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Nur zehn Tote mehr?

Einleitung

Vom Versagen der antifaschistischen Bewegung und zivilgesellschaftlicher Initiativen im Umgang mit der NSU-Mordserie

In der Öffentlichkeit wird seit dem Bekanntwerden des NSU breit über das Versagen der Sicherheitsbehörden, den Umgang der Medien und auch die Wahrnehmung der Öffentlichkeit diskutiert. Zu Recht haben zivilgesellschaftliche Initiativen und antifaschistische Gruppierungen auf die Mitverantwortung des Staates an den Verbrechen verwiesen und mit Nachdruck die Kontextualisierung der Taten als Teil eines rassistischen Klimas gefordert. Aber inwieweit erfolgte eine selbstkritische Reflektion? Sind nicht sowohl antifaschistische Gruppen als auch zivilgesellschaftliche Akteure und alle anderen Organisationen, die sich gegen extrem rechte Einstellungen und Verhaltensweisen engagieren, aufgefordert, ihre eigene Rolle zu hinterfragen?

Zunächst bleibt festzustellen, dass jenseits von Behörden und Medien auch kritische Gesellschaftsteile den rassistischen Hintergrund der Mordserie über Jahre nicht ansatzweise öffentlich wahrnehmbar thematisiert, geschweige denn erkannt haben. Ebenso blieben nach dem Bekanntwerden kraftvolle bundesweite Aktionen, abgesehen von einigen größeren regionalen Veranstaltungen, seitens einer antifaschistischen Bewegung sowie der Zivilgesellschaft und der Parteien aus. Als Zeitungsprojekt müssen wir selbstkritisch konstatieren, dass wir es versäumt haben, existierenden Hinweisen wie den Erklärungen der Betroffenen des Kölner Anschlags oder dem Lied »Dönerkiller« der Neonaziband »Gigi & die braunen Stadtmusikanten« intensiv nachzugehen. Der Artikel hat es sich zum Ziel gesetzt, Erklärungsansätze zum Nichterkennen und Diskussionsanstöße für eine mehr als notwendige Debatte zu liefern.

Eine erste einfache These ist, dass sich kaum eine_r eine solche Dimension rechter Gewalt vorstellen konnte. Trotz unzähliger Waffenfunde bei Neonazis herrschte die auch von den Behörden immer wieder betonte und von vielen geglaubte trügerische Sicherheit vor, dies wären lediglich »Waffennarren« oder »Militärspinner«. Warnungen seitens antifaschistischer Akteure verhallten ungehört, mangels offensichtlicher Attentate schien den Rufen die Substanz zu fehlen. Die Taten selbst wurden nicht als rechte Tötungsdelikte erkannt, entsprachen sie doch nicht dem bekannten Schema der vergangenen zwanzig Jahre. Das Alarmsystem schrillt auf bei Anschlägen, die denen von Rostock, Hoyerswerda, Mölln oder Solingen ähneln. Es funktioniert auch bei rechten Straßenschlägern wie im Fall von Kamal Kilade in Leipzig, doch es versagte bei den organisierten, stillen Hinrichtungen des NSU. Das Erschießen als geplante Tötung ohne das sonst typische propagandistische Bekenntnis passte nicht in die bekannten Muster. Diese Vorgehensweise sowie die relativ große Zeitspanne kam einer  Wahrnehmung als »organisierte« Kriminalität entgegen.

Ein zweiter möglicher Grund: Es mangelt an einem historischen Bewusstsein für eine solche Form von neonazistischer Gewalt. Zwar gibt es in Deutschland eine Geschichte von organisierten rechten Anschlägen, jedoch ist diese selbst in der Linken kaum im Gedächtnis verankert. In der antifaschistischen Bewegung Ostdeutschlands kommt hinzu, dass diese Geschichte nicht die »eigene« ist, das Wissen darüber im besten Fall angelesen, aber nicht in der persönlichen Erinnerung verankert ist. Für Westdeutschland lässt sich feststellen, dass die gesellschaftliche Prägung in Bezug auf »Terrorismus« stärker vom »Deutschen Herbst« dominiert ist, als von rechten Anschlägen wie z.B. dem auf das Münchner Oktoberfest 1980. Bis auf den Bombenanschlag in Köln trugen die Taten auch eine andere Handschrift als zuvor erfolgte Neonaziattentate.

