„Wir wollen keine Wiederholung der Vergangenheitsbetrachtung“
Schwierige Ausgangslage für den NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen
Nach den Untersuchungsausschüssen (UA) des Bundestages und der Landtage von Bayern, Sachsen und Thüringen wird sich nun auch der hessische Landtag an einer parlamentarischen Untersuchung und Aufarbeitung der Mord- und Anschlagsserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) und dem behördlichen Umgang damit versuchen. Mit Blick darauf, wie beispielsweise von höchster Stelle aus die damaligen Mordermittlungen blockiert wurden, ist der Erfolg jedoch eher fraglich. Dennoch wird der Ausschuss die Möglichkeit eröffnen, einzelne Themenkomplexe zu beleuchten und neue Details ans Licht zu bringen.
Der Untersuchungsausschuss
Die Einsetzung des UA wurde bereits im Mai in Wiesbaden mit den Stimmen von SPD und Linkspartei beschlossen. Die schwarz-grüne Landesregierung stand diesem ablehnend gegenüber, nach Meinung des CDU-Innenministers Peter Beuth sei die „Aufarbeitung durch den Bundestag bereits erfolgt“, man wolle „keine Wiederholung der Vergangenheitsbetrachtung“. Trotzdem wurde Hartmut Honka (CDU) zum Vorsitzenden des UA gewählt, der Vorsitz, der wichtige Einflussmöglichkeiten auf die Arbeit des Ausschusses mit sich bringt, liegt nun also bei einem Abgeordneten, dessen Partei den UA für überflüssig hält.
Schon vor der Sommerpause wurden 1.000 bis 1.800 Akten aus anderen Untersuchungsausschüssen und von der Generalbundesanwaltschaft angefordert. Seitdem ist nicht viel passiert. Noch bevor die Unterlagen in Hessen eingetroffen sind und von Mitgliedern des Ausschusses eingesehen wurden, sollen die ersten öffentlichen Sitzungen im Dezember beginnen. Zunächst soll sich ein Überblick über die extrem rechte Szene in Hessen mithilfe von Fachleuten und Wissenschaftler_innen verschafft werden. Anschließend sollen Verfassungsschutz-, Polizei- und Justizmitarbeiter_innen Klarheit in die „Arbeitsweise der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden“ bringen. Zudem sollen Politiker_innen angehört werden, die bereits in den NSU-UA des Bundestages sowie des Thüringer Landtags saßen.
Kassel
Am 6. April 2006 wurde der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel erschossen. Tatwaffe war die zuvor schon bei acht Morden verwendete Ceska 83, mit der auch zwei Tage zuvor Mehmet Kubaşık in Dortmund getötet worden war. Sechs Personen waren zur Tatzeit im Internetcafé anwesend. Andreas Temme, Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes (LfVH), war einer von ihnen. Da er auf den Zeugenaufruf der Polizei nicht reagierte, wurde er als „wildman70“ über Verbindungsdaten im zuvor verwendeten Chatforum ausfindig gemacht. Im Münchener Gerichtssaal behauptete Temme später, den hinter dem Tresen auf dem Boden liegenden Halit Yozgat nicht gesehen zu haben. Diese Aussage konnte bereits während der Ermittlungen durch Tatrekonstruktionen widerlegt werden, auch im Gerichtssaal schien niemand von Temmes Aussage überzeugt zu sein.
Am Tattag hatte Temme zudem zweimal mit seinem damaligen V-Mann Benjamin Gärtner, Deckname „Gemüse“, telefoniert. Der Inhalt des zweiten elf Minuten andauernden Gesprächs ist bis heute nur durch Temme offiziell erläutert worden. Demnach sei es um die monatliche Geldzahlung an den V-Mann gegangen. In seinen bisherigen Aussagen vor dem UA des Bundestages wie auch beim Gerichtsprozess in München hat Temme sich mehrmals selbst in seinen Aussagen widersprochen. Vor diesem Hintergrund erscheint es noch zweifelhafter, dass sie sich nur über diese Zahlungen unterhielten.
Mit Gärtner hatte Temme Kontakt zu Blood&Honour-Strukturen (B&H) in Nordhessen. Sein Stiefbruder zählte zu dieser Zeit zu den Führungspersonen der Struktur. Gärtner selbst war an Straftaten der nordhessischen Neonaziszene beteiligt. Zu der Zeit seiner Anwerbung als V-Mann soll er sich nach behördlichen Angaben aber lediglich am Rand der Szene bewegt haben.
Die Ermittlungen gegen Temme als Tatverdächtigen brachten Hausdurchsuchungen, bei denen u.a. handschriftliche Auszüge Temmes aus „Mein Kampf“ gefunden wurden, die angeblich aus seiner Jugend stammten, und Verhöre mit sich. Verhöre mit den von ihm geführten V-Personen wurden in letzter Instanz vom damaligen Innenminister Bouffier (CDU) abgewendet. Mit der Begründung, dass Aussagen „dem Wohl des Landes Hessen Nachteile bereiten“ würden, wurde keine Aussagegenehmigung erteilt. Die Ermittlungen gegen Temme wurden letztlich eingestellt.
