»Planmäßige Schädigung der feindlichen Bevölkerung«
Wie an jedem Tag begann auch an jenem 20. Juli des Jahres 1905 die Arbeit auf der Baumwollplantage der im südlichen Teil Deutsch-Ostafrikas gelegenen Gemeinde Nandete noch vor Sonnenaufgang. Nur kurze Zeit später ereignete sich jedoch ein ungewöhnlicher Vorfall. Zwei Männer und eine Frau, die alle drei der Bevölkerungsgruppe der Matumbi angehörten, waren auf dem Feld erschienen und hatten damit begonnen, Baumwollpflanzen demonstrativ aus dem Boden zu reißen. Die symbolische Bedeutung der Aktion schien unmissverständlich. Die Plantagen galten als besonders markanter Ausdruck der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika, die durch Landraub, willkürliche Steuergesetze und nicht zuletzt durch die Einführung der Zwangsarbeit gekennzeichnet war. Die Zerstörung der Baumwollpflanzen wirkte wie ein Fanal. Zahlreiche Feldarbeiter schlossen sich spontan den drei Matumbi an. Die Aufseher der Plantage wurden ebenso in die Flucht geschlagen, wie die aus der Bezirkshauptstadt Kibata herbeibeorderten Polizeikräfte. Zwar versuchten die kolonialen Verwaltungsbehörden zunächst, die Ereignisse als lediglich lokale Unruhen herunterzuspielen, schon bald war jedoch unübersehbar, dass der Aufstand von Nandete den gesamten Süden der Kolonie erfasst und sich zu einem Krieg gegen die deutsche Herrschaft in Ostafrika entwickelt hatte.
Vordergründig spielte für die Entschlossenheit mit der zahlreiche Kämpfer den bewaffneten Widerstand aufnahmen der weit verbreitete Glaube an das »Maji«, einer Medizin, die nahezu unverwundbar machen sollte, eine maßgebliche Rolle. Die entscheidenden Ursachen der Erhebung sind jedoch in der von den Deutschen seit 1884 in Ostafrika praktizierten Ausbeutungsund Unterdrückungspolitik zu suchen. Der Maji Maji-Krieg, der Anfang 1907 offiziell endete, wies, wie bereits der Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908), genozidale Züge auf. Vor allem durch die von den Deutschen (mit) verursachten und bewusst in Kauf genommenen Hungersnöte, kamen zehntausende ums Leben.
Ankunft der »Herrenmenschen«
Die deutsche Präsenz in Ostafrika fußte von Beginn an auf Lüge und Betrug. Zunächst war es der Historiker Carl Peters (1856–1918) und die von ihm gegründete »Gesellschaft für deutsche Kolonisation« (GdK), die seit 1884 in Ostafrika Einflussgebiete und Kolonien für das Deutsche Reich reklamierten. Besonders in den Küstengebieten, später auch im Landesinneren konnte er ein gutes Dutzend so genannter Schutzverträge mit lokalen Machthabern abschließen und somit in den Besitz großflächiger Territorien gelangen. Als Gegenleistung versprach Peters seinen Vertragspartnern im Falle einer äußeren Bedrohung die militärische Unterstützung des Deutschen Reiches. Für derartige Zusagen besaß der »dumme Kerl«, wie Reichskanzler Bismarck den Koloniallobbyisten gerne nannte, allerdings nicht das geringste Mandat. Dies freilich kümmerte Peters wenig, trat er doch mit dem Gestus eines »Herrenmenschen« auf, der keinen Hehl aus seiner rassistischen Weltanschauung machte.
Obgleich Bismarck den kolonialen Bestrebungen zunächst skeptisch gegenübergestanden hatte, vollzog sich seit 1885 ein Wandel in der deutschen Haltung zur Kolonialpolitik. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war zum einen die Kongo-Konferenz in Berlin 1884/1885, bei der die europäischen Mächte einschließlich Deutschlands sowie die USA ihre globalen Interessensphären untereinander abgestimmt hatten. Zum anderen begann sich im Deutschen Reich eine organisierte Koloniallobby zu formieren, die mit ihrer lautstarken Agitation die deutsche Außenpolitik zunehmend beeinflusste. Im Februar 1885 wurden daher die von Carl Peters getätigten Erwerbungen in Ostafrika vom Kaiser offiziell zu deutschen »Schutzgebieten« erklärt. Deren Verwaltung sowie die Erschließung weiterer Territorien im Landesinneren blieben aber de facto der privaten, aus der GdK hervorgegangenen Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft (DOAG) überlassen.