Die Konstruktion anderer Abläufe bleibt eine dritte, wenn auch nicht belegbare These. Neun tote Antifas oder alternative Jugendliche hätten eine weitaus größere Reaktion seitens der Linken und wahrscheinlich auch ein früheres Erkennen hervorgerufen. Eine antifaschistische Linke setzt sich zum großen Teil aus Herkunftsdeutschen zusammen, die zwar aufgrund ihres politischen Bewusstseins über eine erhöhte Sensibilität verfügen, aber dennoch unter der Perspektive ihrer selbst (weiß, deutsch, meist männlich) agieren. Die bereits angesprochene Unvorstellbarkeit der Dimension der Taten traf hier auf eigene (unbewusste) Vorurteile. Die Tradierung des »Fremden« als potenziell kriminell wird zwar im Generellen kritisiert, im konkreten Fall wirkte sie sich aber ob ihrer Unreflektiertheit auf Denken und Handeln aus; ein Erkennen und vehementes Zurückweisen der rassistischen Stereotypisierung fand somit nicht statt. Es wurde, zugespitzt formuliert, nach folgender Maßgabe gehandelt: Wenn mangels Bekanntheit der TäterInnen kein Rückschluss auf das Motiv möglich ist, müssen »die Fremden« den antifaschistischen Deutschen darlegen, warum es nur ein rechter Anschlag gewesen sein kann. Bleibt dieser »Gegenbeweis« aus und stößt die behördliche Argumentation auf vertraute Muster, erfolgt keine Intervention.

Migrant_innen sind nach wie vor in weiten Teilen der Linken und Zivilgesellschaft kein selbstverständlicher Bestandteil. Dies ist der wohl entscheidende Unterschied zu Betroffenen aus der linken Szene oder alternativen Jugendlichen. Jene besitzen, wenn auch nicht unbedingt persönlich, zumindest über politische Zusammenhänge einen (engen) Kontakt zu antifaschistischen Initiativen, Zivilgesellschaft, Gewerkschaften oder anderen gegen Rechts agierenden Organisationen. Quá dieser Verbindung verfügen sie über ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, Rückhalt und Solidarität, auf welche die Angehörigen der NSU-Mordserie nicht bauen konnten.

Die strukturelle Ebene dient als vierte Überlegung. Professionelle Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt existieren flächendeckend nur in Ostdeutschland, sodass nur in diesem Gebiet auch abseits staatlicher Akteure verdächtige Todesfälle zusammenhängend eingeschätzt werden können. An solchen Strukturen mangelt es in Westdeutschland – wo bis auf eine Ausnahme (vgl. Artikel: Konsequenzen ziehen) alle Morde geschahen – nach wie vor. Der Warnruf seitens der Betroffenen nach dem Anschlag in Köln verhallte. Zudem fehlte es in diesen Jahren jenseits der antifaschistischen Zeitungsprojekte an breiten linken Zusammenschlüssen, es fand kaum ein Austausch über bundesweite Entwicklungen und Vorkommnisse statt. So berichten heute viele Antifas, dass ihnen die Bezeichnung der Mordserie als »Dönermorde« überhaupt nicht bewusst war.

Zusätzlich ist zivilgesellschaftliches Engagement durch die Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung Zwängen ausgesetzt, die die schleichende Reduzierung eigener Prämissen zur Folge haben. Angetreten waren insbesondere die Beratungsstellen mit dem Anspruch einer Sicht aus der »Opferperspektive«, welchem sie sicher auch in der Mehrzahl der Fälle gerecht werden.

Die Beratungsstellen legen Wert auf ihre Seriosität, insbesondere auf valide Darstellungen. Ein qualitätsorientierter Ansatz, der ihnen in den letzten Jahren viel Respekt, Anerkennung und Glaubwürdigkeit vermittelt hat. Aber gerade der Ruf nach der »Beweisbarkeit« des Motivs, dem Zwang und dem Bedürfnis, nicht als »linke Spinner« abgestempelt zu werden, die überall rechte Angriffe vermuten, hat auch dazu geführt, dass Verdachtsfälle nicht immer mit der nötigen Intensität verfolgt werden. Eine Erfassung all dieser Fälle, insbesondere bei Tötungsdelikten, erscheint aus den Erfahrungen der NSU-Morde dringend notwendig.

Als letzte These sei angeführt, dass sich die antifaschistische Bewegung neben all den inhaltlichen Verdrängungs- und Verwischungsaspekten faktisch seit über zwanzig Jahren im Dauerzustand der Belastung befindet. Kein einziges Jahr verging ohne rechte Morde, Brandanschläge und Angriffe. Der eingetretene Gewöhnungseffekt führt zu »Abnutzungserscheinungen« in der Aufmerksamkeit. So traurig es klingt, Tote rechter Gewalt generieren auch in der linken Szene immer weniger öffentliche Empörung – »Wut und Trauer« sind die Parolen vergangener Jahre. So haben Zivilgesellschaft und Antifa leider in den letzten Jahren nicht nur die Opfer des NSU nicht thematisiert, sondern auch viele andere Tote, insbesondere Wohnungslose. Betroffene eben, die nicht zum eigenen Milieu gehören.