»ODESSA – Die wahre Geschichte«
ODESSA – die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen, ein Name, der die Fantasie vieler Menschen beflügelt. Wenig Sicheres über ODESSA war bis vor kurzem bekannt. Es sollte sich bei ODESSA angeblich um ein weltweites Netz von überzeugten Nationalsozialisten handeln, die im Hintergrund an einem vierten Reich bastelten. Die Wirklichkeit jedoch ist etwas weniger schillernd, aber kaum weniger interessant.
In seinem umfangreichen Werk hat der Autor Uki Goni der Frage nach der Existenz einer solchen Organisation nachgespürt. Dafür leistete Goni acht Jahre mühsame Archiv- und Interviewarbeit.
Eines vorweg: Es gab nie wirklich eine Organisation mit dem Namen ODESSA, aber es gab verschiedene NS-Fluchthilfeorganisationen und -netzwerke, die vor allem nach Argentinien führten. Der Autor Goni spricht in diesem Zusammenhang oft von »Perons ODESSA«, weil der populäre argentinische Oberst und Staatschef führend in das involviert war, was der Autor »die größte Fluchtoperation in den Annalen der Verbrechensgeschichte« nennt. In den ersten Kapiteln des Buches wird die Existenz eines NS-Agentenringes in Argentinien beschrieben, der eng mit den nationalistischen und katholisch-fundamentalistischen Militärs des Landes kooperierte.
Diese pronazistischen Militärs betrieben eine eigene Außenpolitik, in der sie mit dem 3. Reich kooperierten. Es kam zu einer verdeckten Allianz des offiziell neutralen Argentiniens mit den Nationalsozialisten. Argentinien tolerierte ein Netz von NS-Auslandsagenten (»Bolivar-Netzwerk«) im eigenen Land und kaufte vom 3. Reich über Spanien Waffen. Auch am Kriegsende bestanden trotz offizieller Kriegserklärung und dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen weiterhin Kontakte zur NS-Führung.
Verbindendes Element war dabei neben Nationalismus und Antikommunismus auch der Antisemitismus. Dieser zeigte sich u.a. während der blutigen Militärdiktatur 1976 bis 1983, als in Teilen des Regimes von einer »jüdischen Frage« und einer »zionistische Verschwörung« gesprochen wurde. Doch auch schon lange vorher äußerte sich der Antisemitismus. So untersagte Argentinien seinen Konsuln ein Jahr vor Kriegsausbruch durch ein internes Memo, Visa an Juden auszustellen. Damit schloss Argentinien inoffiziell seit 1938 für Juden die Grenzen. Nur in Einzelfällen konnten durch Bestechungen oder Täuschung bedrohte Juden in Argentinien einreisen. Erst am 8. Juni 2005 wurde diese Anweisung offiziell, obwohl schon lange nicht mehr wirksam, ungültig gemacht.
Peron selbst zeigte, ebenso wie viele seiner Kollegen beim Militär, eine starke Affinität zur katholisch-nationalistischen Einstellung des mit den Nazis kollaborierenden kroatischen Ustascha-, belgischen Rexisten- und französischen Vichy-Regimes, sowie mit dem antikommunistisch-antisemitischen Nationalsozialismus und Franquismus und dem Italo-Faschismus. Das wundert bei Perons Biografie kaum. Schließlich war Peron 1939 bis 1941 Militärbeobachter im faschistischen Italien.
Auch andere einflussreiche Argentinier brachten dem Nationalsozialismus Sympathien entgegen oder standen auf der Gehaltsliste der Nazis. Perons Geheimdienst wurde zur Zeit seiner Herrschaft in Argentinien (1946-55) sogar vom Sohn eines NS-Agenten geleitet.
Auch wenn der Hauptaugenmerk auf Peron gerichtet ist und dieser der Hauptstrippenzieher bei der Evakuierung von NS-Kriegsverbrechern und NS-Kollaborateuren nach Argentinien ist, so erfährt man auch einiges über seine beliebte First Lady Evita. So auch, dass sie ihre »Europa-Tournee« auch nach Franco-Spanien führt und dass sie dabei hilft, das Fluchtnetz für NS-Verbrecher zu etablieren. Kurz vor und dann nach Kriegsende flohen viele NS-Funktionäre und NS-Kollaborateure in Francos Spanien. Durch den Druck Francos mussten sich viele, aber nicht alle, ab 1946 nach einer neuen Zuflucht umsehen. Hier half der neue argentinische Staatschef Peron, der mit allen Mitteln NS-Verbrecher und NS-Kollaborateure vor den Alliierten in sein Land in Sicherheit brachte.