Erst mit dem so genannten Araberaufstand im Jahr 1888 setzte die Phase einer aktiven, vom Deutschen Reich betriebenen Kolonialpolitik in Ostafrika ein. Besonders in den Küstenregionen hatte das oftmals selbstherrliche Auftreten der DOAG zu erkennbarem Unmut in weiten Kreisen der Bevölkerung und unter den dort ansässigen arabischen Händlern geführt. Nachdem es zu einzelnen gewalttätigen Übergriffen auf deutsche Siedler gekommen war, bewilligte der Reichstag zwei Millionen Mark für die Aufstellung einer von Hermann Wissmann geführten, vorwiegend aus sudanesischen Söldnern bestehenden Eingreiftruppe, die den Aufstand niederschlug. Aber auch in den folgenden Jahren kam es wiederholt zu kleineren Erhebungen, die sich gegen die deutsche Herrschaft richteten. Allein in den Jahren 1891–1897 unternahm die aus Wissmanns Söldnerarmee hervorgegangene »Kaiserliche Schutztruppe Deutsch-Ostafrika« mindestens 61 »Strafexpeditionen«, mit dem Ziel, rebellierende Bevölkerungsgruppen, wie etwa die Hehe, die Ngoni oder die Matumbi, zur Anerkennung der deutschen Machtansprüche zu zwingen.
»Inwertsetzung« – Die Konsolidierung der deutschen Herrschaft in Ostafrika
Die wesentliche Ursache für den anhaltenden Widerstand, der im Juli 1905 zum Maji-Maji-Krieg eskalierte, bildete die vom Deutschen Reich seit der Jahrhundertwende forcierte »Inwertsetzung« der Kolonie, die sich bis dahin als kostspieliges, staatlich subventioniertes Zuschussunternehmen erwiesen hatte. Zwischen 1898 und 1905 erließ die Kolonialverwaltung eine Reihe von Verordnungen, die zum einen zu einer Erhöhung der Steuereinnahmen führen, zum anderen den deutschen Siedlern und Plantagenbesitzern den Zugriff auf afrikanische Arbeitskräfte, notfalls durch Zwangsrekrutierung, erleichtern sollten. War 1898 erstmals eine Hüttensteuer zu bezahlen, verschärften sich unter dem seit 1901 amtierenden Gouverneur Gustav Adolf Graf von Götzen die Mechanismen der fiskalischen Auspressung. Neben der Einführung von Abgaben für selbstgebrautes Bier (Pombe-Steuer) musste nunmehr jeder »erwachsene Mann im Binnenland« an Stelle der Hüttensteuer eine Kopfsteuer entrichten, was faktisch eine Erhöhung der Steuerlast um das Vierfache bedeutete. Erschwerend kam hinzu, dass die deutsche Kolonialverwaltung nur Bargeld als Zahlungsmittel akzeptierte.
Es lag auf der Hand, dass derartige Vorgaben von weiten Teilen der nichtdeutschen Bevölkerungsmehrheit, die überhaupt nicht in die Geldwirtschaft eingebunden waren, kaum erfüllt werden konnte. Flankiert von Verbotsverfügungen, wie etwa einer Wildschutzverordnung, mit der die in Ostafrika traditionelle Jagd untersagt wurde, bezweckten die Maßnahmen in erster Linie, die ökonomische Eigenständigkeit der Einheimischen zu brechen, um diese dem von den Deutschen errichteten Lohn- und Zwangsarbeitssystem zu unterwerfen. Als dessen markantester Ausdruck fungierten seit 1902 vor allem im Süden Deutsch-Ostafrikas die so genannten Kommunalschamben. Hierbei handelte es sich um Felder und Plantagen, die gemäß einer Verfügung des Gouverneurs von den jeweiligen Kommunen zu bewirtschaften waren. Da sich aufgrund der schlechten Entlohnung kaum Freiwillige für diese Tätigkeit fanden, wurden die Dorfbewohner oftmals von der Kolonialverwaltung zur Arbeit gezwungen. Die Arbeitsbedingungen auf den Feldern waren in der Regel miserabel und nicht selten von gewalttätigen Übergriffen der Aufseher geprägt. Insofern erscheint es kaum verwunderlich, dass am Beginn des Maji-Maji-Krieges die demonstrative Attacke auf die Kommunalschambe von Nandete stand.
