„In Europa existiert ein Netz der Völkermorddiaspora“
Interview mit Dieter Magsam zum Urteil im Ruanda-Völkermordprozess
Am 18. Februar 2014 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. den 56-jährigen ruandischen Staatsbürger Onesphore Rwabukombe wegen Beihilfe zum Völkermord zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren. Hintergrund: Von April bis Juli 1994 töteten, angestachelt von einer rassistischen Propaganda zentraler Teile des damaligen Regimes, Angehörige der Hutu systematisch einen Großteil der in Ruanda lebenden Tutsi sowie gemäßigte Hutu. Diesem Genozid fielen zwischen einer halben und einer Millionen Menschen zum Opfer. Rwabukombe war 1994 Kreisvorstandsmitglied der damaligen ruandischen Regierungspartei MRND sowie Bürgermeister der nordruandischen Gemeinde Muvumba. Verhandelt wurde über das sogenannte „Kirchenmassaker von Kiziguro“. Auf dem Kirchengelände suchten mindestens 450 Menschen - andere Quellen sprechen von 1200 - Schutz. Soldaten, Gendarmen, Gemeindepolizisten, Zivilisten und Interahawe-Milizen töteten die meisten Menschen mit Macheten, Beilen und Hacken. Einer der Verantwortlichen, Onesphore Rwabukombe, floh mit seiner Familie 2002 nach Deutschland und erhielt den Flüchtlingsstatus. Dieter Magsam, der nach dem Völkermord zwei Jahre in Ruanda am Wiederaufbau eines juristischen Systems gearbeitet hat, vertrat als Anwalt die Opferangehörigen.
Wie haben die Opferangehörigen auf das Urteil reagiert?
Ich war während der Urteilsverkündung in Ruanda. Sie sind nicht unzufrieden. Vor allem, dass man ihnen in Deutschland überhaupt geglaubt hat, weil man ihn nach erstmaliger Verhaftung 2009 wieder freigelassen hatte, weil nach Ansicht des Bundesgerichtshofs die Beweise für einen dringenden Tatverdacht nicht ausgereicht hätten. Eine Strafe von 14 Jahren wird der Tat jedoch nicht gerecht. In Ruanda existiert eine andere Strafkultur. Dort wird jeder einfache Mörder schwerer bestraft als Rwabukombe. Wir haben lebenslang gefordert. Denn Völkermord und Mord sind die einzigen Delikte in Deutschland, die zwingend mit lebenslang verurteilt werden. Die Richter haben hier keinen Spielraum. Das Oberlandesgericht hat das jedoch mit der Begründung umgangen, dass Rwabukombe nur Gehilfe gewesen sei, was der Völkermordstruktur, wie sie damals in Ruanda geherrscht hat, nicht gerecht wird. Rwabukombe war Bürgermeister. Und der Staatspräsident hat die Bürgermeister persönlich ernannt. Als der Präsident durch den Abschuss seines Flugzeuges ermordet wurde, haben sie die Aufgaben des Präsidenten vor Ort wahrgenommen. Die Bürgermeister haben bei der logistischen Bereitstellung von Fahrzeugen und Waffen zur Durchführung des Genozids eine herausragende Rolle gespielt.
Wie wird das milde Urteil gerechtfertigt?
In Deutschland hatte man lange das Problem, wie man Schreibtischtäter bestraft. Bezüglich der Nazis hatte man noch keine Handhabe entwickelt. Erst als man das Politbüro der SED qua einer bürokratischen Rolle als Vorgesetzte auch für die Mauermorde verantwortlich machen wollte, obwohl sie nicht eigenhändig getötet hatten, entwickelte man entsprechende Theorien. In Bezug auf Ruanda sagte man dagegen, dass es dort nach der Ermordung des Präsidenten keine bürokratischen Strukturen mehr gegeben hätte. Man könne die Bürgermeister nicht als Vorgesetzte und besonders organisierende Kräfte bestrafen. Aber gerade dabei verkennt das Gericht, dass die Rolle der Bürgermeister in Ruanda immer schon auch eine ideologische war. Sie sahen sich als „Landschaftspfleger“ vor Ort an, die für die Vernichtung der „Kakerlaken“ - gemeint waren die Tutsi - und die Reinhaltung des Bodens verantwortlich waren.
Wie erklären Sie sich, dass das Gericht diese Tatsachen nicht entsprechend berücksichtigt hat?
Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass es so gelaufen ist. Die Vorbehalte des Gerichts gegen eine täterschaftliche Verurteilung waren die gesamte Zeit spürbar. Die Staatsanwaltschaft und ich haben uns gegen eine Verniedlichung gewendet. Denn wenn jemand Leute mit seinem Fahrzeug herbeibringt, damit das Töten schneller geht und auch noch sagt „Beeilt euch, macht mal schneller mit dem Töten“, dann ist eindeutig, dass er davon ausgeht, dass er etwas zu sagen hat.
Worauf basiert eine Verurteilung wegen Völkermords?
