100 Tage NSU
Mehr als einhundert Tage sind mittlerweile seit dem Bekanntwerden der Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) vergangen. Zeit für eine Zwischenbilanz der staatlichen Strafverfolgung von Mitgliedern bzw. UnterstützerInnen des NSU und einer Bewertung der Untersuchungsinstrumente in Bezug auf das komplette Versagen staatlicher Sicherheitsbehörden und Geheimdienste. Eher zwiespältig ist die Bilanz antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Reaktionen.
Es ist klar, dass das NSU-UnterstützerInnen-Netzwerk aus langjährigen, bundesweit vernetzten Blood & Honour-Strukturen, dem Thüringer Heimatschutz, sowie NPD- und JN-AktivistInnen noch keineswegs ausermittelt ist. Gleichermaßen wird das Versagen der Ermittlungsbehörden immer deutlicher. So war bereits im Jahr 2000 bei einem NSU-Unterstützer eine Adressaufstellung gefunden worden, die auch die Namen Mundlos und Zschäpe enthielt. Im gleichen Jahr hatte ein V-Mann, die nun im Fokus der Ermittlungen stehenden NSU-UnterstützerInnen bezichtigt, Waffen für das Neonazi-Trio besorgt zu haben. Schon jetzt wird deutlich, dass sich das NSU-UnterstützerInnen-Netzwerk aus offen auftretenden Neonazis speiste, welche zum Teil in der NPD agierten, rechte Szeneläden betrieben oder Neonazikonzerte veranstalteten.
In einem bekannten Jenaer Neonazigeschäft soll ein früherer NPD-Funktionär beispielsweise jene Waffe gekauft haben, mit der der NSU seine Mordserie verübte. Weitere Verdächtige waren den Ermittlungsbehörden aus dem Verfahren gegen die Neonaziband »Landser« bestens bekannt und hatten seinerzeit sogar mit ihnen kooperiert. Die Überwachungen in diesem Umfeld waren engmaschig und an der »Landser«-Produktion waren V-Leute verschiedener Verfassungsschutzämter beteiligt.
Wir haben uns an dieser Stelle bewusst dazu entschieden, unseren Fokus auf eine politische Bewertung zu legen. Eine Analyse der NSU-UnterstützerInnenstrukturen und ihre Einbindung in die bundesdeutsche Neonaziszene wird uns aber mit Sicherheit weiter beschäftigen.
Den Schlussstrich schon vor Augen...
»Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen?« fragte Semiya Simsek in die Stille hinein. Über eintausend geladene Gäste aus Politik und Zivilgesellschaft folgten ihrer Rede im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt anlässlich des Staatsaktes zum Gedenken an die zehn Opfer des NSU. Enver Simsek, der Vater der heute 25-Jährigen, war das erste Opfer der rassistischen Mordserie. »Doch in Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht« berichtete Semiya Simsek. Inzwischen ist bekannt, dass alle Familien der NSU-Opfer durch die rassistische Stereotypisierung der Ermittler_innen über ein Jahrzehnt mit dem Verdacht konfrontiert wurden, die Mörder seien entweder im familiären Umfeld oder »bei der Drogen-, Döner- oder Wett-Mafia« zu suchen.
Die Folge: Die Familien vereinsamten unter dem Stigma vermeintlicher krimineller Kontakte zunehmend, Kinder und junge Erwachsene waren nicht mehr in der Lage ihre Ausbildung zu beenden, einige erkrankten psychisch. Hinzu kam in vielen Fällen eine ökonomische Existenznot. Viele Angehörige erfuhren erst aus den Medien, dass die Täter gefasst und aus neonazistischen Motiven gehandelt hatten. Wie belastend diese Jahre der Verdächtigungen und der aktuelle Umgang mit der NSU-Täterschaft für die Angehörigen und Verletzten sein muss, lässt sich nur ansatzweise erahnen. Deutlich wird vor allem, dass die Botschaft der TäterInnen durch das Verhalten der Sicherheitsbehörden und das jahrelange gesellschaftliche Schweigen und Desinteresse dazu geführt hat, dass den Angehörigen und Verletzten jegliches Gefühl von Zugehörigkeit in Deutschland genommen wurde.
Die Bundeskanzlerin hat sich während des Staatsakts Ende Februar für das Leid, das den Familien durch staatliche Institutionen beigefügt worden war, öffentlich entschuldigt. Doch viele der Anwesenden konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Gedenkveranstaltung auch einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung der politisch Verantwortlichen mit dem Schicksal der Angehörigen und der Verletzten der beiden NSU-Bombenanschläge in Köln ziehen sollte. Dies wird u.a. daran deutlich, dass Barbara John, die als von der Bundesregierung eingesetzte Ombudsfrau mehr als 80 Familienangehörige unterstützen soll, seit Monaten ohne eine angemessene materielle und personelle Ausstattung arbeiten muss.