»Maji« gegen Maschinengewehre – Der Beginn des Krieges
Bemerkenswert an dem Aufstand war vor allem, dass er, anders als die früheren Erhebungen, von rund 20 verschiedenen Bevölkerungsgruppen getragen wurde. Zwar existierte keine übergeordnete Führung, einen einigenden Faktor bildete jedoch, neben der kollektiv erfahrenen Unterdrückung, der sich um die Jahrhundertwende im Süden Ostafrikas ausbreitende Glaube an die von dem Heiler Kinkjikite Ngwale verkündete Botschaft des »Maji«. Dieser angeblichen Wundermedizin, bestehend aus Wasser, Mais und Hirse, wurden immunisierende Kräfte zugeschrieben. Den Prophezeiungen Kinkjikites zufolge sollte das Maji die Waffen der Kolonialherren unbrauchbar machen. Die Gewehrkugeln der Deutschen würden, so hieß es, von den Körpern der Getroffenen wie Regentropfen abperlen.
In den ersten Tagen des Maji-MajiKrieges schien sich dieser Glauben zu bestätigen. Tausende Kämpfer stürmten Plantagen und Felder sowie die Amtssitze einiger von der Kolonialverwaltung eingesetzter einheimischer Ortsvorsteher. Am 16. August 1905 gelang sogar die Eroberung der deutschen Militärstation in Liwale. Die nicht einmal 600 im Süden der Kolonie stationierten Soldaten der »Kaiserliche Schutztruppe« hatten dem sich dezentral ausbreitenden Aufstand zunächst kaum etwas entgegenzusetzen. Jedoch wurde schon zu Beginn des Krieges deren waffentechnische Überlegenheit deutlich. Vor allem der Einsatz von Maschinengewehren fügte den aufständischen Kämpfern fürchterliche Verluste zu. So endete etwa ein Frontalangriff von rund 16.000 Maji-Kriegern auf die Militärstation von Mahenge im August 1905 im Kugelhagel der Deutschen. Über den Verlauf der Schlacht notierte Kommandant Theodor von Hassel in sein Tagebuch: »Außer 20 Kiwanga-Leuten [Verbündete der Deutschen] hatte ich keinen Mann verloren. Aber der Gegner? Ganze Reihen, ja Berge von Toten konnte ich durch mein Glas auf allen Kampfplätzen erkennen.«
Augenscheinlich hatte das »Maji« seine magische Wirkung verfehlt. Der unter den »Maji«-Kriegern verbreitete Nimbus vermeintlicher Unverwundbarkeit war stark erschüttert. Daher änderten die Aufständischen in der Folgezeit ihre Strategie. Sie vermieden nun offene Feldschlachten, nutzten ihre Geländekenntnisse und versuchten die deutsche Kolonialverwaltung durch kleinere überfallartige Angriffe zu zermürben. Es entbrannte ein regelrechter Guerillakrieg, in dem sich die Kaiserliche Schutztruppe von Beginn an brutaler Methoden bediente. Seit November 1905 wurden mehrere »Strafexpeditionen« mit dem Ziel in Marsch gesetzt, den Widerstand der Maji-Krieger zu brechen. Diesem Auftrag ließ die Schutztruppe Taten folgen: Vermeintliche oder tatsächliche Anführer des Aufstandes, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren, wurden in der Regel nach nur kurzem Prozess hingerichtet. Zudem verlangten die Offiziere der Schutztruppe von den unterworfenen Bevölkerungsgruppen willkürlich festgelegte Strafzahlungen, die, sofern die Beträge nicht aufgebracht werden konnten, in Form von Zwangsarbeit beglichen werden mussten.
»Verbrannte Erde« – Der Krieg gegen die Zivilbevölkerung
Am verheerendsten wirkte sich jedoch die von den Deutschen angewandte Strategie der »verbrannten Erde« aus. Um den Maji-Kriegern Rückzugsräume und Versorgungsmöglichkeiten zu nehmen, begann die Schutztruppe damit, Felder und Dörfer zu zerstören, Brunnen unbrauchbar zu machen und das Vieh in den Aufstandsgebieten zu töten oder zu beschlagnahmen. Das Aushungern ganzer Landstriche bildete somit spätestens seit 1906 den Kernbestandteil der deutschen Kriegsführung in Ostafrika. So vertrat etwa Hauptmann Wangenheim die Auffassung, dass nur »Hunger und Not [...] die endgültige Unterwerfung herbeiführen« könnten. In ähnlicher Weise äußerte sich Gouverneur Graf von Götzen, der das Vorgehen der Schutztruppe im Rückblick vorbehaltlos rechtfertigte: »Wie in allen Kriegen gegen unzivilisierte Völkerschaften [...] war auch im vorliegenden Fall die planmäßige Schädigung der feindlichen Bevölkerung an Hab und Gut unerlässlich.«
Die Folgen waren dramatisch. Umweltzerstörung, endlose Flüchtlingsströme und grassierende Hungersnöte prägten die betroffenen Regionen auch dann noch, als der bewaffnete Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft schon längst zusammen gebrochen war. Zwar datierte das Militär das Ende des Maji-Maji-Krieges offiziell auf den 18. Februar 1907, das Sterben jedoch ging weiter. Präzise Angaben zu den Opferzahlen existieren nicht. Der amtliche »Jahresbericht über die Entwicklung der deutschen Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee« von 1906/1907 bezifferte die ostafrikanischen Kriegstoten auf 75.000, wobei die katastrophalen Auswirkungen der Hungersnöte, die sich bis ins Jahr 1908 zogen, größtenteils unberücksichtigt blieben. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte demnach weitaus höher anzusetzen sein. Der Historiker Ludger Wimmelbücker geht davon aus, dass mindestens 180.000 Afrikaner den Maji-Maji-Krieg und dessen Folgen nicht überlebten. Andere Schätzungen halten sogar bis zu 300.000 Tote für wahrscheinlich. Die Verluste auf deutscher Seite waren indessen marginal: Insgesamt wurden bei den Auseinandersetzungen 15 Europäer getötet. Zudem kamen 389 afrikanische Soldaten der Schutztruppe und 66 Träger ums Leben.