Kein Interesse an Aufklärung
Während der Ermittlungen erfuhr Temme große Unterstützung vom LfVH. Laut einem Aktenvermerk versuchten Staatsanwaltschaft und Mordkommission die „Aufhebung der Unterstützungshaltung verschiedener LfVH-Vorgesetzter gegenüber des TV“ (Tatverdächtigen) zu erreichen. Ein Polizist vermerkte nach dem Gespräch, dass „kein Interesse an sachfördernder Kooperation“ bestand und das Landesamt „die eigene Geheimhaltung … über die mögliche Aufklärung der im Raum stehende Verdachtsmomente gegen einen LfVH-Mitarbeiter“ stelle. In der gleichen Zeit traf sich Temme dreimal mit Vorgesetzten in Wiesbaden, einmal war der damalige Direktor des LfVS, Lutz Irrgang, anwesend.
Ein weiteres Treffen fand an einer Autobahnraststätte statt. Dr. Iris Pilling, Temmes direkte Vorgesetzte und Referatsleiterin, besprach dort angeblich nur „Menschliches“ mit ihrem „besten Mann“. Auch im Münchner Prozess versucht das LfVH weiter, Aufklärung zu verhindern. Gärtner wurde bei seiner Aussage von einem „Zeugenbeistand“ begleitet. Nur zufällig wurde während der Befragung entdeckt, dass der Anwalt Volker Hoffmann vom VS engagiert und bezahlt worden war.
Vernetzung in Hessen?
Da viele Personen aus dem Unterstützungs-Netzwerk des NSU aus dem militanten B&H-Milieu stammen, stellt sich die Frage nach Unterstützungsstrukturen in Hessen. Insbesondere die Verbindungen von Kassel nach Dortmund und von dort ins NSU-Netzwerk rückten in den Blickpunkt. Über die Oidoxie Streetfighting Crew gibt es Verbindungen nach Kassel, Mitglieder des Sturm 18 Cassel, einer lokalen Kameradschaft, waren in den Sicherheitsdienst bei Oidoxie Konzerten eingebunden.
Auch das Wissen um den NSU und mögliche Unterstützungshandlungen aus der nordhessischen Szene sind weiter nicht ausreichend untersucht.
Verbindungen zum kürzlich verstorbenen Rechtsterroristen Manfred Roeder aus Nordhessen gab es schon 1996: Bei einer Verhandlung gegen Roeder wegen Sachbeschädigung an der „Wehrmachtsausstellung“ drückten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, André Kapke und Ralf Wohlleben vor Ort mit einem Transparent mit der Aufschrift „Unsere Großväter waren keine Verbrecher“ ihre Unterstützung aus.
Erwartungen
Schon vor dem Mord in Kassel gab es in Hessen ein NSU-Opfer: Der am 11. September 2000 in Nürnberg ermordete Enver Şimşek lebte zum Tatzeitpunkt mit seiner Familie im südost-hessischen Schlüchtern. Im UA werden die Ermittlungen zu diesem Fall vermutlich eine Nebenrolle einnehmen, doch dürfen sie keinesfalls völlig aus dem Blick geraten.
Ohne lokale Unterstützung wären die Morde, Anschläge und das Leben im „Untergrund“ nicht möglich gewesen. Welche Rolle spielte hierbei die hessische Neonaziszene, gab es schon 2006 innerhalb der Szene Hinweise oder Wissen zum Bestehen des NSU? Was wusste Gärtner? Wichtig wäre auch die Aufarbeitung der Ermittlungen zu Temme. Warum wurde Temme von seinen Vorgesetzten während der Ermittlungen derart geschützt? Wieso steht bis heute der Quellenschutz im LfVH über der Aufklärung eines Mordes? Inwieweit prägte Rassismus die Ermittlungen und welche Konsequenzen werden hieraus gezogen?
Hessische Beamt_innen waren nach der Wende am Aufbau der Thüringer Sicherheitsbehörden beteiligt. Einige tauchen mittlerweile im Zusammenhang mit Ermittlungen um den NSU wieder auf, auch ein Thema für den UA. Sein Schwerpunkt wird die Rolle Temmes sein, sowie das darauf folgende Verhalten des damaligen Innenministers und jetzigen Ministerpräsidenten Bouffier. Da Temmes Erinnerungen schon im Bundes-UA und im Münchener Prozess häufig variierten oder nicht mehr vorhanden waren, sind die Erwartungen neuer Erkenntnisse begrenzt. So wurde er bereits im Bundes-UA durch einen Vertreter des Hessischen Landesamtes bei weiterführenden Fragen auf seine eng begrenzte Aussagegenehmigung hingewiesen.
Die Mitglieder des UA haben mit der Einladung von Zeug_innen, Expert_innen und durch Stellen von Beweisanträgen zentrale Einflussmöglichkeiten auf den Verlauf und die Arbeit des Ausschusses. Diese müssen sie jedoch auch nutzen. Und dazu ist und bleibt gesellschaftlicher Druck notwendig — dieser fehlt auch in Hessen bislang weitgehend.