Dies wird auch deutlich an den teilweise zynisch geringen Billigkeitsentschädigungen, die das Bundesamt für Justiz einzelnen Betroffenen bislang angeboten hat. Und nicht zuletzt wird das mangelnde staatliche Interesse an einer langfristigen Unterstützung und Begleitung für diese große und sehr heterogene Gruppe von Betroffenen auch daran deutlich, dass der Aufbau von unabhängigen, spezialisierten Opferberatungsstellen für Opfer rechter und rassistischer Gewalt in den westlichen Bundesländern, in denen die Betroffenen leben, noch immer entweder nicht adäquat finanziert wird oder aber gar nicht stattfindet.
Die Untersuchungsausschüsse
Mittlerweile gibt es drei parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die das Versagen der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste aufklären sollen – im Bundestag sowie im thüringischen und sächsischen Landtag. Hinzu kommt noch eine so genannte Bund-Länder-Kommission, die die Pannen in der Zusammenarbeit der jeweiligen Sicherheitsbehörden und Geheimdienste aufklären und Handlungsempfehlungen aussprechen soll. Desweiteren ein von Bund und Ländern gemeinsam beschlossenes, im Sinne des Trennungsgebots1 von Polizei und Geheimdiensten mehr als bedenkliches, »Terrorabwehrzentrum Rechts« sowie eine gemeinsame Verbunddatei für »Gewalttäter Rechts«, in der alle verfügbaren Daten über gewaltbereite Neonazis gespeichert werden sollen. Letztere sind – neben der altbekannten Debatte um ein NPD-Verbot – die absurdesten Antworten auf das Versagen der Sicherheits- und Geheimdienste. Noch vor jeglicher Aufarbeitung, Auseinandersetzung und Evaluierung struktureller Fehler und Fehlverhaltens einzelner Beamter erhalten ausgerechnet diese Behörden mehr Mitarbeiter_innen, mehr Befugnisse und mehr Geld.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) im Bundestag keine umfassende Aufarbeitung erwartet werden sollte: Dem PUA bleibt kaum noch ein Jahr bis zum Ende der Legislaturperiode, um mehr als 2.000 Bände Akten zu sichten und unzählige Zeug_innen zu befragen. Hinzu kommt die schon in den ersten Sitzungen des Innenausschusses sichtbare deutliche Weigerung der Länder, allzutiefe Einblicke hinter die Kulissen der jeweiligen Dienste und Behörden zu gewähren. Die Erfahrungen aus dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum BND-Skandal machen deutlich, dass die Grenzen solcher Ausschüsse noch immer durch die Parteiräson gesteckt werden – unabhängig davon, ob einzelne Politiker_innen durchaus glaubwürdig versichern, dass »alles auf den Tisch kommt«. Eine schonungslose Aufklärung müsste auch bedeuten, dass von Seiten der Behörden und politisch Verantwortlichen die Tatsache eingestanden wird, dass man zwei Jahrzehnte lang zugeschaut hat, wie militante Netzwerke entstanden und deren mörderische Ideologie der »weißen Vorherrschaft« und strategische Debatten um einen »bewaffneten, führerlosen Widerstand« verbreitet wurden.
Ob die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und das Strafverfahren unter der Regie der Bundesanwaltschaft befriedigende Antworten auf die alles entscheidende Frage produzieren werden, wieso die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste mehrerer Bundesländer das Kern-Trio des NSU bis zum Jahr 2001 im Visier hatten und es dann scheinbar spurlos aus den Augen verloren, erscheint vielen Beobachter_innen daher inzwischen eher unwahrscheinlich.
Das gesellschaftliche Schweigen
Schon unmittelbar nach Bekanntwerden der NSU-Verantwortung für die in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose rassistische und neonazistische Mordserie, öffnete sich eine erschreckende Schere zwischen medialer Berichterstattung einerseits und dem beklemmenden Schweigen, mit dem weite Teile der Gesellschaft – und vielerorts auch Antifaschist_innen – darauf reagierten. Die vereinzelten Menschenketten, Konzerte gegen Rechts oder Kundgebungen antifaschistischer Gruppen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine angemessene gesellschaftliche Reaktion auf diese neue Dimension neonazistischer Gewalt und Bedrohung gegeben hat. Es ist die gleiche Kälte und Distanz, mit der auch die allermeisten anderen Opfer rechter und rassistischer Gewalt tagtäglich konfrontiert sind. Und die letztendlich so dazu beiträgt, dass die staatliche Deutungshoheit in Bezug auf den Umgang mit Neonazis und rassistischer Gewalt in der Praxis vor Ort noch immer kaum in Frage gestellt wird.
Wir empfehlen: nsu-watch.apabiz.de
Das NSU-Watchblog wird herausgegeben und redaktionell betreut vom apabiz e.V. Ziel ist es, die unabhängige Aufklärung rund um die Terrorzelle des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) und ihrer rassistischen Morde voranzutreiben.
- 1Aus den Erfahrungen mit dem Verfolgungsapparat des Nationalsozialismus wurde nach 1945 mit dem Trennungsgebot die Trennung von Geheimdiensten und Polizei beschlossen.