Für die Evakuierung von NS-Verbrechern und NS-Kollaborateuren nach Argentinien gab es neben der über Spanien noch verschiedene andere Routen. Die Nordroute führte über Skandinavien, wo sich nach Kriegsende aus den von der Wehrmacht bis zur Kapitulation gehaltenen Gebieten NS-Funktionäre hingeflüchtet hatten. Die Südroute führte über die Schweiz und Italien. Mit der Unterstützung antisemitischer Schweizer Beamter wurden mindestens 300 Personen nach Argentinien gebracht. Aber die größte Personenzahl wurde über Italien aus Europa herausgebracht.
Deutsche, österreichische, französische, belgische, holländische, slowakische und kroatische Kriegsverbrecher fanden mit Hilfe des Vatikans und der katholischen Kirche Argentiniens und der Tolerierung durch Teile der westlichen Geheimdienste nach Südamerika. Diese ganze Aktion wurde dabei von den obersten Stellen im Vatikan, Kardinälen, Bischöfen und Erzbischöfen als auch dem Papst selbst, geduldet, gedeckt und unterstützt. Fast die gesamte kroatische Regierung floh, teilweise als Priester verkleidet, über Italien nach Argentinien. Der kroatische Ustascha-Führer Pavelic, der für den Tod von 700.000 Menschen verantwortlich ist, aber auch ein Sohn Mussolinis kamen so nach Argentinien. Auf deutscher Seite ist neben den bekannten Namen Mengele und Eichmann auch Franz Stangel, Kommandeur des Vernichtungslagers von Treblinka, zu nennen.
In Argentinien ging es den Neuankömmlingen, unterstützt sowohl von Peron und seinem Umfeld, als auch von dortigen pronazistischen Industriellen, meist recht gut. Finanziert wurde diese ganze Rettungsaktion von Peron, pronazistischen deutschen und österreichischen Industriellen und von den Flüchtigen selbst; aus von Ihnen erbeutetem Raubgut. Ein Teil des Raubgutes stammt aber von Konten, auf denen das von wohlhabenden Juden erpresste Lösegeld lagerte. Diese hatten den Nazis nur entkommen können, indem sie auf Banken ins neutrale Argentinien die geforderte Summe überwiesen.
Einigen der Altnazis gelingt sogar der gesellschaftliche Aufstieg in die Elite des Landes. Altnazis dominieren auch über die »Peronistische Bewegung für Ausländer« (MPE) den deutschen Teil der Einwanderergemeinden, der sich aber auch schon davor stark zum 3. Reich hin orientiert hatte. Die überzeugtesten Nationalsozialisten organisierten sich im so genannten »Kameradenwerk« in Südamerika, dass auch gefangene Nazis in Europa unterstützte. Viele der Geflohenen hofften in einem baldigen 3. Weltkrieg zwischen Ost und West wieder verwendet zu werden.
Es ist dem Buch kaum anzumerken, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Die einzelnen Kapitel sind eigenständig lesbar und die wichtigsten aus der Menge an genannten Personen werden in einem Glossar zur besseren Orientierung noch einmal extra aufgeführt. Sehr dünn sind im Buch die wenigen Hinweise auf aufgenommene rumänische und ungarische NS-Kollaborateure. Für eine neue Ausgabe wären diese Punkte eine sinnvolle Erweiterung. Insgesamt ein äußerst lesenswertes Buch, was selbst dem erfahrenen Leser eine Menge an neuen Informationen beschert. (Fritz Rotdorn)
Uki Goni
ODESSA. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher
Verlag Assoziation A, Berlin 2006
ISBN-10: 9-935936-40-0
ISBN-13: 978-935936-40-8
Preis: 22 EUR
www.assoziation-a.de