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Von Montagsdemos zu Gegendemos

Einleitung

Die Leipziger Montagsdemos gehören zum Kernrepertoire der Revolutionsmythen, die sich um das Jahr 1989 ranken. Jenseits der offiziellen Erlösungs-Geschichten wird allenfalls in linken Diskursen betont, dass sich auf diesen Demos auch der gesamtdeutsche nationale Wahn seine Bahn brach. Eine kleine Minderheit von linken Jugendlichen hatte sich dem bereits damals entgegengestellt und Gegendemos gestartet. Wir haben uns mit einer Teilnehmerin der damaligen Aktionen über das Geschehen vom Herbst 89 unterhalten.

Foto: flickr.com; zumpe; Andreas Krüger/CC BY-NC-ND 2.0

Die Montagsdemo in Leipzig am 8. Januar 1990: Die ultrarechte Partei "Die Republikaner" (REP) verteilt Flugblätter.

Aus welchen Gründen hast du dich eigentlich an den Aktivitäten im Herbst 1989 beteiligt?

Am Anfang haben wir das Ganze relativ aus der Ferne und ein wenig mit Schmunzeln betrachtet, weil es da hauptsächlich um die Ausreisewilligen ging. Die haben einen gewissen Umschwung, der schon zu spüren war, für sich genutzt. Denn eigentlich gab es das ganze Jahr 89 über schon Demos, die eine gewisse Kritik an der DDR hatten, auch mit vielen Verhaftungen. Da ging es zum Beispiel um Umweltschäden, es gab in Leipzig auch ein Straßenmusikfestival. Auf diesen Zug sind die Ausreisewilligen sozusagen aufgesprungen. Wir haben damals eher eigene Sachen gemacht, zum Beispiel kurz vor den großen Demos viel zum Thema Rumänienpolitik, weil Ceaucescu damals den Karl-Marx-Orden gekriegt hatte.

Wir sind dann eher aus Interesse, was da abläuft, mal zu diesem Montagsgebet in die Nikolaikirche gegangen - wir fanden das aber eher ziemlich peinlich mit dem »Wir wolln hier raus« und dass da Leute ihre Einzelschicksale rübergebracht haben.

Wir sind da erst auch gar nicht mit eigenen Inhalten hin, sondern weil es da immer so einen Auflauf nach den Gebeten gab, wo wir uns dachten, das gucken wir uns mal an. Und dann gab's diesen gewissen Montag, wo wir gar nicht mehr in die Kirche reingepasst haben. Da wurde auch das erste Mal ziemlich offen darüber geredet, was man machen soll, wenn Leute verhaftet werden, nach dem Gebet: nämlich sie zu befreien. Dadurch war schon eine ganz andere Stimmung da, man hat den Leuten schon richtig angemerkt , dass da eine ganz andere Aggressivität da war. Vorher wurden sie dann ja immer vertrieben durch die Polizei oder durch die Stadt gejagt und verhaftet. Aber diesmal standen alle so da, ohne dass klar war: heute ist ne Demo, aber es hat sich das erste Mal so ein Gefühl entwickelt, wo dann gesagt wurde, jetzt gehen wir los. Das war dann die erste Montagsdemo, im September, ganz ungeplant, und auch nicht um den ganzen Ring, sondern nur bis zum Bahnhof.

Am 2. Oktober waren es dann schon so viele, dass man einfach weiterlaufen musste, weil die Leute schon vom Augustusplatz bis zum Bahnhof standen. Das Weiterlaufen war gar nicht so geplant und es gab auch gar keine Transparente. Wir als junge Leute fanden das einfach geil, dass man einfach so eine Demo machen konnte, die vorher nie denkbar war, die immer zerschlagen wurde, im Ansatz. Diesmal waren dort ein paar Tausend Leute, da war das schon nicht mehr möglich. Damit hatten die nicht gerechnet.

Aber zu dem Zeitpunkt gings uns noch gar nicht um eigene Inhalte, sondern so ein Gefühl von »hier geht jetzt was«. Das hat man erstmal mitgenommen. Erst ein paar Wochen später sind wir dann mit Transparenten hingegangen. Vorher hingen immer die Transparente vom Montagsgebet an der Kirche, sowas wie »Freiheit für die Inhaftierten«. Die blieben immer die ganze Woche hängen. Unser erstes war zwar nicht revolutionär, aber schon kritischer: gegen Faschismus, für eine bessere Gesellschaft. Das wurde von der Polizei sofort abgehangen, da war schon klar, dass politische Inhalte nicht so geduldet waren wie »Freiheit für Inhaftierte« oder Kerzen.

