Nicht wegschauen – hinsehen oder hingehen?
Die rassistischen Angriffe im September 1991 in Hoyerswerda – das ist doch schon zwei Jahrzehnte her und im Vergleich zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 doch relativ glimpflich ausgegangen, lauten einige Stimmen zum zwanzigsten Jahrestag dieses Schlüsseldatums der frühen 1990er Jahre. Der Einfluss, den die Ereignisse jener September-Woche sowohl auf die extrem rechte Organisierung und Konstituierung der Neonaziszene der gesamten 1990er Jahre als auch auf den Alltag von Flüchtlingen und Migrant_innen hatten, wird nach wie vor unterschätzt; und damit auch der Einfluss auf die antirassistischen Bewegungen und Selbstorganisierungen in Ost- und Westdeutschland.
Den fünf Tagen im September 1991, in denen sich in der einstigen sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda in der Niederlausitz das erste Pogrom nach 1945 in Deutschland ereignete, kommt aus mehreren Gründen eine besondere Rolle zu, nicht nur für die gesamte weitere politische Entwicklung des neuen Großdeutschlands, sondern auch für die antirassistische und antifaschistische Linke.
Erstmals seit dem Fall der Mauer im November 1989 und der Vereinigung von DDR und Bundesrepublik kapitulierten der Staat und seine Exekutive – Polizei, Verwaltungsbehörden und Justiz – vor rassistischen GewalttäterInnen und der örtlichen Bevölkerungsmehrheit. Die Vertreibung der Vertragsarbeiter_innen und Flüchtlinge aus Hoyerswerda wurde nicht nur zugelassen, sondern gezielt herbeigeführt. Es gab zu keinem Zeitpunkt den Versuch, mit den im nur 2 1/2 Stunden entfernten Berlin vorhandenen, in Masseneinsätzen mehr als erfahrenen Polizeikräften der durchaus überschaubaren Menge der rassistischen GewalttäterInnen entschlossen polizeiliche und strafrechtliche Grenzen zu zeigen.
Damit signalisierten die politisch Verantwortlichen ebenso wie die Exekutive, dass sie bereit waren, bestimmte Gebiete den Neonazis und ihren SympathisantInnen zu überlassen. Und dass sie bereit waren für Minderheiten gegebenenfalls Artikel 1 des Grundgesetzes – die Garantie auf körperliche Unversehrtheit für alle in Deutschland Lebenden – außer Kraft zu setzen.
Diese spezielle Situation während der Ereignisse in Hoyerswerda traf die autonomen Antifaschist_innen und Antirassist_innen der frühen 1990er überraschend und unvorbereitet: zwar waren seit dem Fall der Mauer und der rassistischen und nationalistischen Mobilisierung viele Antifaschist_innen im permanenten Dauereinsatz bei Nachtwachen vor besetzten Häusern, Zentren und Flüchtlingsheimen; doch auch nach der tödlichen Hetzjagd auf den ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeiter Amadeu Antonio im November 1990 in Eberswalde unter den Augen von tatenlosen PolizistInnen hätte sich niemand vorstellen können, dass der Staat wenig später sein Gewaltmonopol quasi unter den Augen von Journalist_innen aus aller Welt ohne Not einfach aufgeben würde.
Die auf das Pogrom in Hoyerswerda folgende Großdemonstration am 27. September 1991 mit 4.000–5.000 überwiegend autonomen Antifas vor allem aus Nord- und Ostdeutschland bildete dann auch den Ausgangspunkt für einen seitdem ungelösten Streit innerhalb der unabhängigen Antifabewegung: Den einen Pol bildeten – und bilden – diejenigen, die de facto Strafexpeditionen für die einzig adäquate Antwort auf derartige rassistische Angriffe hielten und halten und jegliche Diskussionen mit der (lokalen) Mehrheitsbevölkerung für völlig sinnlos erachten. Den Gegenpol bildeten diejenigen, die meinten, mit viel Überzeugungs-, Bündnis- und Bildungsarbeit ließe sich das gesellschaftliche Klima vielerorts verändern. Die unüberbrückbaren strategischen Gegensätze führten auch zu einem Bruch zwischen den mehrheitsdeutschen Antifas und migrantisch organisierten und/oder identifizierten Aktivist_innen, die ihre Perspektiven und Erfahrungen in der autonomen Antifabewegung nicht (mehr) vertreten sahen – und sehen.
