichspartei und der west-deutschen Nazi-Szene, weilte noch 1989 auf einem Arbeitsbesuch in der Colonia; der Rechtsanwalt Manfred Roeder, der das Vorwort zum Buch »Die Auschwitzlüge« schrieb, war mit Schäfer befreundet und besuchte ihn mehrfach. Gute Verbindungen bestanden auch nach Bayern, insbesondere zu CSU-Politikern, die intensive Lobby-Arbeit leisteten, um das schlechte Image der Colonia in der BRD aufzupolieren. Nach dem Tod von Franz Josef Strauß wurde bekannt, dass er mehrere Male mit seinen Söhnen zum Urlaub bei Schäfer war. Die Sympathie des CSU-Patriarchen zum faschistoiden Landgut beruhte auf Gegenseitigkeit. »Strauß ist ein Mann der Wahrheit und der Tapferkeit. Er ist wie Pinochet.«, sagte Hartmut Wilhelm Hopp, Arzt der Kolonie, im Interview mit der Zeitung Mercurio 1987.

Deutsche Verdrängungsleistung

Spätestens seit 1966 war die deutsche Botschaft in Chile über die Vorgänge auf dem Anwesen informiert. »Jahrelang hat die deutsche Botschaft dem Treiben auf dem Gut untätig zugesehen oder es sogar begünstigt. Einmal in der Woche kam ein Sektenmitglied zur Kontaktpflege in die Botschaft; Passverlängerungen oder Lebensbescheinigungen für die Rente wurden im Sammelverfahren und ohne Anwesenheit der betreffenden Person erledigt.« 2 Enge persönliche und wirtschaftliche Kontakte zwischen Botschaftsvertretern und Schäfer lassen dessen häufig gegenüber Sektenmitgliedern wiederholte Aussage, er habe die Botschaft in der Hand, plausibel erscheinen. Die bereits 1977 durch amnesty international publik gemachten Verbindungen zum chilenischen Unterdrückungsapparat hatten keinerlei negative Konsequenzen für die guten Beziehungen zu den Repräsentanten der BRD in Chile. Erst 1987, nach neuen Presseberichten, sah sich der deutsche Staat gezwungen auf die immer drängenderen Fragen von Angehörigen, die sich in der »Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad« organisierten, Menschenrechtsorganisationen und Presse zu reagieren. Außenminister Genscher veranlasste eine Untersuchung der Zustände, die zum Ergebnis hatte, dass die Komplizenschaft der deutschen Botschaft mit Schäfers Terrorregime beendet wurde und der Einsatz für widerrechtlich festgehaltene deutsche Staatsbürger verstärkt wurde. Wider besseren Wissens wurde jedoch jegliche Kenntnis über Verbindungen zum chilenischen Geheimdienst abgestritten. Die standardisierte Antwort auf Anfragen von Journalisten und Abgeordneten der Grünen lautete: »Zum Komplex `DINA` verfügt die Bundesregierung über keine eigenen Informationen.« Auch nachdem 2001 der Bundestag beschloss, dem Fall erhöhte Priorität einzuräumen und die Opfer zu unterstützen, gibt es bis heute keinen Hilfsfonds, geschweige denn ein Engagement für die gefolterten ChilenInnen. Nach dem Abtritt Pinochets, der ebenfalls ein gern gesehener Gast in der Colonia Dignidad war, stieg auch der Repressionsdruck auf Schäfer und seine Komplizen. Seit 1997 gab es verschiedene Razzien auf der Kolonie, mit dem Ziel Schäfer, der sich weiterhin auf dem Gelände aufhielt, zu verhaften. Jedes Mal rückte die Polizei erfolglos wieder ab und verstärkte so den Eindruck, dass den chilenischen Behörden wenig an einer Festnahme des Deutschen gelegen war, der mit seinem Detailwissen auch viele aktive Politiker der pinochetistischen Rechten Chiles in Gefahr bringen könnte. Nachdem Paul Schäfer nun in Argentinien festgenommen wurde und jetzt vor ein chilenisches Gericht gestellt wird, besteht zumindest die Chance, dass das Streben der Opfer und ihrer Angehörigen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Bestrafung des deutschen Täters erfüllt wird.

Weitere Informationen:

Lateinamerika Nachrichten; Nr. 370, April 2005

  • 1Lateinamerika Nachrichten, Dezember 1989, S. 7
  • 2Lateinamerika Nachrichten, Dezember 1989, S. 42