Wer war eigentlich »Wir«: was für eine Gruppe ist damit gemeint?

Die hat sich so seit Mitte der 80er im Mockauer Keller entwickelt, was eine Kirche mit einem ziemlich coolen Sozialarbeiter war. Der hat ein ganz offenes Cafe gemacht, wo wir uns treffen konnten, ohne ständig kirchlich behelligt worden zu sein. Wir haben da quasi ein autonomes Cafe gemacht und daraus hat sich dann so eine Szene entwickelt, die sich vor allem zur Hardcore-Bewegung zugerechnet hat. Es gab auch Alternative und ein paar Leute aus den Kirchenkreisen, die was anderes wollten als immer nur Friede, Freude, Eierkuchen. Das war eine Gruppe von 50-100 Leuten. Wir haben da auch Konzerte veranstaltet, auch mit Bands aus dem Westen. Die sind legal eingereist, aber ohne Instrumente, die haben wir denen dann gestellt, damit die im Mockauer Keller spielen konnten, was natürlich illegal war. Und daraus sind dann auch die politischen Sachen wie die mit Rumänien entstanden. Das war so eine Mischung aus der Kulturschiene, also die Konzerte, aber auch Theater, und den politischen Sachen. Da war eine richtige neue Generation entstanden, die auch nicht alle einen Ausreiseantrag hatten. Auch wenn viele Freunde in den Westen gegangen sind, hier war klar, da wollen Leute was.

Das war auch dann irgendwann mit so einem Antifa-Ansatz verbunden, wo Leute versucht haben, Antifagruppen aufzubauen. Zur Wendezeit hatten wir auch einen Namen für das Ganze: »Aktion jetzt«, was dann später »Reaktion« wurde.

Zurück zu den Demos – was für Forderungen wurden da am Anfang gestellt?

Am Anfang ging es um »Wir wollen raus«. Irgendwann wurde daraus aber, am Anfang eher noch als Spaß, ein »Wir bleiben hier«. Das war wirklich, weil uns alles so auf den Nerv ging, das ständige ins-Mikro-Gejammer »wir wolln hier raus, und es ist alles ganz schlimm«. Das hat uns so genervt, dass dann irgendwann jemand angefangen hat zu rufen: »Wir bleiben hier« - und das fanden dann lustigerweise alle gut und haben es mitskandiert.

Wie hat sich das dann weiterentwickelt, wie haben sich die Leute auf den Demos geändert?

Bis zum 2. Oktober waren das Leute, die man eigentlich kannte. Von den Ausreisewilligen kannte man zwar nicht so viele, aber abgesehen davon waren das so »typische Stadtgesichter«, die man von allen Parties kannte, Künstler, Leute aus verschiedenen politischen Gruppierungen wie dem Neuen Forum.

Am 2. Oktober warens dann schon viel mehr. Vom meinem Eindruck her vor allem Liberale, Künstler, Musiker. Ganz am Anfang waren es noch sehr viele junge Leute gewesen, aber jetzt eben nicht mehr nur - aber auch noch nicht die normalen Bürger. Die kamen erst am 9. Oktober. Am 2. Oktober war richtig gute Stimmung und da sind wir auch das erste Mal um den ganzen Ring gelaufen, weil wir so viele waren.

Und dann kam auch noch der 7. Oktober [40-Jahre-DDR-Feiern] dazwischen, der wirklich ne Wende für viele war, weil da das erste Mal die Polizei mit Helm und Schild und Schlagstock Präsenz gezeigt hat. Die haben die Innenstadt abgeriegelt und da sind alle Leute, die in der Stadt waren, hin und haben die Bullen belegt, also wirklich alle: auch Frauen mit Parteiausweis, die zu denen meinten: »ich schäme mich für euch«. Abends kam es dann zu dem Jagen von Demonstranten und viele waren total entsetzt, dass da Leute zusammengeprügelt wurden, die am Rand standen.

Und dann gab es in der LVZ [Leipziger Volkszeitung] einen Aufruf, dass das Land verteidigt wird, wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand. Dazu kamen Gerüchte, dass Blutkonserven gesammelt würden und die Krankenhäuser sich auf Verletzte einstellten, dass Panzer gesehen wurden, dass in den Betrieben und Schulen alle Leute belehrt worden seien, am Montag nicht zu der Demo zu gehen. Wir haben wirklich damit gerechnet: wir sind 500 und werden alle verhaftet. Wir sind trotzdem hingegangen und da waren es eben 70000.