Der Streit ums Gedenken
Angesichts der Bedeutung der Ereignisse in Hoyerswerda 1991 ist der zwanzigste Jahrestag des Pogroms und der längst nicht mehr nur vor Ort in Hoyerswerda tobende Streit um ein angemessenes Gedenken und Erinnern aus mehreren Gründen für uns auch Anlass, uns nicht nur darauf zu beschränken, die faktischen und politische Hintergründe für diejenigen transparent zu machen, die vor zwanzig Jahren gerade im Krabbelalter waren.
Vielmehr ist der Streit um die Erinnerung an das Pogrom ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, die (eigene) Geschichte selbst zu (be-)schreiben und die Deutungshoheit nicht politischVerantwortlichen und Medienmacher_innen zu überlassen – insbesondere wenn es um Schlüsselereignisse der jüngeren Geschichte geht. Dass dabei die Perspektive der unmittelbar von den rassistischen Angriffen betroffenen Flüchtlingen und Migrant_innen ebenso zur Debatte stehen sollte, wie der Rückblick auf die Erfolge und Misserfolge des eigenen antifaschistischen Handelns, halten wir für besonders wichtig.
Da sich in den kommenden Monaten an vielen Orten die Jahrestage neonazistischer Anschläge und Angriffe jähren, halten wir es für wichtig, diese Jahrestage zum Anlass zu nehmen, den Betroffenen von damals einen öffentlichen Raum zum Sprechen und Gedenken zu geben, den weiteren Werdegang der TäterInnen zu recherchieren und zu veröffentlichen und damit einen weiteren Anlass für öffentliche Debatten im lokalen/regionalen Raum über den Umgang mit Neonazismus zu schaffen. Gedenkorte oder Mahnmale können dabei sowohl wichtige Erinnerungsorte für die Betroffenen als auch Steine des Anstoßes für die Mehrheitsgesellschaft sein.
Back to the future? Nicht wegschauen, hinsehen!
Aber auch die Frage nach antifaschistischen Strategien insbesondere im Umgang mit dem ländlichen und kleinstädtischen Raum stellt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Hoyerswerda noch einmal: Bei einer Veranstaltung mit von den Ereignissen in Hoyerswerda betroffenen Migrant_innnen, Flüchtlingen und Aktivist_innen in Berlin am 13. September 2011 wurde die Frage aufgeworfen, ob es angesichts der Zustände in Hoyerswerda nicht angebracht sei, bestimmte Regionen einfach aufzugeben, weil wir nicht mehr in der Lage seien, dort zu intervenieren.
Toni Schmidt von der Initiative Pogrom 91 entgegnete darauf mit einem Slogan der 1990er Jahre: Gerade weil die Situation so sei, müsse die Antifabewegung aufhören, davor die Augen zu verschließen, wieder hinsehen und wieder verstärkt in ländlichen Regionen und Kleinstädten Präsenz zeigen.
Offensichtlich ist der Diskussionsbedarf um eine angemessene Reaktion auf die Normalisierung und Verfestigung extrem rechter Dominanzen und Lebenswelten groß und es bleibt zu hoffen, dass der kommende 20. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen zum Anlass für eine antifaschistische Standortbestimmung genommen werden wird.
In einem kritischen Rückblick auf das Handeln autonomer Antifaschist_innen fünf Jahre nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen schrieben wir der Bewegung den folgenden Satz ins Merkbuch: »Für die Zukunft müssen wir Lehren ziehen. Statt stets und überall verbal mit radikalen Parolen um uns zu werfen, statt in jedem Einzelereignis die Nagelprobe zu wittern, müssen wir lernen zu erkennen und zu unterscheiden, wann eine echte historische Verantwortung besteht, wann der Lauf der Dinge von unserem Handeln und Unterlassen tatsächlich bestimmt wird.«1 . Ein Satz, der auch nach zwanzig Jahren wenig an Gültigkeit verloren hat.
- 1Vgl. AIB 41: »Fünf Jahre nach Rostock: Ein Blick zurück im Zorn«