Die Opferzahlen, die den letztendlich einseitigen Verlauf des Krieges dokumentieren, mögen auch erklären, weshalb die Vorgänge in Ostafrika in der deutschen Öffentlichkeit kaum Beachtung fanden. Die »Deutsche Kolonialzeitung« berichtete beispielsweise im September 1905 lediglich von einem »räuberischen Aufstande«, der durch die »Hetzereien eines Zauberers in den Matumbibergen« ausgelöst worden sei. Die vermeintlichen Protagonisten der Erhebung, die Matumbis, wurden in dem Artikel als »Diebe« und »Säufer« verunglimpft. Auch die »Deutsch-Ostafrikanische Zeitung« wollte in der Aufstandsbewegung keine ernsthafte Bedrohung der deutschen Machtansprüche erkennen, galt ihr doch die schwarze Mehrheitsbevölkerung der Kolonie als ein »auf einer niederen Kulturstufe stehendes kindisches Menschengebilde«. Diese von rassistischen Ressentiments durchzogenen Kommentare waren auch für die weitere, insgesamt äußerst spärliche Berichterstattung über den Maji-Maji-Krieg charakteristisch.
Somit geriet hierzulande eines der düstersten Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in Vergessenheit. Vielmehr prägten langlebige populäre Mythen um die vermeintlichen militärischen Heldentaten des Generals Paul von Lettow-Vorbeck, der während des Ersten Weltkrieges die »Schutzgebiete« gegen die Briten verteidigt hatte, die Erinnerung an die deutsche Präsenz in Ostafrika bis in die unmittelbare Gegenwart.
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus setzte in der Bundesrepublik erst seit den 1970er Jahren ein. So waren es vor allem die im Rahmen der Neuen Sozialen Bewegungen entstandenen antikolonialen Solidaritätsgruppen, »Dritte-Welt«-Initiativen und Geschichtswerkstätten, die auf die deutschen Kolonialverbrechen in Afrika am Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam machten. Dennoch blieb auch innerhalb einer linken Öffentlichkeit die Beschäftigung mit dem Maji-Maji-Krieg und dessen Folgen ein randständiges Thema, das erst allmählich, im Kontext des hundertsten Jahrestages des Kriegsausbruchs 2005 größere Beachtung fand. Eine Reihe von Veröffentlichungen, Internet- und Ausstellungsprojekten machte nunmehr auf die Hintergründe und Dimensionen der deutschen Kolonialverbrechen in Ostafrika aufmerksam.
Der Maji-Maji-Krieg – ein kolonialer Genozid?
In diesem Zusammenhang wurde nicht zuletzt die Frage diskutiert, ob die deutsche Kriegführung, ähnlich wie in Südwestafrika zu einem Völkermord geführt habe. Angesichts der von den Deutschen durch die Strategie der »verbrannten Erde« (mit)verursachten Hungerkatastrophen und der immensen Opferzahlen erscheint es gerechtfertigt auch den Maji-Maji-Krieg und dessen Folgen als kolonialen Genozid zu bezeichnen. Allerdings ist anzumerken, dass im Feldzug gegen die Herero und Nama eine konsequentere Vernichtungsabsicht zum Ausdruck kam, als im Vorgehen der »Schutztruppe« in Ostafrika. Die Einrichtung von Konzentrationslagern oder die Existenz eines expliziten Vernichtungsbefehls wie ihn Oberbefehlshaber Lothar von Trotha im Oktober 1904 im Kampf gegen die Herero erlassen hatte, sind aus dem Maji-Maji-Krieg nicht bekannt. Die Entvölkerung ganzer Landstriche in den Aufstandsregionen erfolgte nicht auf der Grundlage systematischer Planungen, sondern wurde gewissermaßen als ein aus den vermeintlichen militärischen Notwendigkeiten resultierender »Kollateralschaden« in Kauf genommen. Unzweifelhaft ist freilich, dass auch in Ostafrika ein spezifischer Kolonialrassismus die deutsche Kriegsführung maßgeblich prägte.