Das Zauberwort ist „Tatherrschaft“. Man muss also das Geschehen in irgendeiner Form beherrschen. Und das, sagt das Gericht, ist bei ihm zweifelhaft, weil er vor Ort nach dem Gericht kein hochrangiger Herrscher war. Es gab neben ihm verschiedene andere Personen vor Ort. Einer wurde von dem Völkermordtribunal in Tansania soweit ich weiß zu 40 Jahren verurteilt. Wenn man Rwabukombe jetzt entsprechend dem deutschen Recht zwingend zu lebenslänglich verurteilt hätte, wäre auch in der internationalen Rechtsprechung möglicherweise eine Schieflage eingetreten. Das internationale Strafrecht kennt im Wesentlichen den Einheitstäter. Gehilfen, Anstifter und eigenhändige Täter werden im Wesentlichen erst einmal als gleich angesehen. Und dann wird das Strafmaß nach der Höhe der Schuld bemessen. Man kann Gehilfen, wenn sie an mehr Tötungen beteiligt waren, höher bestrafen als diejenigen, die verantwortlich waren. In Deutschland wird zwischen Täter und Gehilfen dagegen ein kategorialer Unterschied gemacht. Für Gehilfen gilt die Höchststrafe von 15 Jahren und für verantwortliche Täter zwingend lebenslänglich.
Wie kommt der Völkermörder nach Deutschland?
Ruanda ist schon vor 1994 das Lieblingskind der internationalen Entwicklungshilfe gewesen. Es gab dort weltweit pro Kopf die höchste Anzahl von Entwicklungshelfern. Auch deutsche Stiftungen waren vor Ort. Die Konrad-Adenauer Stiftung unterstützte zum Beispiel ein Radio finanziell, das zur Entmenschlichung der Tutsi propagandistisch beigetragen hat. Der Angeklagte hat, wie viele andere auch, in Deutschland mit deutschen Entwicklungsgeldern studiert. Die einfachen Mörder sind geblieben und kamen nach der Auflösung der Flüchtlingslager nach Ruanda zurück. Die Elite dagegen hatte die Möglichkeit, sich nach Belgien, nach Frankreich, nach Holland oder auch ins Franco-Kanadische abzusetzen. Dort waren sie mit einer Strafrechtskultur konfrontiert, die weiter entwickelt ist und mildere Strafen kennt als zum Beispiel die ruandische Justiz. Sie konnten so ihre Privilegierung fortschreiben. Obwohl Rwabukombe auf der Fahndungsliste von Interpol stand und die ruandische Justiz 2007 einen Haftbefehl an Deutschland übermittelte, lehnte Deutschland im November 2008 die Auslieferung Rwabukombes mit der Begründung ab, dass im Falle einer Auslieferung nach Ruanda kein faires Verfahren garantiert sei.
Solchen Leuten kommt das Asylverfahren in Deutschland zugute?
Sie wissen wohin sie fliehen können. Und sie haben oft enge Verbindungen zur Kirche gehabt. Dort haben sie angedockt. In Europa existiert ein ziemlich eng gespanntes Netz der Völkermorddiaspora mit Kern in Belgien. Von dort aus versuchen sie den „roll back“ in Ruanda zu organisieren. Es gibt verschiedene Organisationen, die an dem alten, ethnizistischen Demokratieprinzip festhalten, nach dem Motto: Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit. Die Hutus sind die Mehrheit. Also ist die jetzige Regierung ein diktatorisches Regime. Wäre es keine Diktatur, hätte es die Mehrheit schon längst weggefegt.
Warum wird in Europa gegen ein solch faschistoides Netzwerk nichts unternommen?
Wer sollte das machen? Es ist nicht strafbar, sich in dieser Richtung politisch zu betätigen. Wenn damit aber Völkermörder geschützt und Zeugen manipuliert werden, wird diese Haltung zweifelhaft. Aber es ist nicht der erste Fall, dass im Exil politisch gearbeitet wird. Denken sie an die „Grauen Wölfe“ aus der Türkei und die sogenannten „Mörder per Fax“, die von Deutschland aus islamistische Morde an Linken und Intellektuellen in Algerien von 1991 bis 2001 in Auftrag gegeben haben. Das Verfahren in Frankfurt betrifft den Völkermord 1994. Es gibt in Stuttgart ein weiteres Verfahren gegen eine politische Organisation, die aus diesen Völkermördern hervorgegangen ist. Scheinbar beginnt man erst jetzt, ein wenig genauer hinzuschauen. Auch in Frankreich fangen jetzt die Prozesse gegen Verantwortliche des Genozids von 1994 an, mit 20 Jahren Verspätung.
Meinen Sie, dass insbesondere die langen Beziehungen seit der Kolonisierung zunächst durch Deutschland und dann durch Belgien in Bezug auf Ruanda eine Rolle spielen?
Ruanda gehörte früher zu Deutsch-Ostafrika. Wenn sich Deutschland jetzt militärisch in Mali engagiert, spielt die unaufgearbeitete Vergangenheit der Kolonisierung keine Rolle. Das ist äußerst bedenklich. Ruanda wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom Völkerbund der belgischen Verwaltung des Kongos als Treuhandgebiet zugeschlagen. Die Belgier haben das fortgesetzt, was sie vorher schon im Kongo gemacht haben und große Bevölkerungsgruppen aus Ruanda in die Kautschukplantagen im Kongo verschoben. Deutsche und Belgier klassifizierten die Bevölkerung nach rassistischen Prinzipien, um sich lokale Kollaborateure zu verschaffen. Und die Verbindung von belgischen Christdemokraten und der katholischen Kirche zu den Völkermördern ist ja kein Geheimnis. Ich möchte nicht wissen, wie viele der Verantwortlichen des Genozids von Ruanda in oberitalienischen Klöstern untergetaucht sind.