Als das dann so viele Leute waren, gab es eine ganz große Euphorie, da hat man dann erstmal nicht geguckt, ob man an den Leuten um einen herum Kritik hätte. In den ersten Reihen waren es ganz junge Leute, die sich die Demokultur aus dem Westen abgeguckt hatten, also mit Helm und Ketten bilden. Später hat sich dann rausgestellt, dass einige von den Leuten, mit denen wir in den ersten Reihen standen, dann später bei den Faschos waren. Aber das wusste man da noch nicht, man war erstmal total baff, dass da soviele Leute standen. Es war erstmal nur klar: wir sind gegen dieses Land und gegen diese Politik, die die machen. Aber es war nicht die Frage »was wollen wir«. Später waren wir schon baff, dass nicht alle das gleiche wollten wie wir, die wir uns schon als links, oder als Anarchisten begriffen haben. Für uns war das dann ein bisschen ein Schock zu sehen, dass es in so viele Richtungen gehen kann, gegen den Staat zu sein.

Wann sind die Nazis das erste Mal offen aufgetreten und wie waren die Reaktionen?

Es gab Anfang, Mitte November diese Stände der Republikaner, die aus dem Westen anreisten und ihr Material verteilt haben. Man hat versucht, die zu provozieren und denen das Material wegzunehmen, aber die sind wirklich wie Pilze aus dem Boden geschossen, das waren so viele, da hat man gar keine Chance mehr gehabt. Man wollte ja auch noch diese Demo mitmachen und sich nicht nur um Nazis kümmern. Aber was uns auch schockiert hat, war, dass das den Leuten aus den Händen gerissen wurde. Auch wenn es auch ältere Leute gab, die die angeschrien haben.

Schon Mitte November gab es das erste Mal so einen richtigen Naziblock, der klar erkennbar war, an den Klamotten, den Sieg-Heil-Sprüchen und am gehobenen Arm, also die Klassiker.

Ab wann war euch denn klar, dass ihr da nicht mehr mitlaufen wolltet?

Das war Mitte November, kurz nach der Grenzöffnung. Da wurden Leute ausgebuht, die Redebeiträge gegen Ausländerfeindlichkeit gehalten haben. Und da ging das los mit riesigen Deutschlandfahnen und Sprüchen für Wiedervereinigung. Und wir, 50 Leute vielleicht, haben angefangen, denen die Fahnen runterzureißen und haben rumgepöbelt. Dass alles in diese Richtung Wiedervereinigung und Deutschland ging, fanden wir total eklig. Dann ging diese Demo los und wir wussten, wir können da definitiv nicht mitlaufen. Wir sind dann stehengeblieben, wortlos, wütend, geschockt. Wir wollten aber auch nicht nach Hause gehen, weil wir ja eigentlich an diesen Demos teilnehmen wollten, nur nicht mit diesem Pulk mit Deutschlandfahnen. Und da haben wir uns entschieden, der Demo entgegen zu gehen, ohne Plan.

Wir sind dann in die andere Richtung gelaufen, haben uns vor das Rathaus gestellt und gewartet, bis die kommen. Und da gabs dann, als die kamen, einen ganz extremen Schlagabtausch: die haben uns angebrüllt, wir wären Stasikinder, oder das letzte Aufgebot der FDJ. Man muss dazu sagen, dass wir alle ziemlich punkig oder hardcorig aussahen, also bunte Haare undsoweiter und für den normalen Bürger ganz klar erkennbar, dass wir definitiv nicht von der FDJ oder Stasi hätten sein können.

Da waren auch schon Freunde aus Hamburg und Westberlin dabei, die total schockiert waren. Wir haben uns dann irgendwann überlegt, dass dieser Schlagabtausch nichts bringt und haben uns an einem Montag entschieden, ok, wir sagen mal gar nichts, also stehen einfach so als Warnung, das kann so nicht hinhauen, was ihr macht. Das war die absolute Katastrophe, da haben die uns fast verprügelt. Ich glaube, einen Montag darauf war es schon so, dass der Demozug von Nazis angeführt wurde.

Natürlich konnten bei 250000 Leuten nicht alle wissen, dass vorne 200 Nazis laufen. Aber es spricht natürlich für sich, dass die das anführen konnten. Die kamen dann im Stechschritt an und haben gerufen, wer nicht springt, ist ein Roter. Das endete dann damit, dass die uns durch die Stadt gejagt haben, wir uns in der Mensa verbarrikadieren mussten, und die die Scheiben eingeschmissen haben. Da war uns klar, wir können uns da nicht mehr hinstellen.

