Antidemokratisches Wurzelwerk
Die ideengeschichtliche und kulturelle Einordnung der völkischen Bewegung in Deutschland steht unter dem Primat ihrer Betrachtung als Quelle des Nationalsozialismus. Dies ist zwar legitim, sogar notwendig, schränkt jedoch den Blick auf ihr ideengeschichtliches Eigenleben und die Wechselwirkung mit anderen politischen Strömungen der Weimarer Zeit ein.
Auf dieses Dilemma verwiesen bereits die Herausgeber des 1996 erschienen Handbuchs zur völkischen Bewegung, welches den Versuch unternahm, die Physiognomie von Ideen und Akteuren gleichsam zu erden, ihnen exemplarisch Kontexte, Motiv- und Quellenlagen zuzuordnen. Ein im Jahr 2005 erschienener Sammelband setzt diesen Versuch sehr gelungen fort.
Im Vorwort nehmen die Herausgeber explizit Bezug auf die Publikation des Handbuchs zur völkischen Bewegung und reklamieren für Ihren Sammelband eine, wenn auch nicht systematische, so doch exemplarische Vertiefung einzelner Aspekte des Themas. Der Band versammelt einige zum Teil anderenorts bereits erschienene Aufsätze, die sowohl um Akteure, als auch um Ideen und Netzwerke der extremen Rechten der Weimarer Republik kreisen. Man darf die an den Anfang gestellten Aufsätze von Louis Dupeux und Hans Mommsen als komparatistische Einführung ins Thema lesen, die das Feld abstecken, in dem zu suchen sei. Hier werden die Standards zur Theorie über den sogenannten »Neuen Nationalismus« und die »Konservative Revolution« souverän und gut verständlich so eingeführt, dass auch ein im Thema fast unbeschlagener Leser einen Eindruck von der Materie erhält. Die folgenden Aufsätze sind jedoch in ihrer Art inhaltliche Tiefenbohrungen, welche ein erhebliches Vorwissen notwendig erscheinen lassen. Die Sammlung sucht das Thema durch die fünf Zugänge zu erschließen.
Dies liest sich instruktiv, weil die klar getrennten Zugänge es erleichtern, sich im antidemokratischen Wurzelwerk der völkischen Bewegung zu orientieren. Ein Zugang sind charismatische Personen und die sich um sie gruppierenden Kreise. Als Beispiele seien hier so unterschiedliche Figuren wie Stefan George und Ernst Niekisch genannt, in deren Werk und Wirkung eingeführt wird. Mit Erkenntnisgewinn liest man jene Aufsätze, die sich dem publizistischen Netzwerk der völkischen Bewegung, also ihren Verlagen, Zeitschriften und Autoren zuwendet. Denn für sie beschreibt Autor Justus H. Ulbricht nicht nur ihr inhaltliches Profil, sondern auch ihre Geschäfts- und Vertriebsstrategie, die sich als eine Kulturgeschichte der breiten Rezeption völkischer Broschüren, Handreichungen und Erbauungsheftchen liest, die für die Diffundierung völkischer Inhalte auch in sogenannte bildungsferne Schichten sorgte. Dabei ist interessant zu lesen, dass sich das Netzwerk völkischer Verlage bewusst vom bildungsbürgerlichen Börsenverein abgrenzte.
Der Band führt anschaulich die Funktionsweise einer politisierten Ästhetik (Walter Benjamin) und die Kommunikation ihrer Inhalte vor Augen, deren unpolitisches Selbstverständnis über erhebliche politische Implikationen verfügte, die von ihren Rezipienten auch so gedeutet wurden. Exemplarisch belegt der Band, dass in der Weimarer Republik vom Kaiserreich herkommend ein eigenständiger vorpolitischer, kultureller Raum entstand, in welchem völkische Inhalte in vielfältiger Form präsent blieben und ihre Wirkung entfalten konnten. Dieses Faktum nicht nur als Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu begreifen bedeutet, in dem kaum mit der damaligen Entwicklung vergleichbaren Segment der Verankerung völkischer Ideologieelemente in der kulturellen Alltagspraxis nach von der extremen Rechten intendierten Analogien zu suchen und sie politisch zu bekämpfen.
SCHMITZ, Walter / VOLLNHALS, Clemens:
Völkische Bewegung, Konservative Revolution, Nationalsozialismus: Aspekte einer politisierten Kultur
Thelem Verlag Dresden, 2005, 420 S., 45,00 EUR