Ob jedoch die von den Deutschen verübten Kolonialverbrechen, vor allem in Südwestafrika, als »Vorgeschichte des Holocaust« (Jürgen Zimmerer) interpretiert werden können, ist indessen fraglich. Zwar lassen sich in den Feldzügen gegen die Herero und Nama ebenso wie im Maji-Maji-Krieg Strategien und Handlungsmuster feststellen, die in radikalisierter Form auch für die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus kennzeichnend waren. Der Ansatz, ausgehend von den deutschen Kolonialverbrechen in Afrika eine historische Kontinuitätslinie bis nach Auschwitz zu konstruieren, erscheint aber aus mehreren Gründen problematisch. Für die Täter des Holocaust spielte die Rezeption des Kolonialismus allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die »Generation des Unbedingten« (Michael Wildt), die etwa im Führungskorps des RSHA die präzedenzlosen Massenverbrechen organisierte, war in viel stärkerem Maße von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der krisenhaften Zwischenkriegszeit geprägt. Die nationalsozialistische Expansion in Osteuropa war von Beginn an, anders als die deutsche Präsenz in Afrika, mit der systematischen Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen verknüpft. Im Gegensatz zum Kolonialrassimus, der zwar am Beginn des 20. Jahrhunderts über lautstarke Lobbyisten verfügte, aber zu keinem Zeitpunkt nennenswerten Einfluss auf das Selbstverständnis des Kaiserreichs ausübte, bildete der Antisemitismus die Basisideologie des NS-Regimes, die im Holocaust schließlich ihre eliminatorische Radikalisierung erfuhr.
Der Historikerin Birthe Kundrus ist in ihrer Einschätzung zu zustimmen, dass die »tendenzielle Gleichsetzung der kolonialen Praktiken« mit der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus, Gefahr laufe »beiden historischen Ereignissen nicht gerecht zu werden und Erkenntnismöglichkeiten zu vernebeln.« Eine Kritik an der Analogiebildung zwischen den kolonialen Genoziden und den nationalsozialistischen Massenverbrechen, bedeutet somit nicht, erstere zu verharmlosen. Mehr als hundert Jahre nach dem Maji-Maji-Krieg gilt es vielmehr, die historischen Entwicklungslinien, die ideologischen Legitimationsmuster und nicht zuletzt die mörderischen Dimensionen des deutschen Kolonialismus deutlich zu benennen. Ein Bewusstsein über die in Afrika begangen Kolonialverbrechen und deren Auswirkungen ist in den deutschen Erinnerungskulturen weiterhin kaum ausgeprägt. Diese »öffentliche Amnesie« (Reinhard Kößler) zu durchbrechen, ist eine Aufgabe, der sich die antifaschistische Bewegung in Zukunft verstärkt zuwenden sollte.
Literatur:
BARTH, BORIS: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München 2006.
BECKER, FELICITAS/BEEZ, JIGAL (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905–1907, Berlin 2005.
ENTWICKLUNGSPOLITISCHE KORRESPONDENZ (Hg.): Deutscher Kolonialismus. Materialien zur Hundertjahrfeier 1984, Hamburg 1983.
GERWARTH, ROBERT/MALINOWSKI, STEPHAN: Der Holocaust als »kolonialer Genozid«? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439–466.
GRÜNDER, HORST: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn u.a. 1985.
KUNDRUS, BIRTHE: Grenzen der Gleichsetzung. Kolonialverbrechen und Vernichtungspolitik, in Blätter des iz3w, Nr. 275 (März 2004), S. 30–33.
KUß, SUSANNE: Ein ganz normaler Kolonialaufstand? Der Maji-Majikrieg und die Entstehung des Nationalismus in Tansania, in: Blätter des iz3w, Nr. 276 (April/Mai 2004), S. 24–26.
OSTERHAMMEL, JÜRGEN: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2003.
VAN LAAK, DIRK: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005.
SCHULTE-VARENDORFF, UWE: Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck, Berlin 2006.
ZIMMERER, JÜRGEN/ZELLER, JOACHIM: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2004.