War es denn möglich, dass bei euch am Rathaus auch Leute von der Stasi mit dabei waren?

Definitiv nicht, das waren alles Leute, die man kannte. Am Anfang waren wir so 50-70, bei der dritten Gegendemo dann vielleicht 200. Vielleicht waren auch ein paar Leute dabei, die für die Stasi gearbeitet haben, denn natürlich waren auch bei uns ja Leute, die für die Stasi gearbeitet haben, wir wir später rauskriegten. Aber letztlich ist dieses Gerücht entstanden, weil uns das aus der Demo so vorgeworfen wurde.

Und weil wir einmal das Stasigebäude geschützt haben. Da hatte es vorher Gerüchte gegeben »das nächste Mal stürmen wir die Stasiecke«, und wir fanden das total falsch. Das war wirklich der typische Mob. Wir haben uns dann gesagt, ok, da stellen wir uns da hin. Auf die Idee waren aber auch schon die vom Bürgerkommitee gekommen, die sich »keine-Gewalt«-Schärpen umgebunden hatten und uns dann gar nicht da hin gelassen haben, nur mich und eine Freundin. Wir hatten dieses Transparent: »Wende zum Rechts-Staat - gegen faschistoide Tendenzen«. Unser ganzes Umfeld, also die ganzen Punker und Hardcore-Leute, wollten die Schärpen-Leute da gar nicht dabei haben. Das war vielleicht der Grund, warum manche Leute gedacht haben, wenn da Leute mit »Keine Gewalt« vor der Stasizentrale standen, dass die da von der Stasi hingestellt worden wären.

Aber das waren wie gesagt welche vom Bürgerkomitee und vom Neuen Forum, die einfach Gewalt verhindern wollten. Auch die kannte ich fast alle, mit denen hatten wir ständig Streit über politische Inhalte. Auf keinen Fall konnte sich da eine ganze Gruppe Stasi druntermischen.

Außerdem waren wir uns ziemlich sicher, dass die Stasi da noch drin war und, wenn die das stürmen, dass die hätten reagieren müssen. Da wäre es nicht mehr um deren Meinung gegangen, sondern ums Überleben. Wenn der Pulk da reingegangen wäre, da waren wir uns ziemlich sicher, da hätten die die wirklich umgebracht. Und die hätten natürlich geschossen, weil sie sich hätten verteidigen müssen. Das war zumindest unsere Vorstellung. Und da fanden wir, das darf nicht passieren, so eine Lynchjustiz, das fanden wir ja total falsch. Rache gerne, aber anders. Ich hab mich da unglaublich unwohl gefühlt. Wir hatten da alle kein gutes Gefühl dabei, aber ich glaube, es war trotzdem richtig, das zu machen.

Wie siehst du die Entwicklung 89 mit deinem heutigen Blick?

Ich gehörte ja zu ner Gruppe von kritischen Jugendlichen und ich hab relativ von Anfang an den Staat stark zu spüren bekommen. Das hat mich eigentlich auch erst politisch gemacht, gar nicht aus einer Überzeugung heraus, sondern als Reaktion eines ganz normalen rebellischen jugendlichen Daseins.

Dass die Bedingungen in der DDR sich geändert haben, das war für uns der große Erfolg, und dass wir ein Stück dazu beigetragen haben, war auch toll. Nur hatten wir halt nie eine Idee, wie sich das Ganze dann gestalten sollte. Wir wollten ja keine Wiedervereinigung, wir hatten uns mit der Politik im Westen ja auseinandergesetzt. Wir hatten ja ganz viel Westbesuch, und die hatten überhaupt keine Ahnung über die DDR, aber wir wussten ganz viel über ihre Politik und auch die Kritik an Westdeutschland. Bis auf mehr Freiheiten, zum Beispiel raus zu können, fanden wir das politisch ja nicht gut. Und das fanden auch die meisten nicht gut, die aus politischen Gründen in den Westen gegangen sind. Deswegen war uns auch klar: ne Wiedervereinigung wird keine gute Gesellschaft. Aber ich finde es trotzdem erstmal einen richtigen Weg und man sollte bei einer Gesellschaftsänderung vielleicht nicht nur gegen etwas sein, sondern auch für etwas, damit man reagieren kann, wenn's dochmal plötzlich soweit ist.